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Jodi Picoult: Die einzige Wahrheit

Eine Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Piper Verlags.

 

Die einzige Wahrheit Sie hatte oft davon geträumt, wie ihre kleine Schwester tot unter dem Eis trieb, aber heute nacht sah sie zum erstenmal, wie Hannah verzweifelt die Finger ins Eis krallte. Sie konnte Hannahs Augen sehen, weit aufgerissen und milchig, sie spürte Hannahs Nägel übers Eis kratzen. Dann wachte sie plötzlich auf. Es war nicht Winter - es war Juli. Unter ihren Händen war kein Eis, bloß zerwühlte Bettlaken. Doch wieder war auf der anderen Seite jemand, der sich mit aller Kraft zu befreien versuchte.
      Sie biß sich auf die Unterlippe, als die Faust in ihrem Bauch sich noch fester zusammenballte. Den Schmerz niederkämpfend, der in Wellen kam und ging, lief sie auf Zehenspitzen hinaus in die Nacht.
      Als sie in den Stall trat, miaute die Katze. Sie keuchte jetzt, und ihre Beine zitterten wie Weidenzweige. In der hintersten Ecke des Verschlags, in dem die Kühe kalbten, ließ sie sich ins Heu nieder und zog die Knie an. Die Kühe mit den dicken, prallen Bäuchen drehten ihre großen, erstaunten Augen in ihre Richtung, wandten sich dann schnell wieder ab, als wüßten sie, daß es klüger war, nicht hinzuschauen.
      Sie konzentrierte sich auf das Fell der Holsteinkühe, bis die schwarzen Flecken tanzten und verschwammen. Sie grub die Zähne in den aufgerollten Saum ihres Nachthemdes. Sie spürte einen ungeheuren Druck, als würde sie von innen nach außen gekehrt, und sie erinnerte sich, wie sie und Hannah sich immer durch das Loch im Stacheldrahtzaun am Bach zwängten, schiebend und windend, nur noch Knie und Ächzen und Ellbogen, bis sie hindurchpurzelten.
      Es war so plötzlich vorüber, wie es begonnen hatte. Und auf dem blutbefleckten Heu zwischen ihren Beinen lag ein Baby.
     
      Aaron Fisher rollte sich unter dem bunten Quilt auf die Seite und blickte auf die Uhr neben dem Bett. Nichts hatte ihn aufgeweckt, kein bestimmtes Geräusch, aber nach fünfundvierzig Jahren als Farmer konnten ihn Kleinigkeiten aus dem Schlaf reißen: ein Huschen im Mais, eine Veränderung im Rauschen des Windes, das Kratzen der Zunge eines Muttertieres, das ein neugeborenes Kalb sauberleckt.
      Er spürte, wie die Matratze nachgab, als Sarah sich hinter ihm aufstützte, ihr langer Zopf ringelte sich über ihre Schulter wie ein Seemannsseil. »Was iss letz?« Was ist los?
      Es waren nicht die Tiere; erst in einem Monat sollte die erste Kuh kalben. Es war kein Einbrecher; dazu war das Geräusch zu zart. Er spürte, wie der Arm seiner Frau sich um ihn schlang. »Nix«, murmelte er. Aber er wußte nicht, ob er Sarah beruhigen wollte oder sich selbst.
     
      Sie wußte, wie man die Schnur durchschnitt, die wie eine purpurne Spirale zum Bauch des Babys lief. Mit zitternden Händen nahm sie die alte Schere, die an einem Haken neben der Tür des Verschlages hing. Sie war rostig, und Heu klebte daran. Zwei feste Schnitte durchtrennten die Schnur, und sofort schoß Blut daraus hervor. Entsetzt drückte sie die Enden mit den Fingern zu, suchte verzweifelt nach irgend etwas zum Abbinden. Sie wühlte im Stroh herum und fand ein kleines Stück Heukordel, das sie rasch um die Nabelschnur wickelte. Die Blutung ließ nach, hörte schließlich auf. Erleichtert sank sie nach hinten - und dann fing das Neugeborene an zu schreien.
      Sie nahm das Baby und wiegte es in ihren Armen. Mit einem Fuß schob sie Stroh zusammen, um das Blut mit einer sauberen Lage zu bedecken. Der Mund des Babys öffnete und schloß sich um den Baumwollstoff ihres Nachthemdes, saugend.
      Sie wußte, was das Baby wollte, brauchte, aber sie konnte es nicht tun. Es würde alles real machen.
      Also gab sie dem Baby statt dessen ihren kleinen Finger. Sie ließ den winzigen, kräftigen Mund saugen, während sie tat, was man ihr für extreme Streßsituationen beigebracht hatte; was sie jetzt schon seit Monaten tat. Sie betete: »O Herr, bitte mach, daß es weggeht.«

 

Das Klirren von Ketten weckte sie. Es war noch dunkel draußen, aber die Milchkühe folgten ihrer inneren Uhr und erhoben sich in ihren Verschlägen, die Euter blau geädert und prall voll Milch, wie ein zwischen ihren Beinen gefangener Vollmond. Sie hatte Schmerzen und war müde, doch sie wußte, daß sie den Stall verlassen mußte, bevor die Männer zum Melken kamen. Als sie nach unten blickte, begriff sie, daß ein Wunder geschehen war: Das blutgetränkte Stroh war wieder frisch, bis auf einen kleinen Fleck unter ihrem Gesäß. Und die beiden Dinge, die sie beim Einschlafen in den Händen gehalten hatte - die Schere und das Neugeborene -, waren verschwunden.
      Sie erhob sich mühsam und blickte zum Dach hinauf, voller Ehrfurcht und Demut. »Danki«, flüsterte sie und lief hinaus in die Dunkelheit.
     
      Wie alle anderen sechzehnjährigen Amisch-Jungen ging auch Levi Esch nicht mehr zur Schule. Er hatte die achte Klasse abgeschlossen und war jetzt bald in dem Alter, in dem er durch die Taufe in den amischen Glauben aufgenommen werden würde. In der Zwischenzeit half er bei Aaron Fisher aus, der keinen Sohn mehr hatte, der ihn auf der Milchfarm unterstützte. Den Job hatte Levi auf Empfehlung seines älteren Vetters Samuel hin bekommen, der inzwischen schon seit fünf Jahren bei den Fishers in die Lehre ging. Und da alle wußten, daß Samuel in naher Zukunft die Tochter der Fishers heiraten und seine eigene Farm bewirtschaften würde, konnte Levi wohl bald mit einer Beförderung rechnen.
      Sein Arbeitstag begann um vier Uhr morgens. Es war noch stockdunkel, und Levi konnte nicht sehen, wie Samuels Kutsche ankam, aber er hörte das schwache Klingeln von Geschirr und Zugriemen. Er griff sich seinen breitkrempigen Strohhut, lief hinaus und sprang auf den Sitz neben Samuel.
      »Morgen«, sagte er außer Atem.
      Samuel nickte ihm zu, sagte aber nichts.
      »Was ist los?« neckte Levi. »Hat Katie dir gestern keinen Gutenachtkuß gegeben?«
      Samuel blickte finster und versetzte Levi einen Stoß, so daß dessen Hut nach hinten in die Kutsche rollte. »Halt doch einfach die Klappe.« Der Wind raunte im zerzausten Rand des Maisfeldes, während sie schweigend dahinfuhren. Nach einer Weile steuerte Samuel den Einspänner auf den Hof der Fishers. Levi bohrte die Spitze seines Stiefels in die weiche Erde und wartete, bis Samuel das Pferd ausgespannt und auf die Weide geführt hatte, dann gingen sie zum Stall.
      Die Lampen, die sie beim Melken brauchten, wurden von einem Generator gespeist, der auch die Vakuumpumpen mit Strom versorgte, die an den Zitzen der Kühe befestigt wurden. Aaron Fisher kniete neben einem Tier, besprühte das Euter mit Jodlösung und wischte es dann mit einer Seite aus einem alten Telefonbuch trocken. »Samuel, Levi«, begrüßte er sie.
      Er sagte ihnen nicht, was sie zu tun hatten, weil sie es längst wußten. Samuel schob die Schubkarre unter ein Silo und fing an, das Futter zu mischen. Levi schaufelte den Mist hinter den Kühen heraus, blickte dabei immer wieder zu Samuel hinüber und wünschte sich, er wäre schon ebenso erfahren wie er.
      Die Stalltür ging auf, und Aarons Vater kam hereingeschlendert. Elam Fisher wohnte im Groossdaadi-Haus, einer kleinen Wohnung, die dem Haupthaus angeschlossen war. Elam half zwar beim Melken, doch Levi kannte die ungeschriebenen Regeln: darauf achten, daß der alte Mann nichts Schweres trug, verhindern, daß er sich übermäßig anstrengte, und ihm das Gefühl geben, daß Aaron ohne ihn nicht zurechtkäme, obwohl dieser das durchaus gekonnt hätte, jederzeit. »Jungs«, polterte Elam und blieb dann wie angewurzelt stehen. Seine Nase kräuselte sich über dem langen, weißen Bart. »Ha, wir haben ein Kälbchen bekommen.«
      Verwundert richtete Aaron sich auf. »Nein. Der Verschlag ist leer.«
      Elam schüttelte den Kopf. »Aber es riecht so.«
      »Hier riecht's eher nach Levi, der mal wieder ein Bad gebrauchen könnte«, scherzte Samuel, während er vor der ersten Kuh eine Ration Futter auskippte. Als Samuel mit der Schubkarre an ihm vorbeikam, holte Levi aus, rutschte jedoch auf dem frischen Mist aus und landete in der Auffangrinne für die Gülle. Er biß die Zähne zusammen, als Samuel laut loslachte. »Das reicht jetzt«, sagte Aaron tadelnd, obwohl es auch um seine Lippen zuckte. »Levi, ich glaub, Sarah hat deine sauberen Sachen in die Sattelkammer gelegt.« Levi rappelte sich mit glühenden Wangen wieder auf. Er ging in das Kämmerchen, in dem die Decken und das Zaumzeug für die Arbeitspferde und Maultiere der Farm aufbewahrt wurden.
      Levi schaute sich um, konnte aber nirgendwo Kleidung entdecken. Dann fiel ihm etwas Buntes in dem Stapel Pferdedecken auf. Wenn Sarah Fisher seine Sachen gewaschen hatte, dann wahrscheinlich zusammen mit der übrigen Wäsche. Er hob die schwere, gestreifte Decke hoch und sah seine Hose und sein smaragdgrünes Hemd zu einem Bündel zusammengerollt. Levi machte einen Schritt nach vorn, um die Sachen an sich zu nehmen, als er plötzlich in das winzige, reglose Gesicht eines Neugeborenen blickte.

 

»Aaron!« Levi keuchte. »Aaron, du mußt sofort kommen.« Aaron wechselte einen Blick mit seinem Vater, dann rannten sie beide los, gefolgt von Samuel.
      Levi stand vor einem Hocker, auf dem Pferdedecken gestapelt waren, und darauf lag ein schlafendes Baby, in ein Männerhemd eingewickelt. »Ich... ich glaube, es atmet nicht.«
      Aaron trat näher. Es war schon lange her, daß er mit einem so kleinen Baby zu tun gehabt hatte. Die weiche Haut des Gesichtchens war kalt. Er kniete nieder und drehte seinen Kopf zur Seite, hoffte, daß sein Ohr ein Atmen wahrnehmen würde. Er legte seine flache Hand auf die Kinderbrust. Dann drehte er sich zu Levi um. »Lauf zu den Schuylers und frag sie, ob du ihr Telefon benutzen darfst«, sagte er. »Ruf die Polizei.«

 

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
© Piper Verlag
Alle Rechte vorbehalten!

 

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