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Nachwort zu Ross Thomas: Am Rand der Welt (Out on the Rim, 1986)

Von Thomas Wörtche

 

Am Rand der Welt

Viele Polit-Thriller spielen vor dem Hintergrund geschichtlich bewegter Zeiten. Manche Polit-Thriller spielen mit den realen Gegebenheiten von Ort und Zeit. »Am Rand der Welt« oder, umgangssprachlich-salopper »Out on the Rim« (so der Originaltitel) von Ross Thomas ist ein Musterbeispiel für letzteres.

Die Gegenwart, die erzählte Zeit, ist penibel definiert: Der Roman spielt vom 15. März 1986, 15:00 h bis zum 16. Mai 1986, 12:45 h. In dieser Zeitspanne versuchen die fünf "Helden", die mehr oder weniger liebenswerten Gauner Booth Stallings, Otherguy Overby, Georgia Blue, Artie Wu und Quincy Durant fünf Millionen US-Dollar in ihren Besitz zu bringen. Fünf Millionen Dollar, die angeblich von einer Gruppe "Investoren" bezahlt werden, um einem alten kommunistischen Guerilla-Führer auf den Philippinen den Ruhestand in Hongkong zu finanzieren. Man will, heißt es, den Rücken frei haben, für neue Investitionen, nach dem der Diktator Ferdinand E. Marcos endlich am 26. Februar 1986 von US-Hubschraubern ins Exil geflogen worden war. Corazón Aquino, die Lieblingskandidatin des "Parlaments der Straße", eines breiten Oppositionsbündnisses, wird daraufhin Präsidentin. Sie ist die Witwe von Beningo "Ninoy" Aquino, einem alten Rivalen von Marcos, den dieser mit sanfter Unterstützung der CIA 1983 hatte ermorden lassen, denn die Reagan-Administration... aber halt!

Man sieht schon - alleine bei der Skizze der Roman-Handlung, die ungefähr acht Wochen umfasst, muss eine ganze Menge Zeitgeschichte einfließen muss, um die realen Bezüge des Plots plausibel darstellen zu können. Und auch eine ganze Menge Geschichte, denn die Wurzeln des Romans liegen im Jahre 1944.

Ab dem 26. Dezember 1944 landeten US-Truppen auf dem Archipel namens Philippinen, der aus mehr als 7000 Inseln besteht. Mit dabei damals nicht nur unser Autor, Ross Thomas, der bei einer Aufklärungseinheit der Infanterie Dienst tat, sondern auch Booth Stallings, der in diesem Roman ein klein wenig als das alter ego des Ross Thomas von 1944 gelten darf. Der reale Private Thomas und der fiktive Second Lieutenant Stallings kooperierten mit philippinischen Guerilleros, die während der japanischen Besatzungszeit die Philippinen zu einem sehr unruhigen Teil der "Großostasiatischen Wohlstandssphäre" (so lautete der propagandistische Euphemismus für Japans Eroberungen im pazifischen Raum) machten. Alejandro Espiritu, der alte Kommandeur mit der ambitionierten jungen Gattin aus dem Roman, führt inzwischen die NPA. Diese New People's Army ist der keinesfalls fiktive militärische Ableger der CPP, der Communist Party of the Philippines - und die wiederum ist eine Abspaltung der realiter 1948 verbotenen Partido Komunista ng Pilipinas, PKP. Und damit uns jetzt endgültig der Kopf brummt, müssen wir noch die Huk ins Spiel bringen. Die heißt recht eigentlich Hukbo ng Bayan Laban sa Hapon, kurz: Hukbalahap oder eben Huk. Und war zunächst einmal die "antijapanische Volksbefreiungsarmee", die dafür sorgte, dass die Japaner zu keiner Zeit seit ihrer Invasion 1941 den ganzen Archipel wirklich im Griff hatten.

Um die Feinheiten des Misstrauens zwischen Filippinos und Amerikanern im Kontext des 2. Weltkrieges zu verstehen, das im Roman das Verhalten Espiritus verständlich macht, müssen wir aber noch weiter zurück. 1941 hatten die unvorbereiteten Amerikaner dem Angriffsschwung der kaiserlich japanischen Streitkräfte wenig entgegenzusetzen. Der Widerstand auf den Philippinen war (ähnlich wie das Singapur-Debakel der Briten) vor allem gekennzeichnet durch unangemessene Selbstüberschätzung, Dünkel und Inkompetenz. Gebündelt alles in der Gestalt des Oberkommandieren Douglas MacArthur, der sich flugs mit den entscheidenden Leuten der philippinischen Marionetten-Regierung und der amerikanischen Kolonialverwaltung nach Australien absetzte. Zurück blieben schlecht ausgerüstete US-Truppen und "reguläre" philippinische Einheiten, die gegen die japanische Militärmaschinerie im konventionellen Kampf hoffnungslos unterlegen waren. Bei dem berühmten "Todesmarsch" von Bataan, einem der vielen japanischen Kriegsverbrechen, kamen über 10.000 Amerikaner und ungleich mehr Filippinos ums Leben. Wie überhaupt die Zivilbevölkerung in einem Krieg, der nicht der ihre war, ungefähr 1,2 Millionen Tote zu beklagen hatte. Manila war, nach Warschau, die Hauptstadt mit den größten Kriegszerstörungen durch Kampfhandlungen (nicht durch Luftangriffe wie Hiroshima, Nagasaki und Dresden). Die Re-Invasion 1944/45, unter großem Propaganda-Getöse und lauthalser Ego-Show ("I shall return") von Douglas MacArthur wäre ohne den Beitrag der Huk, die immerhin 250.000 Kämpfer gegen die Besatzer aufboten, noch bedeutend schwieriger und zäher verlaufen, als sie eh schon de facto von statten ging. Damit nicht genug: Nach dem Krieg verweigern die USA den Mitgliedern von Guerilla-Organisationen und auch Mitgliedern der regulären philippinischen Streitkräfte entgegen aller Vereinbarungen und entgegen aller Versprechungen jede Art von Pensionen, Entschädigungen etc. Die Rückeroberung der Philippinen wird zur persönlichen Heldensaga von MacArthur und dem "guten Krieg" der USA. Mehr noch - der in der 1984 veröffentlichten, höchst renommierten militärhistorischen Publikationsreihe » West Point Military History Series« erschienene Band »The Second World War - Asia and the Pacific« (ed: Thomas E. Griess) bringt es fertig, bei der Darstellung der Kriegshandlungen auf den Philippinen den Anteil der Guerilla praktisch auf Null zu reduzieren. Nur in den Memoiren des MacArthur-Untergebenen General Walter Kruegers (»From Down Under to Nippon«, 1953) scheinen die irregulären Kombattanten überhaupt vorzukommen. In einer resümierenden Fußnote tritt der West-Point-Band sogar noch nach: Man könne, heißt es dort auf S. 202, den Beitrag der Guerilla im Zusammenhang des Erfolges der alliierten Kampagne auf den Philippinen zwar nicht übersehen, aber gerade wenn sie eine ideologische Ausrichtung hatten (wie die Huk) dann machten sie mehr Probleme, als sie wert waren.

Dieser kaltschnäuzige offizielle Zynismus der Amerikaner spiegelt sich in der Anlage der Figur Espiritu in jeder Nuance. Mehr noch: Auch hier baut Ross Thomas eine Bedeutungsebene ein, die uns noch tiefer in die amerikanisch-philippinische Geschichte zieht.

An ausgewählten Schlüsselstellen wird der aufmerksame Leser auf den Namen Aguinaldo stoßen. Meistens mit einem nicht näher explizierten Verweis auf die philippinische Geschichte und einer nicht allzu ausgefalteten, eher angedeuteten Parallele zu Alejandro Espiritu. Tatsächlich erlaubt sich Ross Thomas maliziöserweise, Espiritu als eine Art symbolische Wiedergänger von Emilio Aguinaldo y Famy zu inszenieren, up to a point.

Seit 1565 sind die Philippinen spanische Kolonie. Aufgefallen waren sie vorher besonders 1521, weil in diesem Jahr der berühmte Entdecker Fernão de Magalhães, bekannter als Ferdinand Magellan, von dem heute noch verehrten Stammeshäuptling Lapu-Lapu zu Tode gespießt wurde, nachdem Magellans Expedition gemordet und gebrandschatzt hatte. Die spanische Herrschaft brachte alle bekannten Folgen - Ausbeutung, Verelendung, religiöse Unterdrückung. Erst als Spanien selbst Mitte des 19. Jahrhunderts in den Sog von Liberalisierungen und verspäteter Aufklärung gerät, formiert sich auch auf den Philippinen breiter organisierter Widerstand. Auch wenn Teile dieses Widerstandes eher gemäßigt waren, schlugen die Kolonialherren immer wieder hart zu, am Bekanntesten vielleicht bei der Hinrichtung des Literaten José Rizal, der gewaltfrei mit satirischen Schriften die Zentralmacht der Lächerlichkeit preisgab. Aus diesen gärenden Jahrzehnten, in denen sich ein aufständischer Geheimbund, der sogenannte "Kapitunan" formierte, wuchs der 1869 geborene Emilio Aguinaldo heran und wurde zunehmend politisch aktiv. Die Auseinandersetzung zwischen Bevölkerung und Kolonialmacht (die weit komplizierter und multi-fraktioneller war, als ich es hier auch nur skizzieren kann) verschärfte sich zunehmend, bis es 1896 zu ernsthaften, bürgerkriegsähnlichen bewaffneten Auseinandersetzungen kam. Die Spanier sind auf dem Rückzug, 1898 kontrollieren sie nur noch den Großraum um Manila auf Luzon.

Jetzt greift die Weltpolitik in den regionalen Konflikt ein: Die USA hatten im spanischen-amerikanischen Krieg - eine zutiefst imperialistische Veranstaltung mit nur sehr notdürftiger anti-kolonialistischer Legitimierung -, die spanische Flotte vor Havanna vernichtet und sich Kuba einverleibt (oder von den Spaniern "befreit"). Jetzt schlagen sie auch in der Manila Bay zu und versenken die spanische Flotte dort. Just in diesem Moment nehmen Aguinaldos Truppen Manila ein und er ruft am 12. Juni 1898 die Republik aus. Übrigens ist diese die erste Republik überhaupt, die sich in Asien konstituiert. Aber dumm gelaufen. Gleichzeitig hatte Spanien im Friedensvertrag von Paris die Philippinen für 20 Millionen Dollar an die Vereinigten Staaten von Amerika verkauft. Um präzise zu sein: Guam und Puerto Rico waren auch im Paket; Kuba ist ein anderes Kapitel. Eine philippinische Republik war in den amerikanischen Plänen nicht vorgesehen. Stephen Kinzer hat in seinem großartigen Buch »Putsch! Zur Geschichte des amerikanischen Imperialismus« gezeigt, wie sehr die Philippinen nach Hawaii Teil der amerikanischen Expansionsstrategie im Pazifik waren, als "Stützpunkt zum Tor im Osten", wie es Senator Albert Jeremiah Beveridge 1900 frank und frei formulierte. Bei Präsident William McKinley hörte sich das 1898 noch bedeutend heuchlerischer an - er sprach von der mühevollen Pflicht, die "Filipinos zu erziehen, sie emporzuheben, zu zivilisieren und zu christianisieren und mit Gottes Gnade das Beste für sie zu tun wie für unsere Mitchristen, für die Christus ebenso gestorben ist." Nach diesen schönen Nachtgedanken befahl er am nächsten Morgen, "die Philippinen auf die Landkarte der Vereinigten Staaten zu setzen." Die von Aguinaldo (den man in seinem Kampf gegen die Spanier natürlich unterstützt hatte) ausgerufene Republik störte, die USA erkannten sie nicht an und so entbrannte sofort der nächste Krieg: Ein Kolonialkrieg, mit allen Scheußlichkeiten, einschließlich genozidartigen Massakern an der Bevölkerung, für die vornehmlich die Generäle John F. Pershing - der Namengeber der Pershing-Raketen am Ende des Kalten Krieges- und Jacob "Bloody Jake" Smith verantwortlich waren. Ein schmutziger Anti-Guerilla-Krieg, sowie später Espiritu ihn gegen die Japaner und die jeweiligen Nachfolge-Regime führen sollte. De facto schleppte sich dieser Krieg bis 1916 hin, aber schon 1901 wurde Emilio Aguinaldo als Präsident der Unabhängigen Philippinischen Republik von den Amis gefangengenommen bzw. von interessierten eigenen Leuten ausgeliefert. Dann kam die überraschende Volte in der Realität, die man in unserem Roman vom alten Guerilla-Kämpfer nicht wirklich erwartete: Aguinaldo "lief" zusagen zu den Amerikanern über und erkannte ihre Herrschaft über die Philippinen an. Von einer gewissen Ironie ist, dass Aguinaldo sich von den USA alimentieren und damit ruhig stellen ließ, dann aber mit den Japanern kollaborierte, sich wieder mit den Amis gütlich einigte und als "Volksheld" hochbetagt mit 95 Jahren in den Sielen starb.

Wichtig für uns ist, dass Ross Thomas dieses Vexierspiel Aguinaldo/Espiritu nicht nur aus Jux und Dollerei treibt, sondern damit auf die aktuellen Befindlichkeiten und Gegebenheiten der Philippinen im Jahr 1986 abhebt. In einem sehr süffisanten Gespräch zwischen Quincy Durant und einer namenlosen Dame, in der wir durchaus Corazón Aquino erkennen dürfen und sollen, wird Espiritu beiläufig zum Tode verurteilt und damit die fünf Millionen Dollar, die er für's friedliche Exil erhalten soll, an unsere Gentleman-Gangster verschachert. Und nebenbei entzaubert der realpolitisch mit allen Wassern des Zynismus (oder der moralischen Verzweiflung) gewaschene Ross Thomas Corazón Aquino als selbstlose Retterin und reinliche Strahlefrau. Sie verliert fast exempelhaft in dieser Szene ihre politische Unschuld. Ein Plot-Element, das ohne die präzise Situation im späten Frühjahr 1986 nicht funktionieren würde.

Frau Aquino ist seit Februar im Amt. Auch wenn sie noch Rückhalt in der Bevölkerung hat - sie ist dennoch und grundsätzlich Mitglied des Aquino-Clans, der gerade den Marcos-Clan abgelöst hat, sowie später dann der Ramos-Clan und die Macapagal-Arroyos die Aquinos ablösen sollten. Tatsächlich wird das politische und wirtschaftliche Schicksal der Philippinen von den Anfängen bis heute von ca. 15 Familien-Clans beherrscht. Heute sind wieder die Aquinos in Person von Benigno Aquino III. an der Reihe. Manche Clans gingen dezenter zu Werke, manche robuster bis exzessiv - im Falle Marcos spricht man immerhin von bis zu hundert auf die Seiten geschafften Milliarden Dollares. Aber strukturell nehmen sich die Clans wenig. Machtpolitik auf den Philippinen ist Balancepolitik. Wer dominiert das Militär? Wer dominiert die Polizei? Die Finanzen? Noch herrscht Kalter Krieg, noch herrscht Reagan, noch ist Anti-Kommunismus Doktrin, Sympathien mit dem Reich des Bösen noch nicht ganz vermittelbar. Corazón Aquino und ihre Leute können sich noch nicht sicher fühlen; ein Militärputsch liegt immer im Bereich des Möglichen. Der erste Versuch kommt dann auch prompt im Juli des Jahres.

Insofern hat die Aquino-Regierung jeden Grund, die Finanzierung oder auch Alimentierung kommunistischer Elemente zu scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Und selbst wenn man den Versuch der alten Marcos-Clique, wie im Roman suggeriert, unterläuft, eine terroristische Bedrohung zu inszenieren und dann darauf zu reagieren, so wäre es für alle Beteiligten besser, der ausgewählte Störenfried wäre tot. Was sind dagegen fünf Millionen? Oder meinethalben auch 20 Millionen, denn Ross Thomas bringt diese Summe des Kaufpreises von 1898 boshafterweise in dem einen oder anderen Dialog unter.

Ein letztes sei noch angemerkt: Ross Thomas, der die politischen Gegebenheiten seines Romans virtuos zu konstitutiven Teilen des Plots macht, ist bei aller Realitätstüchtigkeit des Polit-Profis, der er auch war, keinesfalls positionslos. Dass es darum geht, die Philippinen "auszulutschen", wenn - egal, von wem und für was - fünf Millionen Dollar einfach so platziert werden, dann machen seine Figuren dem Leser klar: wer immer die Macht auf den Inseln hat, bereichert sich enorm auf Kosten des Volkes. Das gilt 2012 genauso wie 1986 wie 1898. Dass der Kalte Krieg auch nur ein Vorwand für profitablere Geschäfte ist, demonstriert der Roman lässig am Umgang mit der nicht allzu intelligenten CIA, die, so wie wir heute aus den Studien von Tim Weinert, Robert Baer und anderen wissen (und schon damals mehr als geahnt hatten), gerade in der Ronald Reagan/George Herbert Walker-Bush-Ära sehr unter dem Primat der Ideologie stand. Artie Wu und Quincy Durant lassen die Geheimdienstler aussehen wie Deppen, worin wir durchaus auch einen sehr präzise auf die Zeit bezogenen Kommentar von Ross Thomas sehen dürfen.

Vermutlich muss man all das nicht wirklich wissen, um an dem Roman seine Freude zu haben. Aber dennoch - so einfach ist Ross Thomas nicht gestrickt, dass man voraussetzungslos den vielen intelligenten Turns und Twists des Plots folgen könnte. Sie sind nun einmal kunstvolle Spiele mit der Realität. Zumal die genauere Einsicht in Faser und Textur seines Romans schlichte Bewunderung für das feinmechanische Können und die Artistik eines großartigen Romanciers hervorrufen kann. Man hat an "Am Rande der Welt" einfach noch mehr Freude, je genauer man versteht, warum Ross Thomas was wie gemacht hat.

 

Ross Thomas: Am Rand der Welt. (Out on the Rim, 1986). Ein Artie-Wu-und-Quincy-Durant-Fall. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Behrens, bearbeitet von Gisbert Haefs und Anja Franzen. Mit einer Krimi-Analyse von Thomas Wörtche. Hamburg: Zeitverlag Bucerius, 2012, Die Zeit - Politthriller Bd. 12, 329 S., 9.95 Euro (D).

© Thomas Wörtche, 2012

 

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