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Kathy Reichs: Knochenlese

Eine Leseprobe mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Random House.

 

Knochenlese »Ich bin tot. Sie haben mich auch umgebracht.«
      Die Worte der alten Frau stachen mir ins Herz.
      »Bitte erzählen Sie mir, was an diesem Tag passiert ist.« Maria sprach so leise, dass ich Mühe hatte, ihr Spanisch zu verstehen.
      »Ich habe meine Kleinen geküsst und bin auf den Markt gegangen.« Die Augen niedergeschlagen, die Stimme tonlos. »Ich wusste nicht, dass ich sie nie wieder sehen würde.«
      Aus dem K'akchiquel ins Spanische, dann die Übersetzung in die Gegenrichtung und wieder andersherum im Wechselspiel von Frage und Antwort. Die Übersetzung schaffte es nicht, das erinnerte Grauen zu mildern.
      »Wann sind Sie nach Hause zurückgekehrt, Señora Ch'i'p?«
      »A que hora regreso usted a su casa, Señora Ch'i'p?«
      »Chike ramaj xatzalij pa awachoch, Ixoq Ch'i'p?«
      »Am späten Nachmittag. Ich hatte meine Bohnen verkauft.«
      »Das Haus brannte?«
      »Ja.«
      »Ihre Familie war drinnen?«
      Ein Nicken.
      Ich betrachtete die Beteiligten. Eine uralte Maya-Frau, ihr Sohn mittleren Alters und die junge Kulturanthropologin Maria Paiz, jetzt gezwungen, unaussprechliche Erinnerungen auszugraben. Ich spürte Wut und Trauer in mir zusammenprallen wie die Gewitterwolken, die sich am Horizont auftürmten.
      »Was haben Sie getan?«
      »Wir haben sie im Brunnen begraben. In aller Eile, bevor die Soldaten zurückkamen.«
      Ich musterte die alte Frau. Ihr Gesicht war wie brauner Kord. Ihre Hände waren schwielig, der lange Kopf mehr grau als schwarz. Um ihren Kopf war ein Tuch geknotet, leuchtende Rot-, Pink-, Gelb- und Blautöne, verwebt zu Mustern, die älter waren als die Berge, die uns umgaben. Ein Zipfel hob und senkte sich im Wind.
      Die Frau lächelte nicht. Sie runzelte auch nicht die Stirn. Und sie schaute niemanden an, was mich sehr erleichterte. Hätten sich unsere Blicke auch nur kurz getroffen, wäre die Übermittlung von Schmerz wohl grausam gewesen.
      Vielleicht wusste sie das und wandte den Blick ab, um nicht andere in die Hölle hinabzuziehen, die diese Augen verbargen.
      Es konnte natürlich auch Misstrauen sein. Vielleicht war sie nach dem, was sie erlebt hatte, nicht mehr bereit, Fremden offen in die Augen zu sehen.
      Da ich einen leichten Schwindel verspürte, drehte ich einen Eimer um, setzte mich darauf und betrachtete die Umgebung.
      Ich befand mich auf zweitausend Meter Höhe im westlichen Hochland Guatemalas, am Grund einer Schlucht mit steilen Flanken. Ungefähr einhundertfünfundzwanzig Kilometer nordwestlich von Guatemala City.
      Um mich herum floss ein breiter Strom aus üppig grünem Wald, durchsetzt von kleinen Feldern und Gemüsegärten, wie Inseln. Hier und dort war das riesige Schachbrett von künstlich angelegten Terrassen durchbrochen, die sich spielerisch wie Wasserfälle in die Tiefe stürzten. Dunst umwaberte die höchsten Gipfel und ließ ihre Umrisse verschwimmen wie auf einem Bild von Monet.
      Landschaften von solcher Schönheit hatte ich nur selten gesehen. Die Great Smoky Mountains. Den Gatineau in Quebec im Nordlicht. Die Barrier Islands vor der Küste Carolinas. Der Vulkan Haleakula bei Sonnenaufgang. Der Liebreiz der Umgebung machte die vor mir liegende Arbeit umso herzzerreißender.
      Als forensische Anthropologin ist es meine Aufgabe, Tote auszugraben und zu untersuchen. Ich identifiziere die Verbrannten, die Mumifizierten, die Verwesten und die Skelettierten, die ansonsten in anonymen Gräbern landen würden. Manchmal sind die Ergebnisse nur sehr allgemein, kaukasoide Frau, Mitte zwanzig. Bei anderen Gelegenheiten kann ich ein Opfer genau identifizieren. In einigen Fällen finde ich heraus, wie die Leute starben. Oder wie ihre Leichen verstümmelt wurden.
      Ich bin also durchaus gewöhnt an den Tod und das, was nach ihm kommt. Ich bin vertraut mit seinem Geruch, seinem Anblick, mit seiner Bedeutung. Ich habe gelernt, mich emotional zu stählen, damit ich meinen Beruf ausüben kann.
      Aber diese alte Frau durchbrach meinen Schutzwall, meine Distanziertheit.
      Noch ein Schwindelanfall. Das liegt an der Höhe, sagte ich mir, senkte den Kopf und atmete tief durch.
      Obwohl meine eigentlichen Wirkungsstätten North Carolina und Quebec sind, für deren Behörden ich als forensische Anthropologin tätig bin, war ich als Freiwillige nach Guatemala gekommen, um einen Monat lang als Beraterin für die Fundación de Antropología Forense de Guatemala zu arbeiten. Die Guatemaltekische Stiftung für Forensische Anthropologie, FAFG, arbeitete daran, die Überreste all jener zu lokalisieren und zu identifizieren, die während des Bürgerkriegs von 1962 bis 1996, einem der blutigsten Konflikte der lateinamerikanischen Geschichte, verschwunden waren.
      Seit meiner Ankunft vor einer Woche hatte ich viel gelernt. Schätzungen über die Zahl der Vermissten schwankten zwischen ein- und zweihunderttausend. Der Großteil der Gräueltaten ging auf das Konto der guatemaltekischen Armee und der mit ihr verbündeten paramilitärischen Organisationen. Die meisten der Getöteten waren Bauern vom Lande. Viele davon Frauen und Kinder.
      Die Opfer wurden erschossen oder mit Macheten zerstückelt. Andere Dörfer hatten nicht so viel Glück wie Chupan Ya. Hier hatten die Bewohner Zeit gehabt, ihre Toten zu verstecken. Viel häufiger wurden die Leichen in anonymen Massengräbern verscharrt, in Flüsse geworfen oder unter den Ruinen von Hütten oder Häusern liegen gelassen. Die Hinterbliebenen erhiel ten keine Erklärungen, keine Vermisstenlisten, keine Unterlagen. Eine Untersuchungskommission der Vereinten Nationen bezeichnete diese Massaker als Genozid am Volk der Maya.
      Familien und Nachbarn nannten ihre Vermissten desaparecidos. Die Verschwundenen. Die FAFG versuchte, sie oder genauer ihre Überreste zu finden, und ich war gekommen, um dabei zu helfen.
      Hier in Chupan Ya waren Soldaten und Zivilpatrouillen an einem Augustmorgen im Jahr 1982 eingefallen. Die Männer flohen, weil sie befürchteten, man würde sie der Kollaboration mit der örtlichen Guerillabewegung verdächtigen. Den Frauen wurde befohlen, sich mit ihren Kindern in Gruppen auf bestimmten Farmen zu versammeln. Sie gehorchten, vielleicht, weil sie dem Militär vertrauten, vielleicht aber, weil sie es fürchteten. Als die Soldaten sie auf den Farmen fanden, wurden die Frauen stundenlang vergewaltigt und dann umgebracht. Jedes Haus im Tal wurde niedergebrannt.
      Überlebende erzählten von fünf Massengräbern. Am Grund des Brunnens hinter Mrs. Ch'i'p lagen angeblich dreiundzwanzig Frauen und Kinder.
      Die alte Frau fuhr mit ihrer Geschichte fort. Hinter ihrer Schulter konnte ich die Konstruktion erkennen, die wir vor drei Tagen errichtet hatten, um den Brunnen und seine Umgebung vor Regen und Sonne zu schützen. Rucksäcke und Kamerataschen hingen an Metallstützen, und Planen bedeckten die Grube darunter. Kisten, Eimer, Schaufeln, Pickel, Besen und Lagerbehälter lagen dort, wo wir sie an diesem Morgen hingeworfen hatten.
      Zwischen den Stangen hatten wir Seile gespannt, um die Zuschauer von den Arbeitern zu trennen. Innerhalb der Abgrenzung saßen drei Mitglieder des FAFG-Teams untätig herum. Außerhalb standen die Dorfbewohner, die jeden Tag hierher kamen, um schweigend zuzusehen.
      Und die Polizisten, die uns aufhalten sollten.
      Wir waren kurz davor gewesen, Indizien zu entdecken, als wir den Befehl zum Abbruch erhielten. Die Erde, einst mahagonifarben, jetzt friedhofschwarz, hatte erste Aschespuren preisgegeben und verkohlte Fragmente. Im Sieb hatten wir eine Kinderhaarspange gefunden. Stofffetzen. Einen winzigen Turnschuh.
      O Gott. Lag die Familie der alten Frau wirklich nur Zentimeter unterhalb der Stelle, an der wir hatten aufhören müssen?
      Fünf Töchter und neun Enkel. Erschossen, zerstückelt und zusammen mit Nachbarsfrauen und -kindern in ihrem Haus verbrannt. Wie erträgt man einen solchen Verlust? Was konnte das Leben da noch bieten außer endlosem Schmerz?
      Als ich meinen Blick wieder auf die Landschaft richtete, bemerkte ich ein halbes Dutzend Gehöfte auf Lichtungen im Wald. Lehmwände, Ziegeldächer, Rauch, der von Kochstellen in die Höhe stieg. Jedes hatte einen ungepflasterten Hof, eine Außentoilette und ein oder zwei ausgemergelte braune Hunde. Die Wohlhabenderen hatten Hühner, ein dürres Schwein, ein Fahrrad.
      Zwei von Mrs. Ch'i'ps Töchtern hatten in der Ansammlung von Hütten auf halber Höhe der östlichen Flanke gewohnt. Eine andere hatte oben auf der Anhöhe gelebt, wo wir unsere FAFG-Fahrzeuge abgestellt hatten. Diese Frauen waren verheiratet gewesen, an ihr Alter konnte sie sich nicht mehr erinnern. Ihre Kinder waren drei Tage, zehn Monate, zwei, vier und fünf Jahre alt gewesen.
      Ihre jüngsten Töchter waren noch zu Hause gewesen. Sie wurden elf und dreizehn Jahre alt.
      Familien, verbunden über Fußpfade und ein Netzwerk der Gene. Dieses Tal war ihre Welt.
      Ich stellte mir vor, wie Mrs. Ch'i'p an diesem Tag nach Hause kam, vielleicht auf demselben Lehmpfad, den wir uns jeden Morgen hinunter- und jeden Abend hinaufquälten. Sie hatte ihre Bohnen verkauft. Wahrscheinlich war sie fröhlich.
      Dann das Grauen.
      Zwei Jahrzehnte reichen nicht zum Vergessen. Ein Leben reicht nicht.
      Ich frage mich, wie oft sie an sie dachte. Gingen ihre Schatten mit ihr, wenn sie sich zum Markt schleppte, auf demselben Weg, den sie an diesem verhängnisvollen Tag gegangen war? Schlüpften sie durch den zerrissenen Fetzen, der ihr Fenster verhüllte, wenn jeden Abend die Dunkelheit über das Tal hereinbrach? Bevölkerten sie ihre Träume? Kamen sie grinsend und lachend zu ihr, wie sie es im Leben getan hatten? Oder blutig und verkohlt, wie sie sie im Tod gefunden hatte?
      Meine Sicht verschwamm, ich senkte wieder den Kopf und starrte die Erde an. Wie war es möglich, dass menschliche Wesen anderen menschlichen Wesen so etwas antaten? Hilflosen und wehrlosen Frauen und Kindern? In der Ferne hörte ich Donner grollen.
      Sekunden, vielleicht Jahre später brach die Befragung ab, eine unübersetzte Frage hing noch in der Luft. Als ich den Kopf hob, sah ich, dass Maria und ihr Übersetzer zum Hügel hinter mir starrten. Mrs. Ch'i'p hielt, die Hand an der Wange, die Finger eingekrümmt wie ein Neugeborenes, den Blick weiter auf ihre Sandalen gesenkt.
      »Mateo ist zurück«, sagte Elena Norvillo, ein Mitglied der FAFG aus der Region El Petén. Ich drehte mich um, als sie aufstand. Der Rest des Teams blieb unter dem Zelt und sah von dort aus zu.
      Zwei Männer trotteten einen der vielen Fußpfade herunter, die sich durch die Schlucht schlängelten, der vordere in blauer Windjacke, ausgewaschenen Jeans und brauner Kappe. Obwohl ich deren Aufdruck nicht entziffern konnte, wusste ich doch, dass er FAFG lautete. Wir sechs Wartende trugen dieselben Kappen. Der Mann, der ihm folgte, trug Anzug und Schlips, und in der Hand hielt er einen Klappstuhl.
      Wir sahen zu, wie die beiden sich einen Weg bahnten durch dürre Maisstauden, umringt von diversen anderen Pflanzen, wobei sie darauf achteten, nichts zu beschädigen. Ein Bohnensämling. Ein Kartoffelkeimling. Für uns unbedeutend, aber wesentlich als Nahrungs- oder Einkommensquelle für die Familie, der sie gehörte.
      Als sie nur noch zwanzig Meter entfernt waren, rief Elena.
      »Hast du's geschafft?«
      Mateo reckte den Daumen in die Höhe.
      Die Unterbrechung der Ausgrabung war von einem örtlichen Amtsrichter angeordnet worden. Nach seiner Interpretation des Exhumierungsbefehls durften keine Arbeiten stattfinden, wenn nicht ein Richter, das guatemaltekische Äquivalent eines Bezirksstaatsanwalts, anwesend war. Als dieser Amtsrichter uns früh an diesem Morgen besucht und keinen solchen Richter vor Ort angetroffen hatte, hatte er den Stopp der Grabungen befohlen. Mateo war nach Guatemala City gefahren, um eine Aufhebung dieses Spruchs zu erreichen.
      Mateo führte seinen Begleiter direkt zu den beiden uniformierten Wachen von der Nationalen Zivilpolizei und zog ein Dokument hervor. Der ältere Polizist schob sich den Gurt seiner Halbautomatik höher auf die Schulter, nahm das Papier und las mit gesenktem Kopf, sodass sich das langsam verlöschende Nachmittagslicht in seinem glänzend schwarzen Mützenschirm spiegelte. Sein Partner stand nur da, einen Fuß vorgestreckt, mit gelangweilter Miene.
      Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Besucher im Anzug gab der ältere Polizist Mateo das Dokument zurück und nickte.
      Die Dorfbewohner schauten stumm, aber neugierig zu, wie Juan, Luis und Rosa aufstanden und sich, wie Basketballspieler, mit erhobenen Händen abklatschten. Mateo und sein Begleiter gesellten sich am Brunnen zu ihnen. Elena folgte.
      Als ich zum Zelt ging, warf ich noch einen kurzen Blick auf Mrs. Ch'i'p und ihren erwachsenen Sohn. Der Mann machte ein wütendes Gesicht, jede seiner Poren schien Hass auszuschwitzen. Hass auf wen, fragte ich mich. Auf diejenigen, die seine Familie abgeschlachtet hatten? Auf diejenigen, die aus einer ganz anderen Welt gekommen waren, um die Ruhe ihrer Knochen zu stören? Auf weit entfernte Behörden, die auch noch die kleinsten Bemühungen behinderten? Auf sich selbst, weil er diesen Tag überlebt hatte? Seine Mutter stand hölzern und mit ausdrucks losem Gesicht neben ihm.
      Mateo stellte den Mann im Anzug als Roberto Amado vor, Abgesandter aus dem Büro des Bezirksstaatsanwalts. Der Richter in Guatemala City hatte entschieden, dass seine Anwesenheit den Anforderungen des Exhumierungsbefehls genüge. Amado würde die Arbeiten beobachten und alles dokumentieren, um unsere Ergebnisse vor Gericht verwertbar zu machen.
      Amado gab jedem von uns die Hand, ging dann in eine Ecke der überdachten Fläche, klappte seinen Stuhl auf und setzte sich. Mateo fing an, Aufgaben zu verteilen.
      »Luis, Rosa, ihr siebt bitte. Tempe und ich graben. Juan, du schaufelst die Erde weg. Wir wechseln uns ab, wenn's nötig wird.
      Mateo hatte eine kleine v-förmige Narbe auf seiner Oberlippe, die sich zu einem U verbreiterte, wenn er lächelte. Heute blieb das V so schmal wie ein Dorn.
      »Elena, du dokumentierst und fotografierst. Skelettinventar, Artefakteninventar, Fotos mit Legenden. Jedes Molekül wird registriert.«
      »Wo sind Carlos und Molly?«, fragte Elena.
      Carlos Menzes war Mitglied einer argentinischen Menschenrechtsorganisation, die die FAFG seit ihrer Gründung 1992 beriet. Molly Carraway war Archäologin und gerade aus Minnesota gekommen.
      »Sie fahren den anderen Laster hierher für den Abtransport. Wir brauchen ein zweites Fahrzeug, wenn wir mit unserer Ausrüstung und den Artefakten von hier wieder weg wollen.«
      Er schaute zum Himmel hoch.
      »Das Gewitter ist noch zwei Stunden entfernt, vielleicht drei, wenn wir Glück haben. Lasst uns diese Leute finden, bevor hier noch mehr juristischer Müll abgeladen wird.«
      Während ich Kellen zusammensuchte und in einen Eimer steckte, an dem ein Seil befestigt war, verstaute Mateo den Gerichtsbeschluss in seinem Rucksack und hängte ihn an eine Querstange. Seine Augen und Haare waren schwarz, sein Körper wie ein Hydrant, kurz und stämmig. Muskelstränge zeigten sich an seinem Hals und seinen Armen, als er und Luis die Plane zurückschlugen, die die Grube bedeckte.
      Mateo stellte einen Fuß auf die erste der Erdstufen, die wir in eine Grubenwand geschlagen hatten. Die Kante bröckelte, und Erde rieselte zwei Meter in die Tiefe. Die Klümpchen machten ein leise tickerndes Geräusch, als Mateo langsam nach unten stieg.
      Als er unten angekommen war, ließ ich den Eimer hinunter und zog mir dann den Reißverschluss meiner Windjacke zu. Die letzten drei Tage waren mir eine Lehre gewesen. Der Mai im Hochland war zwar angenehm, aber die klamme Kälte unter der Erde ging einem durch Mark und Bein. Jeden Abend hatte ich Chupan Ya durchgefroren und mit tauben Fingern verlassen.
      Ich stieg hinunter, wie Mateo es getan hatte, indem ich die Füße seitwärts aufstellte und jede unserer Behelfsstufen testete. Mein Puls beschleunigte sich, während es um mich herum immer düsterer wurde.
      Mateo streckte mir die Hand entgegen, und ich nahm sie. Nachdem ich von der letzten Stufe heruntergestiegen war, stand ich in einem quadratischen Loch von nicht mehr als zwei Metern Kantenlänge. Wände und Boden waren glitschig, die Luft nasskalt und faulig.
      Mein Herz hämmerte gegen das Brustbein. Schweiß lief mir die Furche über dem Rückgrat hinunter.
      Wie immer in engen dunklen Löchern.
      Ich wandte mich von Mateo ab, tat so, als würde ich meine Kelle reinigen. Meine Hände zitterten.
      Ich schloss die Augen und kämpfte gegen die Klaustrophobie an. Ich dachte an meine Tochter. Katy als Baby. Katy an der Universität von Virginia. Katy am Strand. Ich stellte mir meine Katze, Birdie, vor. Mein Stadthaus in Charlotte. Meine Eigentumswohnung in Montreal.
      Ich kannte einen Trick. Der erste Song, der mir in den Sinn kam. Neil Young. Harvest Moon. Ich ging im Geist den Text durch.
      Meine Atmung entkrampfte sich. Der Herzschlag wurde langsamer.
      Ich öffnete die Augen und schaute auf die Uhr. Siebenundfünfzig Sekunden. Nicht so gut wie gestern. Besser als am Dienstag. Viel besser als am Montag.

 

Aus dem Amerikanischen von Klaus Berr.
© Verlagsgruppe Random House, 2003
Alle Rechte vorbehalten!

 

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