kaliber .38 - krimis im internet

 

Krimi-(Vor-)Auslese 12/2020

 

Dark Da ist sie ja wieder, die australische Autorin Candice Fox! Wir hatten schon befürchtet, dass sie nur noch Kooperationen mit James Patterson schreibt. Sei es drum - mit ihrem frischen Thriller Dark (Suhrkamp, dt. von Andrea O'Brien) schickt Fox eine neue Heldin ins Rennen: Jessica Sanchez, Polizistin in Los Angeles. In ihrem ersten Fall tut sie sich zusammen mit drei ehemaligen Gefängnisinsassinnen (von denen Sanchez eine selbst hinter Gitter brachte), und macht sich auf die Suche nach der verschwundenen Tochter einer der Delinquentinnen. Dabei kreuzen sich ihre Pfade mit den Wegen finsterer Gestalten, die auf der Suche nach der Beute eines zum Tode verurteilten Häftlings sind. Candice Fox, noch jung an Jahren aber bereits mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, beschreibt komplexe und farbenfrohe Charaktere, die auch robuster Gewalt gegenüber nicht abgeneigt sind. Ihre Geschichte um vier Frauen, die unterschiedlicher kaum sein können, verspricht Lesevergnügen auf hohem Niveau. Auch ein schönes Geschenk - vielleicht nicht für Leute, die sonst stromlinienförmige Krimis von James Patterson lesen.

 

Das Gemälde Nicht wirklich neu ist Das Gemälde von Susan Hill - die unheimliche Geistergeschichte war bereits 2009 im Knaur Verlag erschienen. Jetzt gibt es das Buch der Autorin, die in England zu den bekanntesten Schriftstellerinnen zählt und Lesern klassischer Krimis mit einer Serie den über Polizisten Simon Serrailler aus dem beschaulichen Städtchen Lafferton bekannt ist, in neuer Ausgabe im Züricher Kampa Verlag (dt. von Susanne Aeckerle). Das titelgebende Bild zeigt eine Szene des Karnevals in Venedig im ausgehenden 18. Jahrhundert: Gondeln auf dem Canal Grande, bunte Masken, Gaukler, Jongleure und Musikanten. Hinter der arglosen Szene verbirgt sich Finsteres: Auf dem Gemälde, so raunt man, liege ein Fluch, und es verfüge über die makabere Macht, Menschen zu verschlingen und Tote sichtbar zu machen. Eine feine Schauergeschichte in gehobener Ausstattung - dazu vielleicht noch die DVD "Wenn die Goldeln Trauer tragen" oder schlicht 'nen Fläschken Sherry vom Discounter...

Marseille.73 Rassismus gehört wahrscheinlich zu den Polizeien dieser Welt wie die polierten Uniformknöpfe, nur bei den Ursachen müsste man genauer hinschauen. Einen glasklaren Blick auf die Strukturen im Polizeiapparat hat die Französische Autorin Dominique Manotti, von Hause aus Historikerin mit Schwerpunkt Wirtschaftsgeschichte. Marseille.73 heißt ihr neuer Krimi, womit Schauplatz und Zeit der Handlung gleich benannt wären. Das scheint weit weg, aber die Parallelen ihres hochpolitischen Kriminalromans zu unserer Gegenwart sind schmerzlich evident: Der Krimi spielt vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise, in der die französische Regierung den ausländischen Arbeitskräften mit Ausweisung droht, die keinen regulären Arbeitsvertrag vorweisen können. Die Arbeitsemigranten organisieren ihren Widerstand, der wiederum die französische Rechte auf den Plan ruft: Es kommt zu einer pogromartigen Stimmung gegen Einwanderer, die in einer blutigen Mordserie mit rund fünzig arabischen Opfern mündet. Polizei und Justiz schauen weg - oder schieben mit dem Stichwort "Blutfehde" den Opfern gleich selbst die Schuld in die Schuhe. An dieser Stelle betritt Kommissar Théo Daquin die Szenerie, "ein unbestechlicher Bulle mit Reibfläche und ausgeprägtem Sinn für Unrechtsverhältnisse", wie der Verlag ihn beschreibt. Dominique Manotti, Spezialistin für die dunklen Zonen der Gesellschaft, beschäftigt sich in "Marseille.73" mit dem brennenden, leider nicht bloß historischem Problem des Rechtsterrorismus und serviert dem Leser feinste politische Krimikost.

 

Sechs Koffer Sie haben keine Lust auf Krimis und möchten mal wieder ein richtiges Buch lesen? Ich bin jüngst über Sechs Koffer von Maxim Biller gestolpert (Kiwi-Hardcover oder Fischer Taschenbuch). Ein ganz famoses Buch über Billers russische und tschechische Wurzeln. Das Buch rekurriert aus unterschiedlichen Perspektiven immer wieder auf das gleiche Geschehen: Verrat innerhalb der Familie. Beeindruckend, wie Biller mit kurzen, frechen Sätzen und spannender Erzählperspektive einen eigenen Kosmos zum Leben erweckt. Der schmale, knapp 200-seitige Text macht auch auf schmerzliche Weise bewusst, wie erschütternd wenig wir - Wessies? - über Osteuropa wissen. Da gilt es, noch einen reichhaltigen Schatz zu bergen, ohne den vielleicht auch aktuelles jüdisches Leben in Deutschland gar nicht richtig verstanden werden kann.

 

Gar keine Lust aufs Lesen? In der ARD-Mediathek gibt's unter dem Titel Wasteland - Verlorenes Land eine beachtliche achtteilige TV-Serie aus Tschechien (ja, ja, die blinden Flecke im Osten), die mit erfreulich viel Mut zu Hässlichkeit überzeugt. Die achtteilige Mini-Serie - ein Format, dass ich in Pandemie-Zeiten richtig zu lieben begonnen habe - wurde 2016 von HBO-Europe produziert und erzählt in düsteren Bildern, in denen kaum mal das Tageslicht durchdringt, von dem zerrissenen tschechischen Dorf Pustina, das dem Kohlebergbau weichen soll. Ironischerweise werden die Bilder heller, nachdem der Tod Einzug hält Pustina - heller, aber nicht optimistischer. Schwer zu ertragen all das - gigantische Bagger reissen tiefe Wunden in die Landschaft und hinterlassen zerrüttete Menschen in einer zerrütteten Natur. Am Ende hofft man fast, die Bagger mögen Schluss machen mit all dem Elend, und das vermaledeite Dorf für immer im Boden begraben.

 

Feines auch in der Mediathek des ZDF: Das Verhör in der Nacht heisst ein intensives Kammerspiel mit Sophie von Kessel und Charly Hübner. Der Fernsehfilm, der fast ausschließlich in einem Hotelzimmer spielt, entstand nach dem Theaterstück Heilig Abend von Daniel Kehlmann, der auch selbst das Drehbuch verfasste (Regie: Matti Geschonneck, Kamera: Judith Kaufmann). Eine Philosophieprofessorin wird am Heiligen Abend von einem BKA-Polizisten aufgehalten, der sie verdächtigt, einen unmittelbar bevorstehenden Bombenanschlag zu planen. Das ist grandios gemacht, auch wenn man Philosophie schon auf das intellektuelle Niveau von Glückskeksweisheiten runterbrechen muss, damit sich Cop und habilitierte Philosophin im gleichen Diskurs ein 90-minütiges Gefecht liefern können. Die beiden Schauspieler sind klasse - besonders Charly Hübner, der der geschäftigen Oberfläche eine durchdringende, unterschwellige Gewalt ausströmt, das man meint, der demoliert jeden Augenblick den Fernseher von innen...

 

Noch was zum Glotzen: In der ARTE-Mediathek findet sich die Dokumentation - Stephen King - Das notwendige Böse. Die 53-minütige Sendung versucht, anhand alter Interviews dem Phänomen Stephen King und seinem unglaublichen Erfolg auf die Spur zu kommen. Die Interview-Auszüge mit dem Bestsellerautor sind thematisch sortiert und konzentrieren sich auf die Frage, warum wir Menschen uns so wohlig gruseln und so viel Lust am Schrecken empfinden können.
A propos Gruseln: Was macht eigentlich Vader Abraham? - Ach, egal...

 

P.S.:
Wenn Sie schon mal in der ARTE-Mediathek stöbern, dann möchte ich Sie noch auf das krasse Kontrastprogramm zum jahresendzeitpandemischen Besinnungsblabla hinweisen: Ein Hammer-Konzert der US Elektro-Punks LCD Soundsystem, aufgenommen in Paris im Jahre 2007 beim Festival La Route du Rock. Das sind 67 Minuten pure Energie - und ein schönes Dokument dafür, dass füllige alte, weiße Männer es auch richtig krachen lassen können. Dagegen klingen die britischen Kollegen von Underworld wie Tanztee-Mucke für blasierte Oberschicht-Kids. Oberaffengeil das! (noch bis 19.02.2021 verfügbar).

 

Viele weitere Anregungen finden Sie in den Neuerscheinungen Dezember 2020.

 

© j.c.schmidt, 2020

 

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