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Alan Furst: Das Reich der Schatten

Eine Leseprobe mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Random House.

 

Das Reich der Schatten Im Garten der Baronin Frei
Am 10. März 1938 fuhr der Nachtexpress aus Budapest kurz nach vier Uhr morgens im Gare du Nord ein. Am Rhein hatten Unwetter getobt, und die Schlafwagen glänzten regennass. Im Wiener Westbahnhof war ein Ziegelstein gegen das Fenster eines Erste-Klasse-Abteils geschleudert worden und hatte einen eisblumenähnlichen Stern in der Scheibe hinterlassen. Außerdem hatten einige Passagiere Schwierigkeiten mit den Grenzkontrollen gehabt, sodass der Zug schließlich mit Verspätung in Paris ankam.
      Nicholas Morath, der mit ungarischem Diplomatenpass reiste, ging mit raschen Schritten den Bahnsteig entlang und strebte zum Taxistand vor dem Bahnhof. Der Fahrer des vordersten Taxis sah ihn kurz an, faltete rasch seinen Paris-Midi zusammen und setzte sich auf. Morath warf seinen Koffer hinten auf den Wagenboden und stieg ein. »Avenue Bourdonnais«, sagte er. »Nummer acht.«
      Ausländer, dachte der Taxifahrer. Aristokrat. Er ließ den Motor an und fuhr Richtung VII. Arrondissement los. Morath kurbelte das Fenster herunter und ließ sich die scharfe Stadtluft ins Gesicht wehen.

 

Avenue de la Bourdonnais 8. Eine abweisende haut-bourgeois-Festung mit keksfarbenen Mauern, flankiert von den Gesandtschaften zweier kleiner Länder. Die Menschen, die hier wohnten, gehörten eindeutig zu denen, die überall wohnen konnten, und deshalb wohnten sie hier. Morath schloss das Tor mit einem großen Schlüssel auf, durchquerte den Hof und benutzte einen zweiten Schlüssel für die Haustür. »Bonsoir, Sélène«, sagte er. Die schwarze belgische Schäferhündin gehörte der Concierge und bewachte nachts die Tür. Wie ein Schatten kam sie aus der Dunkelheit, schnupperte an seiner Hand, ließ sich tätscheln und streckte sich dann seufzend wieder auf dem Fliesenboden aus. Sélène, dachte er, die Mondgöttin.
      Caras Wohnung war im obersten Stock. Er schloss auf und trat ein. Seine Schritte hallten auf dem Parkett in dem langen Flur. Die Schlafzimmertür stand offen, im Licht einer Straßenlaterne sah er auf dem Toilettentisch eine Flasche Champagner und zwei Gläser. Eine Kerze auf der Rosenholzkommode war zu einer goldenen Wachspfütze heruntergebrannt.
      »Nicky?«
      »Ja.«
      »Wie spät ist es?«
      »Halb fünf.«
      »In deinem Telegramm stand Mitternacht.« Sie setzte sich auf und strampelte das Federbett weg. Sie war in ihrer Reizwäsche eingeschlafen, ihrer petite chemisette, wie sie es nannte, schwarzseiden und sehr kurz, mit einem filigranen Spitzenbesatz am oberen Rand. Sie beugte sich vor und zog sich das Hemdchen über den Kopf. Quer über ihre Brust verlief eine Linie, wo sich die Naht eingedrückt hatte.
      Sie schüttelte ihr Haar zurück und lächelte ihn an. »Na?« Als er nicht reagierte, fragte sie: »Wir trinken doch Champagner, oder?«
      O nein! Aber er sagte es nicht. Sie war sechsundzwanzig, er vierundvierzig. Er nahm den Champagner vom Toilettentisch, hielt den Korken fest und drehte langsam die Flasche, bis es zischte. Er füllte ein Glas, reichte es ihr und schenkte sich dann selbst ein.
      »Auf dich und mich, Nicky.«
      Der Champagner war scheußlich, dünn und süß, aber das hatte er schon vorher gewusst, der caviste in der Rue Saint-Dominique betrog sie schamlos. Er stellte sein Glas auf den Teppich, trat zum Schrank und begann sich auszuziehen.
      »War es sehr schlimm?«
      Morath zuckte die Achseln. Er war auf einem Familiengut in der Slowakei gewesen, wo der alte Kutscher seines Onkels im Sterben lag. Nach zwei Tagen war er gestorben. »Österreich war ein Alptraum«, sagte er.
      »Ja, sie bringen es im Radio.«
      Er hängte seinen Anzug auf, rollte Hemd und Unterwäsche zu einem Bündel und legte es in den Wäschekorb. »Überall Nazis auf den Straßen in Wien«, sagte er. »Ganze Wagenladungen voll, sie brüllen und schwenken Fahnen, schlagen Juden zusammen.«
      »Wie in Deutschland.«
      »Schlimmer.« Er nahm sich ein frisches Handtuch aus dem Schrank.
      »Dabei waren die immer so gemütlich.«
      Er ging zum Bad.
      »Nicky.«
      »Ja?«
      »Komm, setz dich eine Minute zu mir, dann kannst du baden.«
      Er setzte sich auf die Bettkante. Cara drehte sich auf die Seite, zog die Knie an, holte tief Luft und atmete ganz langsam aus, froh, dass er endlich wieder daheim war. Geduldig wartete sie darauf, dass das, was sie ihn sehen ließ, seine Wirkung tat.
      Ach ja. Caridad Valentina Maria Westendorf (die Großmutter) de Parra (die Mutter) y Dionello. In ihrer vollen Lebensgröße von eins achtundfünfzig. Aus einer der reichsten Familien von Buenos Aires. An der Wand über dem Bett hing in einem glänzenden, zwanzig Zentimeter breiten Rahmen ein Akt von ihr, in Kreide, gezeichnet 1934 von Picasso in einem Atelier auf dem Montmartre.
      Draußen war die Straßenbeleuchtung erloschen. Durch den Musselinvorhang kam das ekstatische graue Licht eines regnerischen Pariser Morgens.

 

Morath lehnte sich in dem kühl werdenden Badewasser zurück, rauchte eine Chesterfield und streifte die Asche von Zeit zu Zeit in eine Perlmutt-Seifenschale ab. Cara, Liebste. Klein, vollkommen, durchtrieben, schlüpfrig. »Eine lange, lange Nacht«, hatte sie zu ihm gesagt. Sie hatte gedöst, war plötzlich aufgewacht vom Geräusch eines Autos. »Wie Pornofilme, Nicky, meine Phantasien, gute und schlechte, aber du bist in jeder Einzelnen vorgekommen. Ich hab gedacht, er kommt nicht mehr, ich will es mir selbst machen und dann schlafen wie ein Stein.« Aber sie hatte es nicht getan, behauptete sie jedenfalls. Schlechte Phantasien? Über ihn? Er hatte sie gefragt, aber sie hatte nur gelacht. Der Zuchtmeister? War es das? Oder der schreckliche alte Onkel Gaston, lüsternen Blicks in seinem seltsamen Sessel? Vielleicht etwas von de Sade - und nun wird man Euch in die Privatgemächer des Abtes geleiten.
      Oder, umgekehrt, was? Die »guten» Phantasien konnte man sich noch schwerer vorstellen. Der melancholische König? Bis heute Abend hatte ich keinen Grund zu leben. Errol Flynn? Cary Grant? Der ungarische Husar?
      Darüber musste er lachen, denn er war ja einer gewesen, allerdings nicht in einer Operette. Als Kavallerieleutnant der österreichisch-ungarischen Armee hatte er 1916 an der Ostfront, in den Sümpfen Polens, gegen Brussilows Kosaken gekämpft. Bei Lutsk, bei Kowel und Tarnopol. Er roch noch immer die brennenden Scheunen.
      Morath legte den Fuß auf den goldfarbenen Wasserhahn und betrachtete den rosaweiß gesprenkelten Streifen Haut vom Knöchel bis zum Knie. Das hatten Schrapnells angerichtet - eine verirrte Artilleriesalve, die von der Straße eines namenlosen Dorfes eine Schlammfontäne aufspritzen ließ. Bevor er ohnmächtig wurde, hatte er es noch geschafft, sein Pferd zu erschießen. Als er in einem Notlazarett aufwachte, sah er zwei Ärzte, einen Österreicher und einen Polen, mit blutverschmierten Lederschürzen. »Die Beine müssen ab«, sagte der eine. »Der Meinung bin ich nicht«, sagte der andere. Sie standen beiderseits des Holztisches in der Küche eines Bauernhauses und stritten sich, während Morath zusah, wie sich die graue Decke braun färbte.

 

Das Unwetter, das ihm quer durch Europa gefolgt war, hatte Paris erreicht, er hörte den Regen aufs Dach trommeln. Cara kam ins Bad getappt, steckte prüfend den Finger ins Wasser und runzelte die Stirn. »Wie hältst du das bloß aus?«, fragte sie. Sie stieg in die Wanne und setzte sich ihm gegenüber, lehnte sich mit dem Rücken an das Porzellan und drehte den Warmwasserhahn voll auf. Er gab ihr die Chesterfield, sie nahm vorsichtig einen Zug - sie rauchte eigentlich nicht - und stieß theatralisch den Rauch aus wie Marlene Dietrich. »Ich bin aufgewacht«, sagte sie. »Konnte nicht mehr einschlafen.«
      »Ist was?«
      Sie schüttelte den Kopf.
      Sie hatten wirklich lange gespielt - das war es, was sie am besten konnten -, Nachtliebe und Morgenliebe in einem, und als er das Zimmer verließ, hatte sie tief und fest geschlafen und mit offenem Mund laut und heiser geatmet. Aber nicht geschnarcht, denn sie schnarchte nie, sagte sie.
      Im Licht des weißen Badezimmers sah er, dass ihre Augen glänzten und ihre Lippen fest zusammengepresst waren - Porträt einer Frau, die nicht weinen will. Was war der Grund? Manche Frauen waren einfach traurig. Oder vielleicht war es etwas, was er gesagt oder getan oder nicht getan hatte. Die Welt ging vor die Hunde, vielleicht war es das. Um Gottes willen, hoffentlich nicht. Er streichelte die Haut von Caras Beinen, dort, wo sie ihn umschlangen. Es gab nichts zu sagen, und Morath hütete sich, es zu sagen.

 

Am Nachmittag ließ der Regen nach. Paris wirkte ein wenig triste in dem Geniesel, aber die Stadt war an Frühlingswetter gewöhnt und sah erwartungsvoll den Abenteuern des Abends entgegen. Graf Janos Polanyi - eigentlich von Polanyi de Nemszvar, doch außer auf Tischkarten bei diplomatischen Diners erschien der Name fast nie in dieser Form - wartete nicht mehr bis zum Abend mit seinen Abenteuern. Er war jetzt hoch in den Sechzigern, und die cinq-à-sept affaire entsprach dem Rhythmus seines Verlangens. Er war ein großer, schwerer Mann mit dichtem weißem Haar, das im Lampenlicht gelblich schimmerte, trug blaue Maßanzüge von Londoner Schneidern und roch nach Bayrum, das er mehrmals täglich verwendete, nach Zigarrenrauch und dem Burgunder, den er zum Mittagessen trank.
      Er saß in seinem Büro in der ungarischen Gesandtschaft, zerknüllte ein Telegramm und warf es in den Papierkorb. Jetzt würde es also tatsächlich passieren, dachte er. Ein Sprung in die Hölle. Und zwar richtig, mit Tod und Feuer. Er schaute auf seine Uhr, erhob sich vom Schreibtisch und ließ sich in einem Ledersessel nieder, der winzig wirkte unter den riesigen Bildnissen an den Wänden: zwei Arpadenkönige, Geza II. und Bela IV., der heroische Feldherr Hunyadi neben seinem Sohn Matthias Corvinus mit dem obligaten Raben. Alle mit Pelzen behängt und mit blitzendem Eisen bewehrt, mit langen Schwertern und hängenden Schnurrbärten, in Gesellschaft edler Hunde längst ausgestorbener Rassen. Die Galerie der Porträts setzte sich auf dem Flur vor seinem Büro fort, und es wären noch mehr gewesen, hätten die Wände mehr Platz geboten. Eine lange, blutige Geschichte und Maler ohne Zahl.
      5.20 Uhr. Sie kam wie immer ein wenig zu spät, gerade genug, um Erwartung zu wecken. Mit den zugezogenen Vorhängen lag der Raum fast im Dunkeln, nur eine kleine Lampe und das Kaminfeuer spendeten Licht. Musste ein Scheit nachgelegt werden? Nein, es würde reichen, und er hatte keine Lust zu warten, bis der Hausmeister die drei Stockwerke heraufstieg.
      Gerade als seine Augen zufallen wollten, klopfte es leise an der Tür, und Mimi Moux erschien, die chanteuse Mimi Moux, wie die Klatschkolumnisten sie nannten. Alterslos, zwitschernd wie ein Kanarienvogel, mit riesigen Augen und karminrot geschminkten Lippen - ein Theatergesicht -, kam sie hereingeschwirrt, küsste ihn auf beide Wangen und berührte ihn irgendwie, weiß der Himmel, wie sie es anstellte, an sechzehn Stellen zugleich. Ununterbrochen redend und lachend - man konnte sich am Gespräch beteiligen oder auch nicht, es spielte keine Rolle -, hängte sie ihr Nachmittags-Chanel in einen Schrank und flatterte in ihren teuren und angenehm anregenden Dessous durch den Raum.
      »Leg den Mendelssohn auf, meine Liebe, ja?«
      Die Arme in gespielter Keuschheit vor der Brust verschränkt, tänzelte sie zum Sekretär hinüber, auf dem ein Victrola stand, legte, ohne in ihrem Redefluss innezuhalten - »du kannst es dir vorstellen, wir standen da, angezogen für die Oper, es war schlechthin insupportable. Natürlich war das Absicht, so etwas unterläuft einem nicht aus Versehen, zumindest haben wir das gedacht. Trotzdem...« -, die Platte mit dem Violinkonzert auf den Teller, setzte den Tonarm auf, kehrte zum Ledersessel zurück und kuschelte sich in den geräumigen Schoß des Grafen Polanyi.
      Irgendwann, genau im richtigen Moment - neben einer Reihe anderer oft unterschätzter Vorzüge, dachte er, besaßen die Franzosen von allen Europäern den sichersten Sinn für den günstigsten Zeitpunkt - ließ sie sich vor dem Sessel auf die Knie nieder, öffnete mit einer Hand die Knöpfe seiner Hose und hörte endlich zu reden auf. Polanyi sah ihr zu, das Konzert war zu Ende, und die Nadel lief kratzend durch die leere Rille. Sein Leben lang, dachte er, hatte er Frauen Lust bereitet, jetzt war der Punkt erreicht, an dem sie ihm Lust bereiten sollten.
      Später, als Mimi Moux gegangen war, klopfte die Gesandtschaftsköchin leise an die Tür und brachte ein dampfendes Tablett herein. »Eine Kleinigkeit für Euer Exzellenz«, sagte sie. Eine Suppe von zwei Hühnern, mit Klößchen und Sahne, dazu eine Flasche 1924er Echézeaux. Als er gegessen hatte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und seufzte tief befriedigt. Jetzt, so fiel ihm auf, war sein Hosenschlitz zugeknöpft, aber der Gürtel und der Knopf am Bund waren offen. Eigentlich genauso gut, dachte er. Oder sogar besser?

 

Das Café Le Caprice versteckte sich im ewigen Dämmer der Rue Beaujolais, eher Gasse als Straße, hinter dem Park des Palais Royal und der Bibliothèque Nationale. Sein Onkel, das war Morath schon vor langer Zeit aufgefallen, lud ihn fast nie in die Gesandtschaft ein, sondern traf sich lieber mit ihm in merkwürdigen Cafés oder manchmal im Haus von Freunden. »Sei nachsichtig, Nicholas«, sagte er immer, »das erlöst mich für eine Stunde von meinem Leben.« Morath mochte das Le Caprice, es war überfüllt, schmuddelig und warm. Die Wände waren im neunzehnten Jahrhundert gelb gestrichen und von hundert Jahren Zigarettenrauch satt bernsteinfarben gebeizt worden.
      Um drei Uhr gingen die Mittagsgäste allmählich, und die Stammgäste stellten sich wieder ein und nahmen ihre Tische in Beschlag. Die verrückten Gelehrten, dachte Morath, die ihr Leben in der Bibliothek verbrachten. Sie waren triumphal verwahrlost. Uralte Pullover und schlabberige Jacken hatten die scheckigen Gewänder und spitzen Hüte der mittelalterlichen Alchimisten ersetzt, aber es waren dieselben Leute. Wenn Morath in diesem Café war, fiel ihm jedes Mal ein, was der Kellner, Hyacinthe, einmal über seine Klientel gesagt hatte: »Gott verhüte, dass sie es jemals finden.« »Was finden?«, hatte Morath begriffsstutzig gefragt. Hyacinthe war überrascht gewesen, fast beleidigt. »Nun, es, Monsieur«, hatte er gesagt.
      Morath setzte sich an einen Tisch, den gerade ein paar Makler frei gemacht hatten, die von der Börse herübergekommen waren, zündete sich ein Zigarette an, bestellte eine gentiane und richtete sich ein, auf seinen Onkel zu warten. Plötzlich hörten die Männer am Nachbartisch zu streiten auf, verstummten gänzlich und starrten auf die Straße hinaus.
      Ein schnittiger Opel Admiral war vor dem Le Caprice vorgefahren, der Fahrer riss die hintere Tür auf, und ein hoch gewachsener Mann in schwarzer SS-Uniform stieg aus, gefolgt von einem Mann in einem Regenmantel und von Onkel Janos. Der redete und gestikulierte, die beiden anderen hörten gespannt und mit erwartungsvollem Lächeln zu. Graf Polanyi hob den Zeigefinger und verzog theatralisch das Gesicht - offenbar war er bei der Pointe angelangt. Alle drei prusteten los, man hörte ihr Lachen sogar im Café, und der SS-Mann schlug Polanyi auf die Schulter - Der ist gut!
      Sie schüttelten sich zum Abschied die Hand, und der Zivilist und der SS-Mann stiegen wieder in den Opel. Das ist neu, dachte Morath. Man begegnete in Paris nur selten SS-Leuten in Uniform. In Deutschland waren sie natürlich allgegenwärtig, man sah es ständig in der Wochenschau: Sie marschierten, salutierten, warfen Bücher auf Scheiterhaufen.
      Moraths Onkel betrat das Café und sah sich nach ihm um. Jemand am Tisch nebenan machte eine Bemerkung, und einer seiner Freunde kicherte. Morath stand auf und umarmte seinen Onkel. Sie begrüßten einander - auf Französisch, wie immer in der Öffentlichkeit. Graf Polanyi legte Hut, Handschuhe, Schal und Mantel ab und packte alles auf den freien Stuhl. »Hmm, der ist gut angekommen«, sagte er. »Die beiden rumänischen Kaufleute.«
      »Den kenn ich noch gar nicht.«
      »Die beiden treffen sich zufällig in Bukarest auf der Straße, Gheorgiu trägt einen Koffer. 'Wo willst du hin?', fragt ihn Petrescu. 'Nach Cernauti', sagt sein Freund. 'Lügner!', ruft Petrescu. 'Du sagst, du willst nach Cernauti, damit ich denke, du fährst nach Jassy, aber ich hab deinen Bürodiener bestochen und weiß, dass du nach Cernauti willst'.«
      Morath lachte.
      »Kennst du von Schleben?«
      »Welcher war das?«
      »Der mit dem Regenmantel.«
      Hyacinthe erschien. Polanyi bestellte einen Ricon.
      »Ich glaube nicht«, sagte Morath. Er war sich nicht ganz sicher. Der Mann war groß, hatte helles, schütteres Haar, das er ein bisschen zu lang trug, und irgendetwas an seinem Gesicht wirkte koboldhaft; er hatte das durchtriebene Grinsen eines Spaßvogels, der anderen gern einen Streich spielt. Er sah gut aus und hätte den Freier - nicht den, der gewann, sondern den, der den Kürzeren zog - in einer englischen Salonkomödie spielen können. Morath hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. »Wer ist das?«
      »Er arbeitet im diplomatischen Bereich. Kein schlechter Kerl, alles in allem, irgendwann mache ich euch bekannt.«

 

Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein.
© Verlagsgruppe Random House, 2003
Alle Rechte vorbehalten!

 

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