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Der Stand der Dinge

Kurzvortrag als Diskussionsgrundlage zum Thema: "Der Stand der Dinge", während der Tagung
"Evidenz Identität Fiktion. Der Krimi als Wissensgeschichte und Kulturanthropologie".

Von Thomas Wörtche

 

Sehr geehrte Damen und Herren,
wenn ich über den Stand der Dinge bezüglich der Kriminalliteratur etwas sagen soll, dann hören Sie mich zunächst einmal seufzen: Ach! Denn bevor wir über den Stand der Dinge reden, müssen wir erst mal rausfinden, welche Dinge wir meinen:

Evidentermaßen ist "Krimi" - vermutlich in seiner Exklusivität einmalig in der Literaturgeschichte - im Moment das Über-Genre generell wie noch kein anderes je... wenn jedes dritte verkaufte Buch ein "Krimi" oder krimi-affin ist und weit über 30 Krimi-Serien täglich im TV zu sehen sind und Krimi-Hörspiele im Radio epidemisch sind, auf jedem Spree-Ausflugsdampfer Krimi-Dinners angeboten werden und so weiter und so fort, dann besteht kaum die Chance, diese Massen von Material, diese Tsunamis von Narrativen auch nur einigermaßen in den Griff und argumentativ strukturiert zu bekommen - deswegen muss ich jetzt sehr pragmatisch und verkürzend vorgehen:

Kriminalliteratur liegt im Moment - im deutschsprachigen Raum - in folgenden Darreichungsformen vor:
Als Regio-Grimmi, über dessen genaue Definition wir hier nicht streiten können, die sich aber schon durch Para- und Epitexte, durch Erscheinungsort und production design von Kriminalromanen mit regionalem Bezug (Chandler & Los Angeles, Andreu Martin & Barcelona) unterscheiden
Als Schenkelklopfer - auf "saukomisch" getrimmte, meist in ländlichen Gegenden angesiedelte Texte mit Brachialhumor, kriminalliterarische Pendants zu den alpinen Softpornos der 60s & 70s ("Unterm Dirndl wird gejodelt") - also Rita Falk, Kobr/Klüpfel etc. mit launigen Titel wie "Mördchen auf dem Örtchen" - werden gerne auch von irgendwelchen Promis, meist irgendwelchen Comedians verfasst (Bernd Stelzer et al...)
Als "Bestseller" - also als Serial-Killer, Gerichtsmediziner oder anderer Sparten-Roman, die sich nicht wesentlich in Diskurse mischen, sondern einfach der taste of the decade sind: Patricia Cornwall, Paul Cleave, Tess Gerritsen etc.
Als "Bestseller mit Krimi-Anmutung", also Nele Neuhaus, Charlotte Link etc.: Romane, die man früher als Trivialromane bezeichnet hätte - Adel, Pferde, Ärzte...
Als "Schwedenkrimis" (böse Zungen sagen: "Gutmensch"Krimis) - also alle Kriminalromane, die sich gesellschaftlich zu engagieren behaupten - nach den Mustern von Mankells "Wallander"-Romanen und Stig Larssons Millenium-Trilogie (Skandinavien kann, muss aber nicht der Herkunftsort sein, cf. z.B. Veit Heinichen etc...), literarisch meist nicht sehr avanciert; einem alten Muster von Fall und Aufklärung verpflichtet.
Als Kriminalromane... Globale Gegenwartsliteratur mit realitätsbearbeitenden Themen, nach literarischen Maßgaben inszeniert, mit und ohne Erzählkonventionen, mit und ohne sinnvollen Sublabels (cop novel, Thriller etc.), wobei das Label - im Gegensatz zu vielen den o.a. Typen - die Dominanzen nicht wirklich beschreibt. Natürlich sind Romane von Peter Temple, die in den Kreisen der Melbourner Polizisten spielen, irgendwie deswegen cop novels; oder die Romane von Giancarlo de Cataldo, die an den Schnittstellen von Bandenkriminalität, OK, Big Business und Politik spielen, irgendwo "Gangsterromane" - aber zu mehr Signifikanz reichen diese Bezeichnungen nicht. Diese letztere Gruppe ist die interessanteste, natürlich, weil sie im besten Fall literarisch free wheeling funktioniert, weil sie am ehesten auch ohne allzuviele marktabhängige Paratexte, sondern eher in ihren diskursiven Kontexten diskutiert werden können.

»Schweinskopf al dente« kann man symptomatisch lesen (symptomatisch für dt. Humorverständnis, impliziten Rassismus, Alpenliebe etc.), mehr ist vermutlich nicht sinnvoll rauszuholen. Einen Roman von Merle Kröger, Dominique Manotti, Don Winslow oder Mike Nicol kann man behandeln wie jedes Stück Gegenwartsliteratur auch. Mehr noch: Gerade Autoren aus dem Trikont (wenn ich den altmodischen Begriff benutzen darf) landen bei der Bearbeitung ihrer gesellschaftlichen Konflikte und Themen notgedrungen bei "Kriminalliteratur", wie genre-ausgeprägt das sein mag oder auch nicht (komischerweise ist es das, meistens): Helon Habila aus Nigeria, Nii Parks aus Ghana, die ganze Garde der Südafrikaner (Deon Meyer, Mike Nicol, Andrew Brown, Malla Nunn), die Lateinamerikaner (zu viele, um sie zu nennen), die Australier und gemischten Asiaten.... Sie alle bilden eine Kontinuität von "Kriminalliteratur" (und deren kleinerem, aber feinen Bruder, dem Polit-Thriller - die Grenzen werden immer unklarer) von den Anfängen über Hammett & Co bis heute.

Mit den konjunkturellen Wellen haben sie inhaltlich und künstlerisch wenig, mit ihrer Behauptung auf den Märkten hingegen mehr zu tun - die Veränderungen des Marktes könnten sie bedrohen. Auf der anderen Seite werden sie von der Krimi-Welle mitgetragen - wie überhaupt das bisher einzigartige Überheizen eines Marktsegmentes Nischen freilegt, in denen ein an den traditionellen Markt gewohntes Genre zumindest bis jetzt sehr gut leben kann - Kriminalliteratur war ja NIE subventioniert, immer, seit den Ursprüngen, an den Markt gekoppelt und hat also schon tüchtige marktwirtschaftliche Muskeln entwickelt.
Damit gilt aber auch, dass ausgerechnet in einem "populären Genre" eine E/U-Spaltung stattgefunden hat, wie sie bis zur Moderne/Postmoderne in der "westlichen" Literatur grundsätzlich üblich war - zumindest rezeptiv.

Das heißt für unseren Status-Quo-Check auch, das Leserverhalten neu anzuschauen, das wiederum eng mit den neuen "Medien", also u.a. mit dem Internet, mit viralem Marketing, mit der Ablösung des diskursiven durch das touristische Event usw. wesentlich zu tun hat.

Mit Transmedialität sowieso. Obwohl gerade da eine Menge unklarer Dialektiken lauern: Wie sehr prägt der in den letzten Jahren nachgerade zu kultischen Ehren geratenen TATORT die Vorstellung dessen, was auch literarisch Krimi ist - und lappt insofern in den Buchmarkt hinein, was man an der Dominanz der Polizei-Ermittlerkrimis in fast allen oben genannten Sektoren sehen kann; und wie weit spielen vor allem US-amerikanische/englische/italienisch, meist nicht im TV, sondern auf DVD konsumierte Serien eine Rolle (SOPRANOS/ROMANZO CRIMINALE/SONS OF ANARCHY/BREAKING BAD etc. - auch wenn dabei Cops-Serien wie THE SHIELD oder THE WIRE sind, die allerdings durch ihre Machart und Diskurshaltigkeit und Komplexität nicht mit dem TATORT in eine Kategorie zu packen sind.)

Ob und wie sich allerdings diese sicherlich rezeptiv zu belegende Transmedialität in literarische Produktionsäthetiken umsetzt, ist noch unklar (und mir sind bis auf ein paar Buch-zur-Serie oder Buch-als-Prequel-zur-Serie wie bei Neil Cross' "Luther"-Projekt noch keine allzu schlagenden Beispiele aufgefallen. Allerdings haben erst jüngst die Drehbuch- und Romanautorin Merle Kröger und der Dokumentarfilmer Philip Scheffner in ihrem REVISION (Film) und GRENZFALL (Roman)-Projekt gezeigt, wie nicht nur Fiktionales und Nichtfiktionales, sondern auch Film und Prosa eine Story in unterschiedliche Narrative auflösen und wieder anders re-konstruieren und damit an der Komplexität dieses Narrativs basteln können (ganz im Sinne des Erzählforschers Albrecht Koschorke, der diese synergetischen Zusammenspiele völlig unterschiedlicher narratologischer Typen untersucht).

Tatsächlich geht das "Genre-Wissen", das die deutschen Standard-Fernsehproduktionen bereitstellt, direkt in die Text-Produktion vieler, bis sehr vieler Kriminalromane ein - demzufolge arbeitet die Polizei im Chef-und-Assistentin-Doppel, Gerichtsmediziner beteiligen sich an Ermittlungsarbeiten etc - bis dass sie eine veritable Gegenwelt zu der Realität entwerfen, die dann als "die Realität" in die Primärproduktion eingeht... Ob und wie weit diese abwegige Sichtweise von Polizei und deren Walten und Schalten (was darf Polizei, was ist legal, was ist illegal...) dann wieder tatsächlich in die gesellschaftlichen Realitäten eingreift, ist eines der Forschungsgebiete, die dringend bearbeitet werden müssten...

Und natürlich gilt das auch für das, was "Verbrechen" ausmacht, was als Verbrechen erzählt und somit definiert wird - eine Störung der Ordnung, gesellschaftliche Abweichungen, Normverletzungen: Meist heruntergebrochen auf Beziehungstaten, Serialkillen oder Pädophilie, auf jeden Fall etwas, das man in Fall und Aufklärung und Täter und Verfolger dualisieren und somit als "Krimi" festschreiben. Konzepte, die "Verbrechen" als ein für alle Gesellschaften konstitutives Kontinuum begreifen, haben es in der Lese-Welt entschieden schwieriger als in der Bilderwelt der avancierten Serien, in Filmen etc. Letztere sind möglichweise prestige-trächtiger, die anderen marktkompatibler - ein Zustand, den erkleckliche Teile des Lesepublikums so nicht stehen lassen möchten.

Hier findet das nächste Schisma statt, das immerhin erstaunliche Aspekte freigibt: Die Gärung, die zur Zeit auf dem Gebiet der Rezeption und der Sekundärbearbeitung stattfindet, die zunehmende Erstarkung der Fan-Kultur im Internet, wird - auch wenn man noch nicht genau weiß, wie - die Produktionslandschaft verändern.

Zunächst scheint nichts Aufregendes passiert zu sein: Kriminalliteratur wurde jahrzehntelang von den sog. Leitmedien eher marginal zur Kenntnis genommen, dito universitär etc. Die philologische Grundlagenarbeit erledigten mehr oder weniger nicht- oder semi-professionelles Aficionados, die die Archivierung, das Genre-Gedächtnis und andere unspektakuläre, aber unendliche wichtige Arbeiten erledigten, all das, für was bei "seriöser" Literatur die dafür subventionierten Institutionen zuständig waren und sind. Es entstanden die "disparaten Archive" der Kriminalliteratur, die auch heute noch bestehen - so gibt es z.B. immer noch kein vernünftiges Nachschlagewerk zur Kriminalliteratur im Großen und Ganzen, und so etwas wird es auch nie wieder geben, weil die "disparaten Archive" online immerhin leichter einsehbar sind als noch vor 15 Jahren.

Inzwischen haben sich die Leitmedien (wenn auch des öfteren contre cœur) durchaus der Kriminalliteratur angenommen - die KrimiZeit-Bestenliste, die ZEIT KRIMI SPEZIALs und überhaupt Kolumnen und Krimi-Bearbeitung allerorten, immer als "Randspalte" (und insofern beim Ende des Booms jederzeit suspendierbar), manchmal auch auf einem bizarren Qualitätslevel. Die Stunde des Internets also, könnte man denken, das dankbar diese Lücken füllt und ungestört von Vorgaben aller Art eben auch kriminalliterarische Reflexionen betreibt - tatsächlich gibt es ein paar ernstzunehmende Netz-Feuilletons, die das machen - aber es gibt erstaunlicherweise keine ernstzunehmenden Krimi-Blogs auf Niveau (hierzulande, sonst natürlich schon) - dafür aber eine ganze Reihe von Communities in sozialen Netzwerken, besonders auf FB, an denen man gut beobachten kann, inwieweit das Marketing und die Werbewelt der Konzern-Medien neue Leserschaften für ihre Produkte generiert resp. sichtbar gemacht hat.

Solche Communities (sofern sie nicht direkt von Agenturen für Virales Marketing betrieben werden) werden von den Verlagen inzwischen prompter mit Material, Verlosungs- und Spielmaterialien versehen als klassische Printmedien, denen im Gegenzug zunehmend Anzeigen entzogen werden und bedanken sich im Gegenzug mit einer robusten Einforderung "unbevormundeter Lektüre": - die seltsamerweise immer aus der aktuellen Bestseller-Produktion der Konzernverlage stammt und angeblich von ominösen "Eliten" (vornehmlich Print- und klassischen Feuilleton-Kritikern) verachtet werden, worauf mit der totalen Ausblendung auch aller Texte reagiert wird, die in notorischen Kleinverlagen mit hohem Prestige und Feuilletonakzeptanz wie Pulp Master, Alexander etc. erscheinen. D.h. es baut sich ein Publikum auf, das Nele Neuhaus' Trivialromane con Mord als "demokratisch/subversive Alternative" zu einem Polit-Thriller von Robert Littell (der wegen seiner hohen Kontextanforderung als unverständlich und nur minderheitenrelevant eingeschätzt wird) lesen will und diese Positionen (schon ein bisschen analog zu den Post-Truth-Politics) eher polemisch vertritt.

Es entsteht also ein Zirkel aus Produktion und Rezeption, das weite Teile dessen, was als Krimi gelabelt wird erfasst hat - Vermutlich waren die Erprobungsfelder Fantasy, historischer Roman und vor allem romance, also alles literarische Segmente, auf die der analytische Blick von außen noch wesentlich seltener fällt - und vermutlich ist diese Leserschaft an sich auch nicht neu - nur erlauben die sozialen Medien, sie genauer zu sehen und auch präziser auf ihre Wünsche und Bedürfnisse zu reagieren. Inwieweit eine kulturpolitische Demokratisierung ausgerechnet aus dem Geiste und im Interesse der guten alten Kulturindustrie entstehen sollte und kann - das ist, glaube ich - eher in Thema für Groß-Ironiker...

Und es stellt sich dann natürlich die Frage, warum man ausgerechnet in der Kriminalliteratur, dort wo sie am blutigsten, albernsten, pseudo-realistischsten und auch ästhetisch dürrsten ist, die Unterhaltung par excellence, den lesefreundlichsten Wellness-Faktor sucht? Eine dänische Autorin, der ich neulich begegnen durfte, erklärte, nach dem sich lang und breit über das Elend der Zwangsprostitution, die Dummheit der Huren in diesem Geschäft und anderen grauenhafte Dinge ausgelassen hatte, ihr ginge es schließlich darum, nicht die Welt oder die Verhältnisse zu ändern, sondern die Leser mit einem "good read" über Zwangsprostitution zu unterhalten. Voilà...

Auch hier, glaube ich, wird klar, was ich meine: Das, was wir noch unter dem Begriff "Kriminalliteratur" als zusammengehörig behandeln wollen, hat sich allmählich rezeptions- und produktionsästhetisch gespalten (oder ist im Begriff, dies irreversibel zu tun) - vermutlich bis zum dem Punkt des tertium-non-datur. Zwischen einem hochkomplexen Roman von Peter Temple und einer Regioschote gibt es kaum Berührungspunkte - und das sind nicht die üblichen Unterschiede zwischen einem guten und einem schlechten, einem gelungenen und einem mißlungenen Text, weil beide Texte kategorial unvereinbar sind: In ihrer ästhetischen Struktur, in ihrem intellektuellem Entwurf, in ihrer Autorität gegenüber dem Erzählstoff, in so ziemlich allen Aspekten, die den "Bedeutungsaufbau des literarischen Werkes" ausmachen.

Das heißt aber auch für einen wissenschaftlichen Umgang mit Kriminalliteratur, dass man genau schauen muss, als was und wie man sie lesen möchte: Symptomatisch für den Umgang von Gesellschaften mit verschiedenen Bildern von Gewalt und Verbrechen, als kulturtheoretisch aussagefähiges Material über Identitäten, gesellschaftliche Verfasstheiten etc., systemsoziologisch für den Zusammenhang von Gesellschaften und deren symbolische Zeichenverwendung, literaturwissenschaftlich-gattungstheoretisch oder für narratologische Exerzitien. Neben dem jeweiligen spezifischen Erkenntnisinteresse, stellt sich dann die Frage, die in der Tat den state of the art ausmacht: Ist der klassische Begriff "Kriminalliteratur/Kriminalroman" nicht derart extrem ausdifferenziert, dass er nur noch zur allerschnellsten und alleroberflächlichsten Bezeichnung von Texten taugt, die - für sich genommen - jedes Mal einer Einzelfallanalyse bedürfen.

Wo die nicht nötig ist, weil die standardisierte Produktion standardisierte Leseerwartungen und andere, mit fordistisch/tayloristischem Vokabular zu beschreibende Mechanismen am Werke sind, ist ein neues Genre (oder: neue Genres) serieller Textproduktion ausgebildet, das dann Gegenstand ganz anderer Betrachtungsweisen sein muss.

Vielen Dank!

 

© Thomas Wörtche, 2012
(Vortrag, gehalten an der Universität Salzburg
(FB Germanistik, Schwerpunkt Wissenschaft & Kunst; Arts & Humanities),
am 16./17. November 2012
)

 

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