kaliber .38 - krimis im internet

 

Krimi-(Vor-)Auslese 03/2020

 

Hundechristus Na so was - mit Hundechristus kommt ein neuer, nunmehr fünfter Band der Commissario-de-Luca-Reihe des Italieners Carlo Lucarelli (Folio Verlag, Deutsch von Karin Fleischanderl). Lucarellis Romane spielen in der Endzeit des italienischen Faschismus und erzählen von einem moralisch lädierten Commissario, der als junger Polizist einen kometenhaften Aufstieg erlebte und einen faustischen Pakt mit dem System einging. In den ersten Bänden, im Original 1990 f. erschienen, also deutlich vor der seicht-warmen Commissario-Dauer-Welle, folgt der Leser de Luca, der mit gefälschter Identität vor der Resistenza und den vorrückenden alliierten Befreiern flieht. Der neue Roman "Hundechristus" springt zwei Jahre zurück ins Jahr 1943: Bei einer Razzia gegen Schwarzhändler in Bologna stößt de Luca auf eine kopflose Leiche, aber es scheint sich keiner für den Todesfall zu interessieren. Mit der Absetzung Mussolinis schwappt eine Welle der Euphorie durchs Land und spült alte Eliten weg. Doch kurze Zeit später nur tauchen die alten Strippenziehern an neuer Stelle wieder auf - und der Ermittler de Luca muss jetzt sehen, dass er seinen eigenen Kopf rettet. "De Luca will Gerechtigkeit um jeden Preis, über die politischen Verhältnisse hinweg" schreibt der Verlag auf dem Buchrücken und verspricht einen "Showdown à la Tarantino". Hammer!

 

Verdammte Liebe Amsterdam Neues auch von Frank Göhre, einem der Schwergewichte der deutschsprachigen Kriminalliteratur. Verdammte Liebe Amsterdam (culturbooks), so der Titel des ersten Romans, den Göhre seit zehn Jahren vorlegt. Göhre erzählt die Geschichte eines Hamburger Restaurant-Betreiber, dessen Bruder erschlagen und ausgeraubt aufgefunden wird - auf einem Autorastplatz, dem vielleicht tristesten Ort zum Sterben. Der Gastronom begibt sich auf eine Spurensuche; er wird mit einem verschwundenen Mädchen und korrupten Bullen konfrontiert und muss erkennen, dass er seinen toten Bruder eigentlich kaum gekannt hat. "Verdammte Liebe Amsterdam", so bewirbt der Verlag Göhres Kriminalroman, ist ein "rasantes Roadmovie zwischen Hamburg, Köln und Amsterdam". Da fahren wir gerne mit! Klappenbroschur, mit einem ansprechend gestalteten Cover, auch äußerlich ein sorgfältig gemachtes Buch!

 

Götter ohne Menschen Gleich zwei Neuerscheinungen aus dem Liebeskind-Verlag wecken schon mit ihren wohlklingenden Titeln Interesse: Zum einen Götter ohne Menschen von Hari Kunzru (Deutsch von Nicolai von Schweder-Schreiner). Der englisch Romancier mit indischen Vorfahren erzählt von einem New Yorker Ehepaar, das mit ihrem autistischem Kind eine paar Tage Entspannung in Kalifornien sucht. Bei einem Ausflug in die Mojave-Wüste - seit jeher Objekt mythischer Vorstellungen und der Legende nach Erscheinungsort von Engeln als auch von Außerirdischen -, verschwindet der Junge spurlos. Als alle Versuche der Polizei, den Jungen zu finden, scheitern, tauchen in den sozialen Netzwerken zunehmend Blogs und Tweets auf, in denen die Eltern verdächtigt werden, selbst für das Verschwinden ihres Kindes verantwortlich zu sein. Kunzrus Roman spielt erkennbar in der Gegenwart, ist aber mit seinem hippiesken Figuren und einigen kurzen Episoden, bis bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen, historisch verankert - der Roman, so umschreibt es der Verlagstext, sei "zugleich Gegenwartspanorama und Echokammer der Vergangenheit". Da schauen wir gerne mal rein!

 

Shalom Berlin Ebenfalls im Liebeskind Verlag erscheint der Roman Dahinter das offene Meer (wie weit man doch kommt auch ohne Anglizismen im Titel!) des jungen englischen Schriftstellers Ben Smith. Der Roman erzählt ein menschliches Drama vor versehrter Kulisse: Packender, klaustrophobischer Schauplatz ist eine Nordseeplattform inmitten eines riesigen Windparks, der langsam zerfällt. Die schrottige Anlage wird am Laufen gehalten von einem Jungen und einem alten Mann, die mit ihrem Wartungsboot durch den Windpark schippern, aber mit den ihnen zur Verfügung stehenden Werkzeugen und Ersatzteilen können sie immer nur notdürftige Reparaturen durchführen. Alle drei Monate kommt ein Versorgungsschiff - oder auch nicht. Der Junge wurde in den Windpark geschickt, um den Platz seines Vaters einzunehmen, der einst spurlos verschwunden ist. Das Geheimnis lüften könnte vielleicht der Alte, doch der schweigt sich über den Vorfall aus. Als der Junge ein zweites Wartungsboot und eine Karte entdeckt, beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel. "Dahinter das offene Meer" ist Literatur mit Rost und Öl und Schmierfett, ein finsterer Schatten auf der hell und strahlend gemalten Öko-Zukunft. Das macht doch richtig Lust - aufs Buch, nicht so sehr auf die Zukunft...

 

Milchmann Oha! Wenn ein Verlag ein Buch als "literarische(s) Großereignis" anpreist, dann ist Skepsis angezeigt. Also erstmal mit spitzen Fingern ran an den Roman Milchmann, das Debüt von Anna Burns, einer aus Nordirland stammenden und in England lebenden jungen Autorin (Tropen Verlag, aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll). Der Schauplatz des Romans wird nicht benannt, aber folgt man den Bersprechungen in der englischsprachigen Presse, spielt das Buch in Belfast in den 1970ern, der Zeit der Troubles. Burns geht es aber nicht um den - äußerlichen - politischen Konflikt, sondern sie erzählt die Geschichte eines gerade achtzehnjährigen Mädchens, das nach Antworten sucht auf die großen - eher nach innen gerichteten - Fragen nach Identität, Liebe und dem Sinn des Lebens. Die Geschichte der jungen Frau, deren Namen genauso unbenannt bleibt wie der aller anderen Protagonisten, beginnt mit dem Auftritt des "Milchmanns", eines als gefährlich geltenden Mannes mit engen Verbindungen zu den Paramilitärs, der sich dem Mädchen nähert, ohne sie körperlich zu bedrängen. Durch diese Annäherungen zieht die junge Frau die Aufmerksamkeit auf sich - etwas, was man in dieser namenlosen Stadt besser vermeiden will, denn es ist gefährlich, interessant zu sein. "Milchmann", so der Tropen-Verlag, "ist die Geschichte einer jungen Frau, die nach einem Weg für sich sucht - in einer Gesellschaft, die sich ihre eigenen dunklen Wahrheiten erfindet und in der jeglicher Fehltritt enorme Konsequenzen nach sich zieht.". Die Besprechungen lassen einen Text vermuten irgendwo zwischen Orwell, Kafka und James Joye. Das klingt sperrig und spannend - und bringt alles mit, um ein, nun ja, besonderes Lese-Erlebnis zu sein. Hoffentlich ist's nicht bloß Posing!

 

Stern 111 Wichtigste Buch des Quartals (mindestens!), dem wir seit der Vorankündigung entegegenfiebern - Stern 111, der neue Roman von Lutz Seiler (Suhrkamp). Seiler - eher in kleineren Literaturformen heimisch, wie Gedichten, Essays und kürzeren Erzählungen - hatte 2014 mit "Kruso" einen fulminanten Vorwende-Roman vorgelegt, der im Sommer 1989 auf der ostdeutschen Ferieninsel Hiddensee spielt. "Stern 111" - erst der zweite Roman Seilers - ist keine Forstsetzung, schließt aber zeitlich an an "Kruso": "Stern 111" - nach einem DDR-Kofferradio benannt - spielt unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer und liefert ein ost-westliches Nachwende-Panorama der ersten Jahre nach dem Mauerfall. Der Roman ist für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik nominiert: "Literarische Geschichtsschreibung zwischen Traumwandeln und Hausbesetzen - hier wird sie eindringlich im allerbesten Sinne", heisst es in der Begründung der Jury. Tragefaul wie ich bin, wollt ich mir das eBook runterladen, aber Kapitelüberschriften wie "Das Drahtwort", "Hinter der Leinwand", "Eimerkette", "Weiße Wölfe aus dem All" oder "Sanftes Folienrauschen" versprechen eine derartige poetische Schönheit, die sich vermutlich nur voll entfaltet, wenn man das Buch riechen und fühlen, die Seiten rascheln hören und an den Buchecken knuspern kann. Gleich, zögert nicht - stürmt die Buchhandlungen und kauft "Stern 111"!

 

Viele weitere Anregungen finden Sie in den Neuerscheinungen März 2020.

 

© j.c.schmidt, 2020

 

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