Kleinstadt im Würgegriff
Wells, eine sterbende Kleinstadt irgendwo im Süden der Vereinigten Staaten - eine Stadt, an der man am liebsten schnell vorbeifahren würde. Die Depression hält das Kaff fest im Würgegriff. Ein Hoffnungsschimmer ist der ehrgeizige Plan des Dirigenten Enrico Mantoli, ein Musikfestival zu organisieren und damit den Ort wirtschaftlich zu beleben. Doch Mantoli wird ermordet. Verdächtig macht sich der Schwarze Virgil Tibbs - schon deshalb, weil er für einen Farbigen zuviel Bargeld bei sich hat.
Doch Virgil Tibbs ist hochdekorierter Cop der Mordkommission in Pasadena, Kalifornien, und wird schließlich von seinem Vorgesetzten an Bill Gillespie, den rassitischen Polizeichef von Wells, ausgeliehen. Gillespie ist in Mordermittlungen völlig unerfahren - er ist erst kurz im Amt, und seine Kenntnis beschränkt sich auf die Bewachung Gefangener im Strafvollzug. Zum Polizeichef wurde er gewählt, weil die Einwohner der Stadt in Gillespie einen Garanten der alten Ordnung sehen.
Weder Tibbs noch Chief Gillespie sind von der Aussicht auf Zusammenarbeit begeistert: Tibbs möchte das rassistische Kaff schnellstmöglich hinter sich lassen, und Gillespie ist nur mit politischem Druck und der Zusicherung zur Kooperation zu bewegen, er könne nichts verlieren, aber alles gewinnen:
"So kommt es zur seltsamsten aller Konstellationen: Virgil Tibbs arbeitet unter einem Vorgesetzten und an der Seite von Kollegen, die Neger für geistg minderbemittelt halten, auf einer Wache, in der er einen separierten Waschraum benutzen muß und in deren Nachbarschaft er weder essen noch schlafen kann, an Ermittlungen, für die sich niemand recht interessiert, da niemand von der eigentlichen Kriminalistik die geringste Ahnung hat." (1)
In seinem Roman, den John Ball aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt (hauptsächliche aus der Sicht des Deputy Sam Wood, der später selbst von Chief Gillespie der Mordtat bezichtigt wird), kontrastiert der Autor moderne Strukturen mit vormodernen: Tibbs wird nicht nur wegen seiner Hautfarbe gehasst, sondern auch, weil er ein kultivierter, geistreicher Städter aus dem reichen Pasadena ist. Seine bloße Anwesenheit versetzt den Südstaatenort Wells mit seiner vormodernen Sozialstruktur in Aufruhr. Mit stoischer Würde erträgt er all die rassistischen Übergriffe bis hin zu Schlägertrupps und bringt so die Fundamente der traditionellen Ordnung schließlich ins Wanken - und die Befindlichkeiten der Menschen. Die Verwandlung des rassistischen Chiefs Bill Gillespie vollzieht sich behutsam - am Ende schwingt er nicht lauthals die Fahnen der Rassengleichheit, aber - vorher undenkbar - er reicht dem schwarzen Virgil Tibbs die Hand. Doch auch in Tibbs vollzieht sich eine Wandlung - er empfindet zunehmend Anerkennung für den klotzigen Südstaaten-Cop.
»In der Hitze der Nacht« ist mitnichten der erste Kriminalroman, der einen schwarzen Detective zur Hauptfigur hat - das Buch ist aber der erste Kriminalroman, der rassistische Vorurteile zu seinem zentralen Thema macht, feinfühlig und dadurch so einprägsam. John Ball entfaltet seine Story mit leiser Stimme, und das in einer Zeit, in der es im LA-Stadtteil Watts und vielen anderen US-Städten lichterloh brannte, in der in manchen US-Staaten nur Beschlüsse der Bundesgerichte und Schlagstockeinsätze der Ordnungshüter farbigen Studenten den Zugang zum College garantierten - durch ein Spalier hassverzerrter Fratzen.
"Ein Teil der Leistung Balls besteht darin, dass er in diesem Roman eben nicht ein Stereotyp diskreditiert und einfach durch ein anderes ersetzt. Das heißt, es ist ihm gelungen, eine Geschichte über eine Region eines Staates zu schreiben, in der Ignoranz und Rassismus schreckliches Leiden verursachen, ohne jeden Südstaatler als ignorant, als rassistisch zu beschreiben. Nicht nur die Figur Virgil Tibbs bringt die vorgefassten Ansichten mancher Leute zum Einsturz, sondern genauso die Porträts einiger Südstaatler in diesem Roman." (2)
Ein anderer Teil der Leistung Balls besteht darin, dass er die sozialen Mechanismen der Unterdrückung aufzeigt - der enorme soziale Druck, der auf dem Einzelnen lastet, das gesellschaftliche Risiko, die Normen zu hinterfragen und Erwartungen zu negieren.
Der Roman, der 1965 erschien, war ungemein erfolgreich. John Ball wurde für sein Buch nicht nur mit dem Dagger in den USA, sondern auch mit einem Edgar in England ausgezeichnet. Der ganz große Massendurchbruch kam, als 1967 eine Verfilmung mit Sidney Poitier die Figur Virgil Tibbs unsterblich machte, und Rod Steiger dem Sheriff Gillespie sein markantes Gesicht verlieh. Die Verfilmung ist atmosphärisch sehr nahe am Roman und weicht nur in unwesentlichen Dingen von der Vorlage ab - so ist der Ermordete im Film ein Industrieller, Virgil Tibbs stammt aus Philadelphia und Sheriff Gillespie ist weit älter als die 32 Jahre, der er im Roman auf dem Buckel hat. Wie der Roman wurde auch der Film mit Preisen überhäuft - er brachte es allein auf fünf Oscars.
John Dudley Ball jr. wurde 1911 in Schenectady im US-Bundesstaat New York geboren und wuchs auf in Milwaukee. Nach dem College wurde er Pilot und diente im 2. Weltkrieg in der US Air Force. Die Fliegerei ist ein Thema, das in mehreren seiner Bücher wieder auftaucht - etwa in »Edwards«, einem Buch über den gleichnamigen US-Luftwaffenstützpunkt, oder auch in den Thrillern »Rescue Mission« (1966), »Last Plane Out« (1970) und »Phase Three Alert« (1977).
Nach dem Krieg arbeitet John Ball zunächst als Muskikkritiker beim Brooklyn Eagle (1947 veröffentlicht er zwei Sachbücher zu dem Thema) und als Zeitungskolumnist. Bevor sich Ball Mitte der 60er Jahre ausschließlich dem Schreiben seiner Romane widmet, kehrt er noch einmal zur Fliegerei zurück: als Leiter der PR-Abteilung des Institute of the Aerospace Sciences. 1964 erscheint Balls erstes Nicht-Sachbuch: »Judo Boy«, ein Jugendbuch. »In der Hitze der Nacht« als John Balls Debüt zu bezeichnen, wie man fast überall lesen kann, ist also nicht ganz korrekt.
In 20 Jahren hat John Ball noch sechs weitere Romane um seine Figur Virgil Tibbs geschrieben, in denen dieser meistens Mordfälle im heimischen Kalifornien löst, doch hatte keines der folgenden Bücher die Intensität des Erstlings. Es sind zumeist klassische Police-Procedurals, in denen die Hautfarbe der Hauptfigur keine wesentliche Rolle spielt. Überhaupt hatte keines der späteren Werke John Balls auch nur annähernd den Erfolg seines Krimi-Debüts. Auch zwei weitere Verfilmungen wieder mit Hollywood-Star Sidney Poitier (They Call me Mr. Tibbs / 10 Stunden Zeit für Mr. Tibbs, 1970 und The Organisation / Die Organisation, 1971) waren bei weitem nicht die Kassenschlager wie die Erstverfilmung. Die Fernsehserie »In the Heat of the Night« schließlich, die in den späten 80er Jahren entstand, bedient sich der beiden Ball-Figuren Gillespie und Tibbs, hat aber mit den Romanen nichts zu tun.
In mehreren weiteren Romanen hat sich John Ball mit sozialen und politischen Fragen beschäftigt. In »Johnny get your Gun«, seinem wohl zweiterfolgreichstem Roman, geht's um liberale Waffengesetze, die einem Jungen das Leben kosten, der den "Mord" an seinem Transistorradio rächen will. Und mit seiner dreiteiligen Serie um Chief Jack Tallon taucht er noch einmal tief ein in das soziale Geflecht einer Kleinstadt - diesmal das Örtchen Whitewater im Staate Washington.
John Dudley Ball verbrachte viel Zeit in Asien, mehrere seiner Romane spielen dort. In Asien erlernte er Aikido, und der Träger des schwarzen Gürtels unterrichtete später Polizisten in Los Angeles in dieser Kampfeskunst. Eine kleine Anspielung auf Balls Liebe zum asiatischen Kampfsport findet sich auch in seinem Erfolgsroman: Ersten sichtbaren Respekt zollt Sheriff Bill Gillespie Virgil Tibbs, als dieser eine rassistische Schlägertruppe mit Judo-Tricks in die Flucht schlägt. Von wem er das denn gelernt habe, will der erstaunte Gillespie wissen. Von einem Japaner - einem Nicht-Weißen natürlich.
John Ball starb 1988 in Kalifornien.
© j.c.schmidt, 2002
(1)
Volker Neuhaus: Nachwort. In: John Ball: In der Hitze der Nacht.
Köln: DuMont, 1997, S. 172 ff.
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(2)
»In the Heat of the Night by John Ball«, ohne Autorenangabe.
Der Artikel war unter http://www.bookbooters.com/b01135.asp zu finden, ist leider nicht mehr online.
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Virgil Tibbs-Serie: | ||
In the Heat of the Night [New York: Harper & Row, 1965] [London: Michael Joseph, 1966] |
1965 |
In der Hitze der Nacht (3) [Köln: DuMont, 1997] [Frankfurt/M.: Ullstein, 1966 unter dem Titel »Heißer Mond«] |
The Cool Cottontail [New York: Harper & Row, 1966] [London: Michael Joseph, 1967] |
1966 | Totes Zebra zugelaufen [Frankfurt/M.: Ullstein, 1967] |
Johnny Get your Gun [Boston: Little, Brown & Co. 1969] [London: Michael Joseph, 1970] [New York: Bantam, 1972 unter dem Titel »Death for a Playmate«] |
1969 |
Nicht schießen, Johnny! [Frankfurt/M.: Ullstein, 1970] |
Five Pieces of Jade [Boston: Little, Brown & Co. 1972] [London: Michael Joseph, 1972] |
1972 |
Das Jadezimmer [Köln: DuMont, 1998] [Frankfurt/M.: Ullstein, 1972 unter dem Titel »Fünf Stück Jade«] |
The Eyes of Buddha [Boston: Little, Brown & Co. 1976] [London: Michael Joseph, 1976] |
1976 |
Die Augen des Buddha [Köln: DuMont, 1999] [Frankfurt/M.: Ullstein, 1977 unter dem Titel »Unter den Augen Buddhas«] |
The Upright Corpse (4) [Occidental Petroleum, 1979] |
1979 | |
Then Came Violence [Gardencity, N.Y.: Doubleday, 1980] [London: Michael Joseph, 1981] |
1980 | |
Singapore [New York: Dodd, Mead & Co., 1986] |
1986 |
Singapur. Ein Fall für Virgil Tibbs [Frankfurt/M.: Ullstein, 1988] |
(3) Die erste Ausgabe unter dem neuen Titel erschien 1984 in einem Ullsteinband, der neben dem Ball-Roman noch die Romane »Jede Wette auf Mord« von Dick Francis und »Leichte Beute für Profis« von Robert B. Parker enthielt.
(4) Eigentlich nur eine Kurzgeschichte, die als kleines Büchlein erschien. Wenn wir das richtige sehen, hat die Firma »Occidental Petroleum«, die in den Datensätzen als Verleger genannt wird, das Büchlein an Kunden verkauft oder verschenkt.
Jack Tallon-Serie: | ||
Police Chief [Gardencity, N.Y.: Doubleday, 1977] |
1977 | |
Trouble for Tallon [Gardencity, N.Y.: Doubleday, 1981] [London: Hale, 1982] |
1981 | |
Chief Tallon and the S.O.R. [New York: Dodd, Mead & Co., 1984] |
1984 |
Sonstige Kriminalromane: | ||
Rescue Mission [New York: Harper & Row, 1966] [London: Michael Joseph, 1968] |
1966 | |
Last Plane Out [Boston: Little, Brown & Co. 1970] [London: Michael Joseph, 1970] |
1970 | |
The First Team [Boston: Little, Brown & Co. 1971] [London: Michael Joseph, 1972] |
1971 | |
Mark One - The Dummy [Boston: Little, Brown & Co. 1974] |
1974 | |
Phase Three Alert [Boston: Little, Brown & Co. 1977] |
1977 | |
The Killing in the Market (mit Bevan Smith) [Gardencity, N.Y.: Doubleday, 1978] [London: Hamlyn Paperbacks, 1980] |
1978 |
Heißer Markt für Mord [Frankfurt/M.: Ullstein, 1979] |
The Murder Children [New York: Dodd, Mead & Co., 1979] |
1979 | |
The Kiwi Target [New York: Carroll & Graf, 1989] |
1989 | |
The Van [New York: St. Martin's Press, 1989] |
1989 |
Andere Romane: | ||
Judo Boy [New York: Duell, Sloan and Pearce, 1964] [London: Pelham Books, 1968] |
1964 | |
Miss One Thousand Spring Blossoms [Boston: Little, Brown & Co. 1968] [London: Michael Joseph, 1969] |
1968 | Fräulein Tausend-Frühlingsblüten [München: Heyne, 1976] |
Dragon Hotel [New York: Walker, Weatherhill, 1969] |
1969 | |
The Fourteenth Point [Boston: Little, Brown & Co. 1973] [London: Michael Joseph, 1975] |
1973 | |
The Winds of Mitamura [Boston: Little, Brown & Co. 1975] |
1975 |
Story-Anthologien (ed. by J.B.): | ||
Cop Cade [Gardencity, N.Y.: Doubleday, 1978] |
1978 | |
Murder, California Style (mit Jon L. Breen) [New York: St. Martin's Press, 1987] |
1987 |
Mord in Kalifornien (Rowohlt Thriller Lesebuch) [Reinbek: Rowohlt, 1989] |
Sachbücher: | ||
The Phongraph Record Industry [Boston: Bellman Pub, 1947] |
1947 | |
Records for Pleasure [New Brunswick, N.J.: Rutgers University Press, 1947] |
1947 | |
Operation Space [London: Hutchinson, 1960] |
1960 | |
Edwards. Flight Test Center of the U. S. A. F (5) [New York: Duell, Sloan and Pearce, 1962] |
1962 | |
The Mystery Story (ed. by J.B.) [San Diego: University of California, 1976] [Harmondsworth: Penguin, 1978] |
1976 | Morde, Meister und Mysterien Die Geschichte des Kriminalromans [Frankfurt/M.: Ullstein, 1988] |
Cops and Robbers. An Investigation into Armed Bank Robbery (mit Lewis Chester und Roy Perrott) (6) [London: A. Deutsch, 1978] |
1978 | |
Ananda. Where Yoga Lives [Bowling Green, Ohio: Bowling Green University Popular Press, 1982] |
1982 |
(5) Wir sind uns nicht sicher, ob dieses Buch ein Roman oder ein Sachbuch ist. In den Datenbanken fehlt der sonst übliche Zusatz "novel". In dem Werk geht es um den gleichnamigen US Luftwaffenstützpunkt, an dem Testpiloten neukonstruierte Maschinen auf ihre Tauglichkeit testeten. Und ihre Sicherheit.
(6) Im Britischen Verbundkatalog finden sich zu diesem Titel zwei Einträge. In dem einen Datensatz wird ein "John Ball", Jahrgang 1932, als Autor geführt, in dem anderen "John Dudley Ball", Jahrgang 1911. Ob's nun unser Johnny ist, können wir vorläufig nicht klären.