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Jerome Charyn: Montezumas Mann

Eine Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Rotbuch Verlags.

 

1

Montezumas Mann Er stammte ab von den Nez Percé, wörtlich übersetzt Durchstochene Nase, einem Indianerstamm, der niemals Gefangene misshandelte noch die eigenen Leute im Stich ließ. Nach der widerrechtlichen Inbesitznahme von Stammesland in Idaho und Oregon durch Goldsucher und Spekulanten kam es 1877 zum Aufstand der Nez Percé, in dessen Verlauf ihr berühmtester Krieger, Chief Joseph, Frauen, Kinder und alte Männer beschützte. Joe Barbarossa war nach diesem, nicht aktiv am Kampf beteiligten Häuptling der Nez Percé benannt. Er hatte fünf oder sechs Großmütter gehabt, und sein Vater war ein Bigamist, der keine Frau lange halten konnte.
    Eine dieser Großmütter war die Tochter eines Indianermädchens, das mit Chief Joseph in die Berge geflohen war. Aber Joe konnte sich nicht an sie erinnern. Wegen der vielen Ehefrauen war er als Kind ständig weitergereicht worden. Joe war zu einem Drittel Ire, zu einem Drittel Italiener und zu einem Drittel Nez Percé mit einem Schuss afrikanischen Bluts.
    Aufgewachsen war er in Oregon, Kalifornien und in den Slumvorstädten von Illinois. In keinem Staat war er wirklich zu Hause. Das Licht der Welt erblickt hatte er in Oklahoma, aber sein Papa war nur auf der Durchreise. Er hatte einen kleinen Bruder gehabt, Lem, und einen ganzen Schwung Halbschwestern. Lem ertrank im Alter von neun Jahren. Eine seiner Halbschwestern, Rosalind, hatte Joe großgezogen. Roz selbst hatte nie eine eigene Kindheit gehabt, und sie machte einen Selbstmordversuch nach dem anderen. Die anderen Halbschwestern hatte Joe nie wirklich kennengelernt. Seine leibliche Mutter hatte er kaum zu sehen bekommen. Sie war lange tot. Irgendwann zwischen der sechsten oder siebten Ehe hatte sich Papa aus dem Staub gemacht und Joe verlassen. Roz war alles, was ihm an Familie geblieben war.
    Roz brachte ihn durch die Highschool und fand seine Geburtsurkunde, als Joe beschloss, zu den Marines zu gehen. Sie erfand ihm eine Vergangenheit, eine lückenlose Biographie, die er ohne sie nie besessen hätte. Joe ging nach Vietnam. Man schrieb das Jahr 1972. Er wurde zur amerikanischen Botschaft in Saigon abkommandiert. Er begann, mit Drogen zu handeln. Er freundete sich mit den Geheimagenten aus dem ersten Stock der Botschaft an. Er spielte Tischtennis mit ihnen und versorgte sie mit »Pharmazeutika«. Allerdings gab es rivalisierende Dealerbanden bestehend aus Soldaten wie ihm. Einige musste er töten, denn andernfalls wäre er selbst getötet worden. Er war einer der letzten Amerikaner, die Vietnam lebend verließen.
    In New York City wurde er Polizist. Er hatte jedoch kaum etwas gemein mit den anderen Cops oder Soldaten, die in Nam gedient hatten. Er hatte »Charlie« nie im Busch direkt gegenübergestanden. Saigon war wie eine Mischung aus Times Square und der Innenstadt von El Paso. Die Stadt war für ihn wie seine Kleinen Vereinigten Staaten gewesen.
    Manhattan tolerierte er. Joe verkaufte Drogen. Mehr als einmal wurde er von Dealern angeschossen, den gleichen Drogensoldaten wie in Nam. Doch anders als Joe trugen sie keine goldene Dienstmarke. Er nahm Straßenräuber und Banditen im F Train fest und schlug in der ganzen Stadt Leute zusammen. Doch weil Joe eine Spur zu unvorsichtig wurde und auch Dealer ausnahm, die dem FBI nahestanden, verbannte ihn der Police Commissioner Isaac Sidel, ins Eichhörnchenland, das Revier im Central Park.
    Joe hauste im Hinterzimmer eines Tischtennis-Clubs an der Columbus Avenue. Abgesehen von der früheren Wohnung seiner Schwester, die er nur als Briefanschrift benutzte und wo er nie schlief, war dies seine einzige Adresse. Hier bewahrte er seine gesamte Garderobe auf. Der Tischtennis-Club erinnerte ihn an die Spielhöllen Saigons. Der hinterste Tisch des Clubs diente Joe als Schreibtisch. Der Tisch war ausrangiert worden. Genau an diesem Tisch war Isaacs blauäugiger Junge, Manfred Coen, ermordet worden, abgeknipst von einem chinesisch-kubanischen Banditen. Schiller, dem der Club an der Columbus gehörte, hatte Coen geradezu abgöttisch geliebt. Er hatte Joe erlaubt, seine Geschäfte von diesem Tisch aus zu führen. Er stellte keine Vergleiche an zwischen Blue Eyes und Joe Barbarossa. Joe besaß auch nicht die gleiche aberwitzige Leidenschaft für Tischtennis.
    Joe trug einen weißen Handschuh an seiner Spielhand. Er hatte sich die Hand drüben in Saigon verbrannt. Bei einem Kampf mit einem Dealer war er auf eine heiße Herdplatte gestürzt. Die Hand war nie richtig verheilt. Die Haut schälte sich ständig und hatte eine permanent gräuliche Farbe. Joe zog jeden Tag einen frischen Handschuh an. Er saß hinter der Tischtennisplatte und war mit seiner Buchführung beschäftigt, als Schiller ihm von der Zuschauergalerie zubrüllte: »Telefon für dich.«
    Barbarossa brüllte zurück: »Falls es was Dienstliches ist Š Ich bin nicht zu Hause.«
    »Es ist deine Schwester, Joey.«
    Er löste das schnurlose Telefon aus der Halterung unter der Tischplatte. »Hallo, Roz.« Seine Hand zitterte. Er hörte das Klackern der Bälle von den anderen Tischen. Doch dann wurde es still im Club. Spieler und Kiebitzer respektierten seine Privatsphäre. Dabei wussten sie nicht einmal von seiner Schwester mit ihrem ausgeprägten Hang zu Selbstmordversuchen.
    »Ich werde heiraten, Joe.«
    »Wo und wann?«
    »Das ist kein Witz. Wenn ich einen Mann habe, kann er mich hier rausholen.«
    »Er würde nicht lange genug leben«, antwortete Joe.
    »Du bist ein gottverdammt bösartiger kleiner Dreckskerl Š Du sperrst mich hier ein, weil du nicht mal den Gedanken ertragen kannst, ich wäre mit einem Mann zusammen. Ich hasse dich, Joe, ich hasse dich aus tiefstem Herzen.«
    »Roz«, sagte er, »ich bin sofort bei dir.«
    Er klemmte das Telefon wieder in die Halterung. Es klingelte ihm in den Ohren. Die Hand unter dem Handschuh zuckte. An den anderen Tischen rührte sich nichts. Ihm brannten nahezu unerträglich die Augen.
    »Joey«, brüllte Schiller, »wann bist du zurück?«
    »Bald«, antwortete er. »Vielleicht nie.«
    »Was soll ich sagen, wenn jemand anruft?«
    »Sag, ich wäre verschwunden, dienstuntauglich. Sag einfach, ich wäre tot.«
    »Gott bewahre, Joey. Gott bewahre!«
    Vor dem Club stieg er in ein Taxi. Der Fahrer wollte ihn nicht nach Riverdale bringen. »Ich fahre nach Brooklyn, Jungchen.«
    »Nein, tust du nicht. Das ist ein Polizeieinsatz.«
    »Ja, klar doch«, meinte der Fahrer. »Heutzutage ist jeder ein Bulle.«
    Barbarossa knallte dem Fahrer seine goldene Dienstmarke unter die Nase. »Ich fresse Dienstmarken«, meinte der Fahrer trocken.
    Barbarossa musste seine Glock ziehen. Es war eine österreichische Handfeuerwaffe mit einem Plastikkorpus, durch den sie wie ein schickes Spielzeug aussah.
    »Scheißerbsenpistole«, schimpfte der Fahrer und musterte dann Barbarossas Augen.
    »Riverdale. Alles klar.«
    Er fuhr nach Westen auf den Express Highway, überquerte die Henry Hudson Bridge und bog in nördlicher Richtung auf die Kappock Street ab. Er fing an zu weinen. Barbarossa warf einen Blick auf den Namen auf seiner Taxilizenz: Leonard F. Furie.
    »Was ist los, Leonard?«
    »Sie werden mich umlegen, stimmt's? Sie suchen sich eine abgelegene Stelle. Und dann machen Sie mich kalt. Sie sind der Bronx Bandit.«
    »Ich bin ein Cop. Ich arbeite im Sherwood Forest Š das ist das Revier im Central Park.«
    »Sherwood Forest«, wiederholte der Fahrer, Leonard Furie, und wäre beinahe gegen einen Baum geknallt. »Ich kann nicht weiterfahren. Ich hab eine Scheißangst.«
    »Rutsch rüber, Leonard. Ich fahre.«
    Und Barbarossa musste aus dem Wagen springen, vorne einsteigen und Leonard am Steuer ablösen. Er holperte die Palisade Avenue entlang und beobachtete Leonard im Innenpiegel. »Falls du irgendwelche Dummheiten versuchst, breche ich dir das Genick.«
    Sie erreichten eine von Mauern umgebene Villa neben dem Hebrew Home for the Aged, einem jüdischen Altersheim. Die Villa besaß keinen Briefkasten, nicht einmal ein schlichtes Schild. Barbarossa stieg aus und reichte Leonard zwei Zwanzigdollarscheine, die Leonard jedoch nicht annehmen wollte.
    »Sie sind der Bronx Bandit, stimmt's?«
    »Ja, Leonard. Das ist meine große Leidenschaft. Taxifahrer umlegen.«
    Und Barbarossa marschierte durch eine winzige Öffnung in der zur Straße gelegenen Mauer der Villa. Er hatte das Gelände eines Sanatoriums betreten, dem Diskretion über alles ging. Es hieß Macabee's. Aber es stand in keinem Telefonbuch. Macabee's betrieb keinerlei Werbung. Hier kümmerte man sich um alkoholabhängige Senatoren und Filmstars, manisch-depressive Millionäre und Schwestern mit Selbstmordtendenzen. Barbarossa gehörte nicht zur üblichen Aristokratie, aber er hatte gute Beziehungen zum Justizministerium. Sein Kontaktmann hieß Frederic LeComte. Und LeComte hatte ihm die Türen zu Macabee's geöffnet.
    Barbarossa war ein Kriminalbeamter mit einem Jahresgehalt von rund fünfzigtausend Dollar. Und für das Sanatorium zahlte er jährlich mehr als hunderttausend. Er verkaufte Drogen. Aber er war fast so arm wie Isaac Sidel. Er musste Kleidung für Roz kaufen und all den Champagner bezahlen, den sie im Macabee's trank.
    Er ging zu ihrem Zimmer hinauf und klopfte zweimal. »Roz, ich bin's.«
    »Moment«, sagte sie. »Ich bin noch nicht ganz soweit, Joe.«
    Wieder zuckte seine Hand unter dem Handschuh. »Komm rein«, rief sie.
    Und sein Herz machte einen verrückten Sprung, als er sie dort auf dem Bett sitzen sah. Ihr blondes Haar wurde an den Wurzeln weiß. Roz war einundvierzig und sah aus wie ein kleines, alterndes Mädchen, das hinter den Mauern von Macabee's eingesperrt war.
    »Joey, ich hätte nicht so einen Wirbel machen sollen. Ich heirate niemanden. Wer würde mich denn schon heiraten wollen? Ich lebe in einem Gefängnis ohne Gefängniswärter Š Ich hätte gern einen Job, Joe.«
    »Was sollte das denn wohl sein?«
    »Menschen angreifen. Ihnen die Augen auskratzen.«
    Er musste mit der Linken seine behandschuhte Rechte festhalten, damit sie nicht zitterte.
    Sie lächelte ihn an. »Ich könnte deine Komplizin sein, Joe.«
    »Roz«, sagte er. »Wem habe ich in letzter Zeit die Augen ausgekratzt?«
    »War nur so eine Idee. Wenn ich den anderen Patienten erzähle, dass mein Bruder Polizist ist, fangen die an zu kreischen: 'Das kann nicht sein, meine Liebe. Das Macabee's ist viel zu teuer.'«
    »Ich verdiene noch was nebenher«, sagte er.
    Sie lachte. »Würdest du für mich töten, Joey?«
    »Wenn ich müsste.«
    »Ich war keine besonders gute Mutter«, sagte sie.
    »Du bist nicht meine Mutter. Du hast dich um mich gekümmert, Schwesterchen. Du hattest keine andere Wahl.«
    »Ich hätte deinen Kopf in die Badewanne drücken und meinen kleinen Bruder ersäufen können.«
    »Du hast mir ja nicht mal den Hintern versohlt, Schwesterchen.«
    »Aber ich habe dran gedacht, dich zu ersäufen. Nur, welche Freiheit hätte mir das gebracht? Ich habe gut ausgesehen. Da waren etliche Männer, die mich aushalten wollten, wenn ich mich auf sie eingelassen hätte Š Ich hätte dich ersäufen können, Joey.«
    »Ja«, erwiderte er. »Und ich hätte mit dem Mann im Mond Tischtennis spielen können Š oder Kaiser von Saigon werden.«
    »Du warst der Kaiser. Du hast der Frau des Botschafters Haschisch verkauft.«
    »Hab ich nicht«, sagte er.
    »Du dealst doch immer noch, Joe. Eines schönen Tages werden sie dich wie einen Hund abknallen. Die werden dich abknallen, und ich muss dich dann beerdigen. Ich will meinen Bruder nicht beerdigen.«
    »Ich bin ja noch da, Schwesterchen.«
    »Wie oft bist du verwundet worden?«
    »Das ist nicht dasselbe wie tot zu sein.«
    »Natürlich nicht. Eine Kugel in die Schulter. Eine Kugel unters Herz. Eines kommt zum anderen. Ich werde nicht deine Witwe sein, Joey. Dafür habe ich viel zu hart gearbeitet.«
    Sie fing an, ihre Handfläche zu kratzen, die von früheren Kratzattacken völlig vernarbt war.
    »Schwesterchen, ich hole dich hier raus. Dann leben wir zusammen.«
    »Du hast deine kleine Höhle in einem Tischtennis-Hotel. Ich bin nur eine Belastung, Joey. Ich gehöre hierher.«
    Er packte ihre Handfläche mit seiner behandschuhten Hand, damit sie sich nicht weiter kratzen konnte. Sie schlief an seiner Schulter ein. Er wiegte sie sanft und streichelte ihre Haarwurzeln. Behutsam legte er ihren Kopf aufs Kissen, blieb bei ihr sitzen und beobachtete die kaum merklichen, feuchten Bewegungen ihrer Lippen.
    Er ging nach unten. Er wusste, dass irgendwo Krankenschwestern sein mussten. Sie achteten darauf, dass keine scharfen Gegenstände in Roz' Reichweite waren, und erlaubten ihr nicht einmal Schnürsenkel. Wenn sich eine Krise anbahnte, schienen sie wie aus dem Nichts aufzutauchen. Doch jetzt konnte er weder einen Arzt noch eine Pflegerin finden. Nie belästigte ihn jemand wegen der Rechnungen. Einmal im Monat klopfte er an die Tür der Finanzverwalterin und beglich seine Schulden in bar. Er fragte nie nach einer Quittung.
    Vor der Mauer wartete ein Taxi auf ihn. Das Macabee's sah all seine Gesten, all seine Schritte voraus. Barbarossa stieg in den Wagen. Himmel, es war derselbe gottverdammte Fahrer.
    »Ich bin hier so durchs Viertel gekurvt«, meinte Leonard Furie. »Dann hab ich über Funk die Bestellung reinbekommen. Es ist ein Pflegeheim. Das Macabee's. Es ist eine Einrichtung für die Crème de la crème. Š Tut mir leid. Ich hätte nicht so ausflippen dürfen. Sie sind nicht der Bronx Bandit.«
    »Und was, wenn doch?«, fragte Joe und dachte an Roz in ihrem Gefängnis ohne Gefängniswärter.
    Und Leonard F. Furie fing an zu lachen.

 

Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger.
© Rotbuch Verlag, 2001

 

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