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Leichenberg 11/2012

 

Grenzfall

Wenn es tatsächlich so etwas geben sollte, dann wäre Merle Krögers Grenzfall (Ariadne) der europäische Kriminalroman par excellence. Nicht nur weil das Buch in Deutschland, Polen, Rumänien und Frankreich spielt, sondern weil es Europa zum Thema hat, ohne dass dies groß erwähnt werden müsste. »Grenzfall« beginnt 1992, als die Welt kurz nach dem Kollaps des "Ostblocks" sich änderte und die Grenze zu Polen noch nicht offen war, als Asylantenheime brannten, als im Jubel über die neuen Freiheiten schon die "Festung Europa" zumindest gedanklich keimte. Da werden beim illegalen Grenzübertritt von Polen nach Mecklenburg-Vorpommern zwei Roma aus Rumänien von besoffenen Jägern für Wildschweine gehalten und abgeknallt. So sieht es zumindest aus, wenn nicht im Zuge der verpfuschten, behinderten, sabotierten und irgendwo im schlimmen Niemandsland von Indolenz, Inkompetenz und heimlicher Sympathie für die Täter versumpften Ermittlungen sich nicht ganz andere Lesarten anbieten würden. »Revision«, ein von Merle Kröger produzierter und mit-geschriebener Dokumentarfilm von Philip Scheffner (sicher einer der intelligentesten und brillantesten Dokumentarfilme seit langer Zeit) rekonstruiert den "Fall", soweit sich die Geschehnisse einer solchen Rekonstruktion erschließen, in dem wesentlich die Perspektiven der Familien der Opfer auf einen Tatbestand mitgedacht werden, die von den deutschen Behörden nie informiert worden waren. Diese filmische Rekonstruktion ist eine Möglichkeit, sich dem Thema anzunähern. Der Roman von Merle Kröger fiktionalisiert das Drama, als andere narrative Möglichkeit. So entsteht ein doppeltes Meisterwerk - nicht-fiktionaler Film und Crime Fiction machen aus einem ungeheuerlichen Kriminalfall eine europäische Bestandsaufnahme über das Eigene und das vorgeblich Fremde. Grandios.

Kings of Cool

Als internationale Spitze der Thriller-Kunst gilt im Moment Don Winslow. Das ist völlig oaky, Romane wie »Frankie Machine«, »Tage der Toten« und »Zeit des Zorns« sind großartige Bücher. Das Sequel zum letzteren, das in der Handlungslogik ein Prequel ist, heißt Kings of Cool (Suhrkamp) und erzählt die Geschichte der drei netten Ex-Hippie-Kids Ben, Chon und Ophelia, genannt O, von den Anfängen der südkalifornischen Drogenkultur bis zu den knallharten Verteilungskämpfe der Narco-Kriege in Nordmexiko und den USA, so wie sie Oliver Stone in seiner Winslow-Verfilmung »Savages« (basiert auf »Zeit des Zorns«) zeigt. »Kings of Cool« knüpft stilistisch mit seinem forciert anti-epischen, der gesprochenen Sprache verpflichteten, gleichzeitig mit den Mitteln der Moderne und Postmoderne (Konkrete Poesie, z.B.) arbeitenden Erzählweise an. Das ist einerseits großartig, witzig und wirklich cool, birgt aber andererseits schon die Tendenz zur Masche in sich. Ein drittes Buch mit diesem Verfahren wäre vermutlich ein Absturz.

Casino Royale

Cool sind nur die wunderbaren 60s-Retro-Cover der ersten drei James-Bond-Romane von Ian Fleming, die Cross Cult zum ersten Mal ungekürzt und neu übersetzt auf Deutsch herausbringt: Casino Royal (1953), Leben und sterben lassen (1954) und Moonraker (1955). James Bond, noch kein Filmheld, noch nicht ironisch gebrochen, ist ein oft übellauniger kalter Krieger, die Romane sind nationalchauvinistisch-britisch, sexistisch, rassistisch bis zum Anschlag (vor allem Leben und sterben lassen bietet eine Menge krauses Zeug zum Thema) und natürlich militant anti-kommunistisch. Davon ist vieles historisch ableitbar, intelligenter wird es deswegen nicht. Außerdem sind die Romane humorfrei und sterbenslangweilig. Deswegen freuen wir uns umso mehr, dass es 007 in die Kinos geschafft hat und uns mit seinen wahrlich postmodern unverfrorenen Abenteuern prächtig unterhält.

Hyänen

Gut unterhält man sich auch mit Tom Eppersons schmutzigen Road-Movie von Roman, Hyänen (rororo), der Standardsituationen fröhlich variiert: Eine Frau, einst married to the mob, ist mit ihrem kleinen Sohn und einem Beutel voller Diamanten auf der Flucht vor der Mafia, dem US-Marshall vom Zeugenschutzprogramm, der an die Klunker will und einer bunten Mischung abgedrehter Psychopathen und Killer, nahe Verwandte der Gestalten aus Joe Carnahans Kult-Film "Smoking Aces". Dazu noch ein guter Kriegsheld und ab geht die Lucy... Action, ohne alberne Überhöhung oder fragwürdige Sinnstiftung.

Einer der rätselhaftesten, aber gleichzeitig besten Romane von Jean-Patrick Manchette war »Ô dingos, ô chateaux!« (1975), die Story einer immer blutiger werdenden Flucht einer als irre geltenden jungen Frau und dem Neffen eines sehr reichen Mannes, der ihn beseitigen will. Angeführt wird die Jagd von Thompson, einem magenkranken Profikiller. Jacques Tardi hat dieses sehr eigene Stück Prosa in einen genauso eigenen, wie immer genial gezeichneten s/w-Comic umgesetzt und noch ein paar mehr ästhetische Ebenen eingezogen: Zum Abschuss freigegeben. (Edition Moderne) Ein klares Must!

 

© Thomas Wörtche, 2012

 

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