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Pat Barker: Das Gegenbild

Eine Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Taschenbuch Verlages.

 

Das Gegenbild Autos stehen Stoßstange an Stoßstange, rollen vorwärts, bremsen, rollen wieder vorwärts. Nick hat den nackten Arm ins offene Fenster gelegt und trommelt mit den Fingern. Der Bigg Market am Freitagabend. Am Boden leere Frittenschalen und zerquetschte Bierdosen; eine Clique von Jungs mit rasiertem Schädel und Tätowierung am Arm lungert herum und sucht Ärger - dabei ist es noch früh, richtig los geht es erst später. Zwei Mädels schlendern vorbei, eine trägt ein dünnes, nahezu durchsichtiges weißes Baumwollkleid. Bei jedem Schritt sieht man die Nippel, dunkle Ringe unter dem Stoff, Fische, die aus dem Wasser springen. Einer der Jungs ruft sie beim Namen: »Julie!« Sie dreht sich um, und die beiden fallen sich in die Arme. Nick tut so, als würde er nicht hinschauen.

Was ist der Liebe höchstes Ziel?
Vier Arschbacken auf einem Stiel.

Er weiß nicht mehr, von wem das stammt - irgendein verschmähter armer Teufel, den der Frust zynisch gemacht hat. An dem Ziel ist überhaupt nichts verkehrt, soweit Nick es beurteilen kann - nur hat er selbst in dieser Hinsicht zur Zeit schlechte Karten. Bei den beiden ist es übrigens ähnlich, zumindest im Moment. Die Kumpel des Jungen sammeln sich um ihn, packen ihn am Gürtel, zerren ihn weg. »Jackie Weichei«, feixt das andere Mädchen. Der Junge stößt das Becken vor und bewegt die geschlossene Hand wie beim Wichsen.

Noch immer Rot. Los doch. Er wird noch zu spät kommen, dabei will er Miranda nicht am Bahnhof warten lassen. Es ist ihr erster Besuch im neuen Haus. Fran wollte ihn verschieben, aber dann mußte Barbara ins Krankenhaus, und das entschied die Sache. Miranda mußte kommen, und wahrscheinlich für den ganzen Sommer. Na ja, er jedenfalls freut sich.

Die Ampel springt um, wechselt aber in dem Moment wieder auf Rot, als er die Kreuzung erreicht. Im neuen Haus wird alles einfacher sein - mehr Platz. In der alten Wohnung gingen Gareths ständige Hinterhältigkeiten gegen Miranda allmählich allen auf die Nerven. Und Miranda wehrte sich nie, weshalb er Gareth am liebsten jedesmal erwürgt hätte, und dann gab es Geschrei, Tränen, Türenschlagen: »Du bist nicht mein Vater . . .« So, und wer ist es dann? hätte er am liebsten gefragt. Aber das hat er natürlich sein lassen.

Grün - Gott sei Dank. Aber jetzt geht eine Gruppe Jungs rüber und verknäult sich um zwei kleine Scheißer, die sich genau diesen Moment für einen Schlagabtausch ausgesucht haben. Nick haut mit der Faust auf die Hupe. Als das nichts bringt, beugt er sich aus dem Fenster und brüllt: »Verpißt euch hier, ja?«

Keine Antwort. Er jagt den Motor hoch, läßt das Auto vorwärtsrollen, bis es gegen ihre Waden stößt. Kahlrasierte Schädel drehen sich zu ihm um. Gerade noch Zeit, das Fenster hochzukurbeln, bevor die ganze Bande ihn umzingelt, Hände mit weiß gequetschten Fingerspitzen gegen seine Scheiben drückt, auf die Motorhaube haut; eine gelblich pelzige Zunge zuckt heraus, Speichelblasen zwischen entblößten Zähnen; Nasen drücken sich an die Scheibe. Dann heben sie wie eine Decke aus Fliegen ab, nicht einer nach dem anderen, sondern alle gleichzeitig, schlendern ohne ihn weiter zu beachten über die Kreuzung davon, zu gutgelaunt, zu nüchtern, um sich mit ihm abzugeben. Ein Junge bleibt zurück, sucht Streit. »Laß doch, Trev«, hört Nick. »Der alte Furz ist die Mühe nicht wert.«

Er dreht sich um, sieht eine hupende Autoschlange, schreit: »Ist doch verdammt noch mal nicht meine Schuld!«, merkt dann, daß sie ihn nicht hören können, und stößt zwei Finger in die Luft. Dreht sich nach vorn zurück. Herrgott, die Ampel ist wieder rot.

Er kommt zwanzig Minuten zu spät am Bahnhof an. Er stellt das Auto auf einem der Plätze für Kurzparker ab und rennt zum Bahnsteig, der aber leer ist. Die geschwungene Reihe geschlossener Türen entlangstarrend steht er da, während eine, wie er genau weiß, irrationale Angst in seinem Bauch aufsteigt. Vor einigen Monaten wurde eine Vierzehnjährige von irgendeinem Halbstarken, der mit seiner Anmache keinen Erfolg gehabt hatte, aus dem Zug geworfen. Miranda ist dreizehn. Das ist alles Unsinn, er weiß das. Aber andererseits lebt er wie jedermann im Schatten von Ungeheuerlichkeiten. Das bärtige Gesicht des Yorkshire Ripper, das Schild mit der Hausnummer jenes Hauses in der Cromwell Street, drei verschwommene Gestalten auf dem Bildschirm einer Überwachungskamera, ein älterer Junge, der ein Kleinkind bei der Hand nimmt, während sein Spielkamerad eifrig vorangeht, begierig auf die bevorstehenden Scheußlichkeiten.

Denk nach. Heißer Tag, lange Fahrt, sie wird Lust auf eine Cola haben, aber als er im Cafe nachschaut, sieht er sie nicht. Mißlaunige Reisende trinken orangefarbenen Tee aus dicken Tassen und rücken widerwillig ihre Koffer beiseite, als er sich zwischen den Tischen durchschiebt. Ausdünstung erhitzter Leiber, schimmernder Schweiß auf bleicher Haut wie der grünliche Glanz von verdorbenem Fleisch, Gott, was für ein Ort. Und dann sieht er sie dort, wo er sie schon die ganze Zeit hätte suchen sollen, nämlich vernünftig unter der Bahnhofsuhr wartend, die Beine länger und dünner, als er es in Erinnerung hat, mit krummen Schultern, um die knospenden Brüste zu verbergen. Sie sieht verlegen aus, linkisch, Miranda, die niemals linkisch ist, deren jede Bewegung ausgeglichen und beherrscht ist. Er will zu ihr eilen und sie küssen, hält sich aber zurück, weil er weiß, daß er sich an diesen Moment erinnern wird, solange er sich überhaupt an etwas erinnern kann.

Dann erblickt sie ihn, ihr Gesicht verwandelt sich, und ein paar Sekunden lang sieht sie aus wie die alte Miranda. Nur ihr Kuß ist nicht die stürmische Umarmung wie noch vor zwei Monaten, sondern erwachsen flüchtig, über die Kluft ihrer bewußt eingezogenen Brust hinweg.

Dadurch auf ganz lächerliche Weise verletzt, nimmt er ihren Koffer, legt ihr den Arm um die Schulter und führt sie zum Auto.

 

Aus dem Englischen von Barbara Ostrop
© Deutscher Taschenbuch Verlag, 2001

 

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