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Michael Nava: Die lange Nacht

Eine Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Argument Verlags.

 

Kapitel 5 (Auszug)

Die lange Nacht     In Wirklichkeit gab es aber drei Wochen nach dem Herzinfarkt viele Tage, an denen mein Körper einfach streikte und ich zu nichts imstande war als mich aus dem Bett ins Wohnzimmer zu schleppen, wo ich auf der Couch einschlief, um erst am Nachmittag von der turnusmäßigen Betreuungsperson geweckt zu werden. Dann ging ich, nachdem ich etwas gegessen hatte, ins Bett, und wenn ich die Augen wieder aufmachte, war schon der nächste Morgen. So einen Tag hatte ich gerade, als die Türglocke mich eines Nachmittags von der Couch hochschrecken ließ.
    Ich dachte, es wäre vielleicht das mormonische junge Männerpaar auf Missionstour, das Mrs. Byrne - wie ich zufällig gesehen hatte - vorhin von ihrem Grundstück verjagt hatte. Mrs. Byrne war eine wiedergeborene Schreckschraube, für die Mormonen keinen Deut besser waren als Teufelsanbeter. Von mir hatten sie keinen viel freundlicheren Empfang zu erwarten. Ich zog ein grimmiges Gesicht und öffnete die Tür. John DeLeon lächelte und sagte: »Hey, wie geht's denn so?«
    Er trug so ziemlich dasselbe wie vor einer Woche, als er mich nach Hause gefahren hatte - vielleicht hatte sein Flanellhemd heute ein anderes Karomuster -, und sah aus, als komme er direkt von der Arbeit.
    »John«, sagte ich. Ich stornierte den bösen Blick und setzte auch ein hastiges - und sicher wenig überzeugendes - Lächeln auf. »Mir geht's gut. Wie geht's dir?«
    Er trug einen kleinen goldenen Ring im rechten Ohr, fast unsichtbar hinter einer ergrauenden Haarlocke. Ich konnte fühlen, wie sein Körper vor Lebenskraft glühte. Noch selten hatte ich einen Menschen getroffen, der eine so spürbare Wärme ausstrahlte. Das machte mir nur noch mehr bewusst, was für ein Eiszapfen ich in meinem kränklichen Zustand war.
    Er bemerkte meinen Schlafanzug und meinen Morgenmantel. »Erwisch ich dich im falschen Moment?«
    »Ich hab geschlafen.«
    Er blieb unschlüssig vor der Tür stehen. »Ich dachte, vielleicht hast du ja Lust, ein bisschen was essen zu gehen.«
    »Hört sich gut an, aber können wir das verschieben? Ich bin wirklich nicht imstande dazu.«
    Er nickte. »Ja. Hey, tut mir echt Leid, wenn ich dich geweckt hab.«
    »Macht nichts«, sagte ich.
    »Na gut, also dann. Bis dann.«
    »Auf Wiedersehen, John.«
    Ich stand in der Tür und sah ihm nach, wie er die Einfahrt hinunter zu seinem Pritschenwagen ging. Etwas in der Bewegung seiner Schultern - wie sie kurz abgesackt waren wie bei einer kleinen Demütigung - brachte mich auf den Gedanken, dass dieser Besuch doch nicht so spontan war oder ihm so leicht fiel, wie er es hatte klingen lassen. Ich stellte mir vor, wie er jetzt wegfahren würde, mit einem schlechten Gefühl, weil er mit seiner nett gemeinten Idee abgewiesen worden war, während ich in mein Haus zurücktrottete, einem weiteren langen Abend des Dösens, Wachliegens und Selbstmitleids entgegen.
    »Hey, John«, sagte ich. »Warte mal.«
    Er drehte sich um und kam zurück. »Ja?«
    »Eigentlich kann es mir ja nur gut tun, ein bisschen rauszukommen.«
    »Wir bleiben nicht lange weg.« Er grinste. »Ich weiß da ein klasse Restaurant ganz in der Nähe.«
    »Komm doch eben mit rein, bis ich mich angezogen habe«, sagte ich und trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen.
    Ich nahm den Werkzeugkasten auf dem Boden der Fahrerkabine zwischen die Füße. Ein Medaillon mit der Jungfrau von Guadalupe baumelte vom Rückspiegel, in der Sonnenblende steckte ein Votivkärtchen mit dem Erzengel Michael samt flammendem Schwert und Satan niedergestreckt zu seinen Füßen. Wir rollten bergab, an den rotgesichtigen Mormonenbubis vorbei, in den warmen Maiabend hinein. Im Hintergrund lief ein Baseballspiel im Radio. Er erzählte gerade, dass er den Zuschlag für den Ausbau des Hauses bekommen hatte, bei dem er mich aufgelesen hatte.
    »Wir werden wohl so drei Monate brauchen«, sagte er. »Verdammt!«
    »Was ist denn?«
    »Die Braves haben einen Punkt gemacht.«
    »Was?«
    Er warf mir einen Blick zu. »Das Spiel. Dodgers gegen Braves. Du hältst dich im Baseball wohl nicht auf dem Laufenden.«
    »Nicht mehr, seit ich ein kleiner Junge war«, sagte ich. »Ich hab immer zu den Giants gehalten. Bist du ein großer Fan?«
    »Ich habe selbst gespielt«, sagte er in einem Tonfall, in dem stiller Stolz mitschwang. »In der Minor League, bei den Dodgers im Nachwuchs. Bei zwei Spielen hab ich's sogar geschafft, in der Major League mitzuspielen. Vier Innings lang.«
    »Alle Achtung.«
    Mit bescheidenem Grinsen sagte er: »Das ist lange her, Mann. Fünfundzwanzig Jahre.«
    »In welcher Position hast du denn gespielt?«
    »Als Pitcher«, sagte er. Er bog scharf links vom Santa Monica Boulevard ab und parkte vor einem braunen Stuckgebäude mit einem zerfetzten blauen Vordach über dem Eingang und einer kleinen roten Neonreklame an der Wand, auf der die Worte maria's ramada blinkten. »Hier ist es.«
    Auf der anderen Straßenseite stand ein langes dreistöckiges Gebäude, das eine öffentliche Einrichtung hätte sein können, wäre da nicht das in seiner Schlichtheit anrührende Relief eines Engels über der Eingangstür gewesen.
    »Was ist das?«, fragte ich, als wir ausstiegen, und zeigte auf das Gebäude.
    »Pflegeheim«, sagte John.
    »Sieht aus wie eine Kirche, mit dem Engel über der Tür.«
    »Kann auch sein«, sagte er. »Da muss ich meinen Dad fragen. Der hat als Kind hier in der Nähe gewohnt.«
    Wir gingen auf den Restauranteingang zu. »Bist du hier in der Gegend aufgewachsen?«
    »Ich? Nein. Ich bin in Pasadena aufgewachsen. Da sind meine Eltern hingezogen, als mein Vater angefangen hat, mit seinem Betrieb Geld zu verdienen.«
    »DeLeon und Sohn. Arbeitet er immer noch mit dir zusammen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Er ist jetzt siebenundsiebzig. Jetzt kümmert er sich um seinen Garten und verwöhnt seine Enkelkinder.« Er lächelte. »Gibt mir ungebeten jede Menge Ratschläge für die Firma, aber verdammt, meistens hat er sogar Recht.« Er drückte die Tür des Restaurants auf und legte mir die Hand auf die Schulter. »Luxuriös ist es nicht.«
    Piñatas baumelten über den Sitznischen, die durch Bambuswände voneinander getrennt waren. An einer Wand hingen reißerische mexikanische Filmplakate aus den 40er und 50er Jahren mit Cantinflas und Dolores del Río; an einer anderen eine Samtmalerei eines Aztekenkriegers mit aufgepumpten Muskeln, der gerade eine Jungfrau mit Brüsten wie Kanonenkugeln raubte. Der Boden war mit Sägemehl bedeckt. Verstaubte Papierblumen und Ketten von kleinen Tonkrügen, die unter der Decke gespannt waren, vervollständigten die Dekoration.
    Ein lächelndes junges Mädchen begrüßte John so, als würde sie ihn kennen, und führte uns an einen Tisch mit einer Kerze, einem Glas Essiggemüse, einer Dos-Equis-Bierflasche, in der eine Papierrose steckte, und einem aus Vulkangestein gemeißelten metate in Form eines Schweins, gefüllt mit Chilisoße, die so scharf war, dass ich es riechen konnte.
    »Meine Großmutter hatte genau so einen metate.«
    »Jede 'buelita hatte so einen metate«, sagte John.
    Das Mädchen verließ uns für kurze Zeit und kam dann mit Wasser, einer Korbschale Tortilla-Chips, einer Schüssel frischer Salsa, Besteck und Speisekarten zurück. Mit scheuer Dienstbarkeit und bescheiden den Blick abwendend legte sie alles vor uns hin.
    »Sie scheint dich zu kennen«, sagte ich.
    »Ich kenne die Familie, der das Lokal gehört. Die Huertas«, sagte er. »Ich hab hier ein paar Arbeiten erledigt. Das Mädchen ist eine Nichte oder so was, sie haben sie aus Mexiko hochgeholt.« Er entfaltete die Speisekarte. »Hier ist alles gut, aber besonders gut ist der Fisch. Isst du gern Fisch?«
    Ich nickte, sah mich in dem schreiend bunt geschmückten Saal um und fragte: »Und welchen Teil des Dekors hast du verbrochen?«
    Er grinste. »Die Küche.«
    Als wir kamen, war das Restaurant fast leer gewesen, aber die Tische begannen sich bald zu füllen. Die Kundschaft bestand anscheinend zu etwa gleichen Teilen aus mexicanos mit Strohhüten, die in der Jukebox Javier Solís drückten, und Möchtegern-Anglo-Bohemiens aus dem nahe gelegenen Silverlake, die sich bei der Bedienung über die laute Musik beschwerten und ängstlich nachfragten, ob das Bohnenpüree denn auch ganz sicher vegetarisch sei.
    Die junge Kellnerin brachte unsere Getränke und nahm unsere Bestellung auf. Als sie weg war, fragte ich ihn: »Was ist aus dem Baseball geworden?«
    »Ich hab mir am Wurfarm einen Bänderriss geholt«, sagte er. »Heute nehmen sie einfach von irgendwo anders aus deinem Körper eine Sehne und verpflanzen sie, aber damals nicht, jedenfalls nicht bei einem, der nur in der Minor League spielt.«
    »Du musst aber schon Talent gehabt haben, wenn sie dich für die Majors aufgestellt haben, und sei's auch nur für ein paar Spiele.«
    »Ich war linkshändiger Pitcher, die sind immer gesucht, darum wurde ich mehr beachtet, als ich vielleicht verdient habe.« Er tunkte einen Chip in die scharfe Salsa und zerkaute ihn schmatzend. »Híjole, ist das scharf. Versteh mich nicht falsch, Henry, ich hab schon was draufgehabt, als ich noch konnte.« Er probierte einen anderen Chip. »Die hätten vielleicht was aus mir machen können, aber als ich mir den Arm aufgeschlitzt hab, da hieß es adiós, Johnny.«
    »Einfach so?«
    Er nahm einen großen Schluck Wasser. »Ich war ganz schön unreif. Ich glaub nicht, dass sie traurig waren, als ich gegangen bin.«
    »Du musst ja kaum zwanzig gewesen sein damals«, sagte ich. »Da ist man eben unreif.«
    »Ich war so ein Angeber, Henry, ich war sicher, dass ich der kommende Latino-Star sein würde. Roberto Clemente, Juan Marichal und ich. Das einzige Problem dabei war, dass ich deren Talent nicht hatte und auch nicht ganz so hart trainieren wollte. Das ist keine gute Kombination. Wundert mich, dass ich damit überhaupt so lange durchgehalten habe.«
    »Wie lange?«
    »Fünf Jahre«, antwortete er. »Ich bin direkt von der Highschool weg engagiert worden. Oh Mann, mein Dad war gar nicht froh darüber.«
    »Warum nicht?«
    »Er wollte, dass ich aufs College gehe wie meine Brüder und Schwestern«, sagte er. »Ich hab von jeder Sorte drei, und alle haben Bürojobs, bis auf mich und meine Schwester Josefa. Die hat ihr Studium abgebrochen, um zu heiraten. Nachdem das mit dem Baseball für mich gelaufen war, hab ich es nie wieder geschafft, eine Ausbildung zu machen.«
    »Du hast für deinen Dad gearbeitet?«
    Unser Essen wurde auf riesigen dicken weißen Platten serviert. John bekam einen ganzen Fisch, während ich den Snapper Veracruz bestellt hatte. Als Beilagen gab es Berge von Reis und Bohnen und eine große Schüssel Salat für uns beide und dazu einen duftenden Stapel Maistortillas. Die Gerichte erinnerten mich an meine Mutter, die eine wunderbare Köchin war. Sie hat oft Sachen gekocht, von denen sie wusste, dass ich sie besonders mochte. Ihre Platten mit chiles rellenos und Schüsseln voll picadillo waren Botschaften, mit denen sie mich um Verzeihung bat. Ich reichte sie, ohne sie anzurühren, an meinen Vater weiter.
    Während er seinen Fisch entgrätete, sagte John: »Ich hab nicht gleich bei meinem Vater angefangen.«
    »Was hast du dann gemacht?«
    »Party«, sagte er, den Fisch mit Zitrone beträufelnd. »Buen provecho«, wünschte er mir, und die nächsten Minuten aßen wir. »Ja, ich hab fünf volle Jahre lang Partys gefeiert. Nicht mal als ich geheiratet habe und die Kinder kamen, hat mich das zur Besinnung gebracht. Wenn ich nicht high war, war ich besoffen.«
    »Und dann?«
    »Bin ich irgendwann in der Zelle aufgewacht«, sagte er und häufte Bohnen auf ein Stück Tortilla. Er stopfte es sich in den Mund, kaute, schluckte, trank einen Schluck Cola.
    »Alkohol am Steuer?«
    Er nickte. »Mit Verletzungen, die meisten bei mir, aber das Mädchen auf dem Beifahrersitz wurde auch verletzt. Ach ja, und wir waren nicht verheiratet. Es war auch nicht meine erste Festnahme. Meine Leute haben vorher schon mal die Kaution für mich hingelegt. Diesmal hat mein Dad gesagt, entweder ich komme wieder nach Hause und lerne ein ordentliches Handwerk, oder ich kann im Knast bleiben, bis ich schwarz bin.« Er lächelte. »Die Entscheidung fiel mir schwerer, als du dir vorstellen kannst. Mein Vater, der ist ein großartiger Mann, Henry, aber ein bisschen streng ist er schon.«
    »Mit strengen mexikanischen Vätern kenne ich mich aus«, sagte ich.
    »Er hat gesagt, dass er mich gern hat«, sagte John. »Aber dass er mich nicht respektiert. Du weißt ja, dass so was auf Spanisch noch viel schlimmer klingt. Für ihn war ich un playboy, weißt du. Und was das Handwerk angeht, ich konnte einen Hammer nicht von einem Loch in der Erde unterscheiden, also hat er mich in seine Truppe aufgenommen, und dort hab ich gelernt.« Er grinste. »Glaub bloß nicht, ich wär da als der Sohn vom Chef mit Samthandschuhen angefasst worden. An manchen Tagen war pendejo noch das Netteste, was er zu mir sagte. Wenn meine Mom gewusst hätte, wie er auf Arbeit redete, die hätte ihn sonntags zweimal hintereinander in die Kirche geschleppt. Nach einer Weile hatte ich den Bogen raus. Ich hab sogar gemerkt, dass ich Talent habe im Entwerfen von Sachen. Mein Dad hat das auch gesehen. Er hat mir angeboten, dass ich Architektur studieren könnte oder so was, aber ich hab ihm gesagt, ich bin zufrieden, da wo ich bin.«
    »Bist du das immer noch?«
    »Es hat Jahre gegeben, wo ich mir kein Baseballspiel ansehen konnte, weil mir der Gedanke, was ich da verpasst habe, so wehtat. Aber jetzt bin ich dreiundvierzig, und selbst wenn ich in der Major League Karriere gemacht hätte, wäre die inzwischen auch vorbei, und darum würde ich sagen, schade drum, aber ich kann damit leben.«
    »Sehr philosophisch.«
    »Mhm«, sagte er lächelnd. »Gestatten, Johnny DeLeon, Philosoph. Und du? Was machst du so?«
    »Ich bin Rechtsanwalt. Habe ich dir das nicht neulich schon erzählt?«
    »Neulich warst du ganz schön durch den Wind, Henry. Wow, ein abogado. Ich bin beeindruckt, Mann. Welche Sparte denn?«
    »Strafverteidiger.«
    »Den Leuten helfen«, sagte er nickend.
    »Aber seit dem Herzinfarkt ist mein neuer Beruf Schlafen.«
    Er trank seine Coke aus und machte dem Mädchen ein Zeichen, noch eine zu bringen. »Hast du keine Verwandten, die sich um dich kümmern können?«
    »Meine Eltern sind tot«, sagte ich. »Ich habe noch eine Schwester, die in Oakland wohnt.« Ich entschied, Vicky und ihren Sohn nicht zu erwähnen, denn auf die beiden schien es in diesem Zusammenhang nicht anzukommen.
    »Mann, ich kann mir gar nicht vorstellen, was ich machen würde ohne meine Familie.«
    »Für mich war es gut, dass ich keine richtige Familie hatte. Ich konnte mein Leben so leben, wie ich wollte, und musste nie Rücksicht darauf nehmen, was das für die Verwandtschaft für Konsequenzen haben könnte.«
    »Du meinst, dass du schwul bist.«
    »Nicht nur das«, sagte ich. »Ich habe auch sonst versucht, dem, wofür ich mich halte, treu zu sein.«
    Er sah mich an und sagte: »Ich finde, du bist ganz schön mutig, Mann.«
    »Mutig ist, wenn man das tut, wovor man Angst hat, nicht das, wozu man geboren ist.«
    »Die allermeisten Menschen schaffen keins von beiden«, sagte er. »Ich wette, du hast beides getan.«
    »Dafür war ich nie Pitcher in der Major League.«
    Er lachte. »Okay, ich glaub, ich bring dich gerade in Verlegenheit. Wie fühlst du dich?«
    Ich checkte mich kurz durch. »Ganz gut.«
    »Willst du nach Hause oder lieber noch wohin Kaffee trinken?«
    »Kaffee.«
    Wir stritten uns um die Rechnung, aber es stellte sich heraus, dass unser Essen auf Mr. Huerta ging. Er kam an unseren Tisch und dankte John überschwänglich für den Kücheneinbau, für den er, wie ich heraushörte, nur die Materialkosten in Rechnung gestellt hatte. Als ich das im Wagen ansprach, zuckte er nur mit den Achseln und wechselte das Thema.
    Wir landeten in einem Coffeehouse auf dem Beverly Boulevard am Rande West Hollywoods, das so nüchtern war wie das Maria's überfrachtet: Betonboden, Metalltische, kellnernde Schauspieler ganz in Schwarz und leise Edith-Piaf-Chansons im Hintergrund, die sich unter den Klangteppich aus Handygesprächen mischten.
    »Hier ist es anders«, sagte ich, als wir im Eingang standen.
    »Hier war ich der Bauleiter«, sagte er. »Am Fenster ist ein Tisch frei. Besetz ihn schon mal, ich hol inzwischen Kaffee.«
    Ich nahm den Tisch in Beschlag und sah ihm nach, wie er zum Tresen ging, vollkommen fehl am Platz und vollkommen unbekümmert. Nach kurzer Zeit merkte ich, dass ich seinen Körper bewunderte: die langen Beine und breiten Schultern und sogar die Speckröllchen, die ihm über den Hosenbund quollen. In der Leichtigkeit seiner Haltung war immer noch der junge Athlet zu erkennen. Ihn hatte sein Körper nie im Stich gelassen. Er kam mit zwei Tassen Kaffee und einem großen Stück Schokoladenkuchen mit zwei Gabeln an den Tisch zurück. Er sagte: »Von diesem Kuchen wirst du begeistert sein.«
    Wir ließen es uns schmecken. »Warum hast du dich scheiden lassen?«, knüpfte ich an das Thema an, das wir im Wagen angeschnitten hatten.
    »Nachdem ich zu trinken aufgehört hatte, veränderte sich alles. Ich auch.« Er schnitt ein Stück Kuchen ab und schlang es hinunter. »Du weißt ja, wie das ist. Ein Jahr danach bist du ein völlig anderer Mensch. Fünf Jahre danach ist es wie ein neues Leben. Ich hab es noch so lange mitgemacht, bis die Kinder auf der Highschool waren, aber am Ende hatte ich nur noch die Wahl, entweder die Scheidung oder zurück zur Flasche.«
    »War es so schlimm zwischen dir und deiner Frau?«
    »An Suzie hat's überhaupt nicht gelegen.« Er zermanschte Kuchenkrümel unter seiner Gabel. »Es lag nur an mir. Die Scheidung war hart für sie, für die Kinder war es auch hart. Meine Tochter wirft mir das immer noch vor.«
    »Das tut mir Leid für dich«, sagte ich.
    Er sah mich einen Moment lang an. »Und was ist mit dir? Als dein Freund gestorben ist, warum hast du dir da keinen anderen geangelt?«
    Ich hatte das Gefühl, dass er das nicht aus Interesse fragte, sondern nur, um von sich abzulenken. Ich hatte mich in dem Zustand befunden, den Josh meinen Kreuzverhör-Modus zu nennen pflegte, und in diesem Modus ging ich manchmal einen Schritt zu weit. Vielleicht wollte er mir nur zeigen, dass er genauso schmerzhafte persönliche Fragen stellen konnte.
    »So einfach ist das nicht, John«, sagte ich. »Daran habe ich nie geglaubt, dass man sich einfach jemanden angeln kann. Ein Freund hat mal zu mir gesagt, mein Problem sei, dass mein Schwanz mit meinem Herz zusammengeschaltet ist.«
    Die Worte waren schon heraus, ehe ich bedachte, dass ein Schwuler, der über seinen Schwanz spricht, Johns Toleranz doch überstrapazieren könnte, aber er sagte nur: »Geht mir genauso.«
    »Glaubst du, du heiratest wieder?«
    »Wenn ich die richtige Person finde. Mit meiner Jetzigen, na ja, wir sind jetzt schon eine ganze Weile öfter zusammen, aber es ist ziemlich oberflächlich. Wie geht's dir eigentlich, Mann, kannst du noch?«
    »Der Koffein- und Zucker-Kick lässt schon nach. Ich glaube, es wird langsam Zeit für die Heia.«
    Wir fuhren in freundschaftlichem Schweigen zu meinem Haus zurück und hörten dabei einen mexikanischen Radiosender.
    John fuhr den Wagen in die Einfahrt. Ich sagte: »Es hat mir sehr gefallen, John. Danke fürs Vorbeikommen.«
    »Ich dachte, vielleicht hast du ja mal Lust, mit mir zu einem Spiel zu gehen.«
    »Stell dir vor, ich wohne schon seit zehn Jahren hier und war noch nie im Dodger-Stadion.«
    »Dann wird's aber Zeit«, sagte er. »Ich ruf dich morgen an, dann machen wir was ab.«
    »Ich freu mich schon. Gute Nacht, John.«
    Ich hielt ihm meine Hand hin, aber er langte daran vorbei und umarmte mich. Eine Sekunde lang rieben unsere Wangen aneinander, und ich spürte dieses vertraute Gefühl aus Stoppeln und Wärme. Er ließ mich los, klopfte mir auf den Rücken und sagte: »Schlaf gut, Mann.«

© Argument Verlag, 2001

 

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