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Bill Moody: Auf der Suche nach Chet Baker

Eine Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Unionsverlags.

 

Auf der Suche nach Chet Baker Mittwoch, 11. Mai 1988, Rotterdam
Der Alfa Romeo ist schon wieder weg. Chet wandert durch die Nacht, das Gebiss tut ihm weh, er ist niedergeschlagen, und er denkt sich, dass er vielleicht eine Weile nach Hause fahren sollte, nach Oklahoma, zu seiner Familie, seinen Freunden. Diane hat ihn auch verlassen. Er ist wieder einmal auf der Polizeiwache, von wo aus er seinen Agenten anruft.
      »Bleib, wo du bist, Chet«, sagt der. »Ich schicke jemanden, der dich abholen kommt. Ich habe etwas organisiert, wo du bis zum Konzert am Donnerstag wohnen kannst.«
      »Okay«, erwidert Chet. Er legt auf und wartet draußen, läuft auf und ab, es juckt ihn. Er denkt, er würde gerne spielen. Der Fahrer des Wagens erweist sich als Freund des Agenten. Er fragt Chet, wohin er möchte.
      »Ich brauche was«, sagt Chet.
      »Ich werde es versuchen«, sagt der Mann. Sie fahren zu dem Haus. Da ist ein anderer Mann, den Chet zu kennen meint. Sie reden, aber Chet kann nicht still sitzen, hält es kaum noch aus, wartet auf seinen Schuss, aber nichts passiert. Chet will spielen, also fahren sie alle rüber zum Dizzy Jazz Café und gehen hinein. Keiner bemerkt ihn, als er mit der Trompete unter dem Arm hereinkommt.
      Bad Circuits spielt an dem Abend, eine Art Fusion-Band, aber der Pianist ist gut, sagt sich Chet, nachdem er ein paar Minuten lang zugehört hat. Chet taucht plötzlich wie eine Erscheinung an der Bühne auf, ohne zu ahnen, wie schlecht er aussieht. Auf einmal steht er neben dem Klavierspieler und bemerkt nicht die Verblüffung, die sich auf dem Gesicht des jungen Musikers abzeichnet, als er Chet erkennt. »Darf ich?«, fragt Chet.
      »Ja, natürlich.« Der Pianist wirft dem Bassisten und dem Schlagzeuger einen Blick zu, die Chet mit seiner stillen Art jetzt ebenfalls bemerkt haben.
      Sie spielen zwei Stücke. Bei dem zweiten, »On Green Dolphin Street«, wird der Pianist nervös - neben ihm steht Chet Baker -, aber er gibt sein Bestes, sich Chets Spielweise anzupassen. Doch selbst das hilft nicht - Chet hat keine Kraft. Die Töne, die er anpeilt, trifft er nicht, und er spielt so leise, dass der Schlagzeuger sich bemühen muss, ihn überhaupt zu hören. Der Saxofonist ist nicht beeindruckt. Es klappt einfach nicht. Chet nimmt die Trompete von den Lippen, lächelt dem Pianisten ein Dankeschön zu und ist so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht ist. Er kennt das Lied an sich so gut, doch heute Nacht ist es ihm völlig fremd.
      »Wir sehen uns dann bei euch«, sagt er zu seinen zwei Begleitern. Sie wissen, dass es sinnlos ist, ihn aufhalten zu wollen. Draußen auf der Straße bleibt er stehen, weil er unsicher ist, was er jetzt tun soll. Wieder läuft er ziellos herum, findet sich in einem Café wieder und denkt nur, dass er zurück nach Amsterdam muss, sich einen Schuss besorgen, wieder auf die Beine kommen, sich fertig machen für das Konzert mit - sagte der Agent Archie Shepp?

 

Donnerstag, 12. Mai 1988, Amsterdam
Es ist spätnachmittags, als er aus dem Zug steigt und sich den Weg durch den Hauptbahnhof bahnt. Er hat den Großteil des Tages in Rotterdam verschlafen, aber jetzt kann er nicht mehr. Heute Abend mit Archie Shepp - aber zuerst muss er eine Connection finden, dann ein Hotel. Er geht auf den Zeedijk, schafft es, etwas zu kaufen, hört dann, dass jemand nach ihm sucht, jemand, den er meiden sollte, außer er hat Geld. Er weiß nicht mehr, wer das ist. Das Einzige, was ihn interessiert, ist, ein Hotelzimmer zu besorgen und sich den Schuss zu setzen.
      Er versucht es bei den üblichen Absteigen, aber es ist schrecklich viel los - irgendein Feiertag, wie er hört -, und alle Hotels sind voll. Schließlich fragt er in der Nähe des Bahnhofs, wo der Verkehr an ihm vorbeirauscht und von allen Seiten Straßenbahnen drohend auf ihn zusteuern, beim Prins Hendrik nach. Ja, sie haben noch ein Zimmer, im ersten Stock.
      Er mietet das Zimmer, setzt sich seinen Schuss und verspürt die Erlösung an diesem außergewöhnlich warmen Abend, als die Mischung aus Kokain und Heroin endlich das schreckliche Verlangen stillt. Er ruft ein paar Leute an und geht dann in die Altstadt, läuft auf dem Dam herum und lässt sich von den Drogen wärmen, während die Sonne über Amsterdam untergeht.
      Wieder auf seinem Zimmer, raucht er, wählt Nummern, stellt den Fernseher an und sieht zu, wie sich die Dunkelheit über die Stadt senkt. Er spielt ein bisschen, öffnet das Fenster mit einiger Anstrengung und setzt sich aufs Fensterbrett. Von oben beobachtet er die Straße, lehnt sich hinaus, um die Gracht zu sehen, und winkt lächelnd einem jungen Mädchen auf einem Fahrrad zu, aber sie winkt nicht zurück, sie bemerkt ihn nicht. Als er das Mädchen sieht, muss er an Diane denken, so viel Schmerz, und fragt sich, wie lang er noch mit diesem Gebiss spielen kann.
      Er sollte den Veranstalter anrufen und ihm sagen, wo er ist. Da ist doch das Konzert mit Archie Shepp. Sie werden auf ihn warten, aber er hat gar nicht mehr dran gedacht. Es ist ja noch Zeit. Es bleibt immer noch Zeit, aber jetzt ist es sehr dunkel, lange nach Mitternacht.
      Er hat jedes Zeitgefühl verloren, und jetzt ist Freitag der Dreizehnte. Er lehnt sich weiter hinaus, nickt ein wenig ein. So sollte es doch nicht enden.
      Hört er da etwas hinter sich, eine Stimme, hat er das Gefühl, dass ihn jemand stößt, oder ist es nur Einbildung?
      Und dann spielt plötzlich alles keine Rolle mehr. Er fliegt, und das Kopfsteinpflaster der Gasse stürzt ihm entgegen.

 

Aus dem Amerikanischen von Anke Caroline Burger.
© Unionsverlag, 2004
Alle Rechte vorbehalten!

 

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