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Maj Sjöwall und Per Wahlöö

 

Frust im Volksheim oder
Die ruhmreichen Tage der schwedischen Kriminalliteratur

 

Jeden Roman ihrer Serie versahen Maj Sjöwall und Per Wahlöö mit dem Untertitel »Roman über ein Verbrechen«. In der Tat: Von der unidentifizierten Frauenleiche im Schleusenbecken, dem Sexualmord an einem neunjährigen Kind, über das Massaker, das neun Insassen eines Linienbusses das Leben kostet, dem Mord an einem Polizisten, bis hin zum geplanten Terroranschlag auf einen amerikanischen Senator, der Schweden besucht - jeder der zehn Romane beschreibt den Bruch des Gesetzes durch Einzelne respektive eine Gruppe. »Roman über ein Verbrechen« jedoch lässt sich auch der Zyklus als Ganzes untertiteln - und als solcher gelesen beschreiben die zehn Bände, die zwischen 1965 und 1975 erschienen sind, nicht die Missachtung der Gesetze durch Individuen, sondern die Missachtung der Rechte der Individuen durch den bürgerlichen Staat. Mit ihrem Zyklus um den Polizisten Martin Beck und seine Mannschaft in Stockholm, die öfter Unterstützung von den Kollegen in Malmö bekommen, sezieren Sjöwall und Wahlöö den sozialdemokratischen Musterstaat - das "Volksheim" Schweden.

Per Wahlöö, geboren 1926, stammt aus Göteborg. Er studiert an der Universität in Lund und arbeitet ab 1946 als Polizeireporter. Wahlöö politisiert sich zunehmend, schreibt viel über soziale Themen und wird selbst aktiv: 1957 wird er aufgrund seines politischen Engagements aus Francos Spanien abgeschoben. Er reist eine Weile durch die Welt, kehrt nach Schweden zurück, und arbeitet wieder als Journalist. Ende der Fünfziger Jahre entstehen erste literarische Arbeiten, zunächst Fernseh- und Radiospiele. 1959 erscheint Wahlöös erster Roman »Himmelsgeten« (dt. »Foul Play«). Es folgen mehrere Polit-Thriller, die in der nahen Zukunft, unter Diktaturen oder den Militärjuntas in Lateinamerika spielen. Der bekannteste dieser Romane - zumindest im deutschsprachigen Raum - wird »Mord på 31« (dt. »Mord im 31. Stock«), den Wolf Gremm mit Rainer Werner Fassbinder in der Hauptrolle unter dem Titel »Kamikaze 1989« verfilmt.

1961 begegnen sich Per Wahlöö und Maj Sjöwall. Maj Sjöwall, Jahrgang 1935, hatte Graphik und Journalismus studiert, und arbeitete für mehrere Zeitschriften. Das Journalistenpaar heiratet 1962. Sjöwall und Wahlöö sind bekennende Marxisten und suchen nach einem literarischen Vehikel, mit dem sie ihre Sicht der schwedischen Gesellschaft auch den Schichten zugänglich machen können, die sich nicht an der politischen Debatte beteiligen. Einen Anreiz finden Sie in den police procedurals von Ed McBain, den Per Wahlöö ins Schwedische übersetzt (1), und dessen Romane Anfang der 60er Jahre auch in Skandinavien ungemein populär sind: "Obwohl sie den Kriminalroman in der Tat erneuert haben, lag es ironischerweise überhaupt nicht ihre Absicht, das Genre zu erneuern, sondern sie wollten es als Vehikel benutzen, um ein breites Publikum und eine spezifische Plattform für ihre politischen Ansichten zu gewinnen." (2)

Sjöwall und Wahlöö entwerfen einen klar strukturierten Plan für einen Roman-Zyklus (3). Und dieser sieht vor, ihre Sicht nicht aus dem Stehgreif gleich mit dem ersten Buch vorzutragen, sondern die Romane Schritt für Schritt zu politisieren. Die ersten Teile dienen dazu, die Hauptfiguren einzuführen: Kommissar Martin Beck mit seiner angespannte Ehe-Situation, den Ex-Fallschirmspringer Lennart Kollberg, der Gewalt verabscheut und keine Waffe trägt, Gunvald Larsson und Einar Rönn, die beiden Streifenpolizisten Kristiansson und Kvant.

Nur mühsam gelingt es dem Journalistenpaar - mittlerweile Eltern zweier Kinder - zwischen Arbeit, Alltag und Erziehung die Zeit zum Schreiben freizuschaufeln. Muße finden sie hauptsächlich in den Ferien oder in langen, gemeinsamen Sitzungen bis tief in die Nacht: "Maj Sjöwall und Per Wahlöö saßen sich an einem Tisch gegenüber und schrieben mit Bleistiften ihre kriminellen Eingebungen nieder. Sie redeten wenig. Am anderen Tag tauschten sie die Manuskripte aus und tippten sie in die Schreibmaschine: Maj das Skript von Per, Per das Skript von Maj.", weiß Gerhard Fischer in der Süddeutschen Zeitung zu berichten. (4)

Im Laufe der Serie erhöht sich der politische Druck. Der Polizeiapparat hat sich gewandelt und verkommt immer mehr zum Spielball der Amts- und Würdenträger aus Staat und Parteien. Kommissar Beck hadert mit der Frage, ob er als Polizist Gewalt verhindert, oder nur hilft, staatliche Gewalt durchzusetzen. Lennart Kollberg quittiert sogar den Dienst, weil er den Job nicht mehr mit seiner Weltanschauung vereinbaren kann. Gunvald Larsson avanciert zum Typus des neuen Polizisten, so wie er von der Führungsetage favorisiert wird: weniger Köpfchen, mehr Subordination. Gefragt ist politische Geschmeidigkeit.

Aber nicht nur das Umfeld, in dem die Stockholmer Polizisten ihren Dienst versehen, verändert sich im Laufe der Serie. Die ersten Romane sind eher klassische Who-Dunnits, die Täter mehr traditionell und nicht sonderlich konturenreich gezeichnet. In den späteren Romanen hingegen tritt die Frage, wer der Täter ist, weiter in den Hintergrund - das Motiv der Tat spielt eine immer größere Rolle. Verbrechen ist nicht mehr als die Untat des "missratenen" Subjekts, sondern nur noch in seinem sozialen Kontext zu verstehen. Ed McBain entdeckte besonders in seinen Romanen um das 87. Revier die Cops als Soziotop - Sjöwall und Wahlöö nutzten das police procedural, um einen genaueren Blick auch auf die andere Seite des Gesetzes zu werfen: Was dem »Ekel aus Säffle« wiederfährt, ist zwar nicht recht, aber, im gewissen Sinne, gerecht. Die Kluft tut sich im Fortgang der Serie immer weiter auf und erscheint schließlich als unüberwindbarer Abgrund.

Sjöwall und Wahlöö waren mit ihren Romanen um Martin Beck und seine Kollegen ungemein erfolgreich: Ihre Werke wurden in diverse Sprachen übersetzt und gewannen unzählige Preise (»Endstation für neun« z.B. gewann einen Edgar als bester Roman des Jahres, eine Besonderheit für einen nicht-englischsprachigen Titel). Das Konzept der beiden wurde immer wieder kopiert und findet auch in der aktuellen Kriminalliteratur seinen Widerhall. Maj Sjöwall wird ständig um einen Kommentar zu den heutigen Stars der schwedischen Krimiszene gebeten. Zwar gibt sie nichts Konkretes zu Protokoll, man meint aber immer, ein Grinsen aus den Zeilen lesen zu können. Soweit auseinander sind Martin Beck, Kurt Wallander und andere Charaktere der heutigen Literatur mitnichten - nur die Autoren-Honorare überflügeln die aus den Sechzigern und frühen Siebzigern um ein Etliches.

Aus der historischen Distanz - »Roseanna«, der erste Roman der Serie, erschien 1965 - mag das explizit Politische in den Texten pathetisch wirken. "Enttäuschung über das sozialdemokratische Beglückungsprogramm", wie Andrea Fischer den Romanen attestiert (5), wirkt in unserer Zeit ein wenig verstaubt. So sind es nicht die explizit politischen Passagen, sondern eher die privaten, in denen sich eine subtile Kritik an der Modernität eingeschrieben hat, die bis heute aktuell ist:

"Auch Kommissar Beck ließen Sjöwall und Wahlöö am eigenen Leib miterleben, was die mit Verve betriebene Modernität für den einzelnen bedeutete. Als typische Kleinfamilie lebte er mit Frau, Tochter und Sohn mehr oder weniger unglücklich in Skärmarbrink, einer jener Satellitenstädte, die damals im Jahrestakt entlang der Tunnelbana-Linien aus dem Boden gestampft wurden. (...)
      Mit der Reichsmordkommission mußte er irgendwann Anfang der Siebziger in das hypermoderne Polizeidirektionsgebäude auf Kungsholmen umziehen. Vom ersten Tag an haßte Beck diese Büromaschine aus Stahl und Beton, bei der alles auf Funktionalität und nichts aufs Wohlgefühl abzielt. Die Undurchdringlichkeit dieses Gebäudes symbolisiert zugleich die neuen Methoden der schwedischen Polizei, so wie sie Sjöwall/Wahlöö geschildert haben: Überwachung, Absicherung des ganzen Landes mit Hilfe des Computers." (6)

Die "Undurchdringlichkeit dieses Gebäudes", möchte man ergänzen, ist nicht nur Ausdruck neuer Polizeimethoden, sondern auch eines neuen Verständnisses von Politik: Jetzt wird nicht mehr sozialdemokratisch "beglückt", jetzt wird technokratisch verwaltet.

Am 23. Juni 1975, kurz nach der Vollendung ihres zehnten Martin-Beck-Romans, ist Per Wahlöö gestorben. Maj Sjöwall selbst hat - abegesehen von einem gemeinsamen Werk mit Thomas Ross im Jahre 1990 - keine weiteren Kriminalromane geschrieben. Maj Sjöwall ist dem Genre dennoch nicht ganz verloren gegangen - nach wie vor übersetzt sie Kriminalliteratur - Anne Holt aus dem Norwegischen z.B., oder auch Robert B. Parker und dessen Namensvetter Jefferson T. aus dem Amerikanischen.

© j.c.schmidt, 2002

 

(1) Auch Maj Sjöwall hat McBain-Romane übersetzt. Der erste Titel, in dem Maj Sjöwall offiziell als Übersetzerin benannt wird, stammt - soweit wir herausgefunden haben - aus dem Jahr 1968. Demnach wäre es nicht korrekt, Maj Sjöwall in der Vor-Beck-Ära als McBain-Übersetzerin zu bezeichnen. Davon unabhängig kann man davon ausgehen, dass ihr die Romane McBains geläufig waren.       [zurück]

(2) Maj Sjöwall & Per Wahlöö - from The Big Fish Always Get Away. Swedish Book Review Supplement 2001 Unter: http://www.swedishbookreview.com/2001s-sjowallwahloo.html)       [zurück]

(3) Ob der Zyklus von Vornherein auf zehn Bände angelegt war, wie viele behaupten, sei mal dahingestellt. Maj Sjöwall hat später in mehreren Interviews sinngemäß geäußert, sie und ihr Mann seien allmählich ausgelaugt gewesen. Das stützt nicht unbedingt die Vermutung, es seien von Anfang an zehn Bände geplant gewesen, steht dazu aber auch nicht unmittelbar im Widerspruch.       [zurück]

(4) Gerhard Fischer: Ein Land erfindet seine Mörder. In: Süddeutsche Zeitung, 17.05.2002.       [zurück]

(5) Andrea Fischer: Ein Fall für Fischer. Das Wetter gehört zur Verschwörung. In: Der Tagesspiegel vom 28.09.2001. Im Netz ist der Artikel nicht mehr verfügbar.       [zurück]

(6) Johannes Wendland: Die Mischung macht's. Spaziergang durch Stockholm zeigt: Ohne Städteplaner geht vieles besser . In: Das Sonntagsblatt, Nr. 2, 9. Januar 1998       [zurück]

 

Martin Beck-Serie:
Roseanna
[Stockholm: Norstedt, 1965]
1965 Die Tote im Götakanal
[Reinbek: Rowohlt, 1968]
[Berlin: Volk und Welt, 1988]
Mannen som gick upp i rök
[Stockholm: Norstedt, 1966]
1966 Der Mann, der sich in Luft auflöste
[Reinbek: Rowohlt, 1969]
Mannen på balkongen
[Stockholm: Norstedt, 1967]
1967 Der Mann auf dem Balkon
[Reinbek: Rowohlt, 1970]
[Berlin: Volk und Welt, 1983]
Den skrattande polisen
[Stockholm: Norstedt, 1968]
1968 Endstation für Neun
[Reinbek: Rowohlt, 1971]
[Berlin: Volk und Welt, 1973 unter dem Titel »Der lachende Polizist«]
Brandbilen som försvann
[Stockholm: Norstedt, 1969]
1969 Alarm in Sköldgatan
[Reinbek: Rowohlt, 1972]
[Berlin: Volk und Welt, 1984]
Polis, polis, potatismos!
[Stockholm: Norstedt, 1970]
1970 Und die Großen lässt man laufen
[Reinbek: Rowohlt, 1972]
[Berlin: Verlag Volk und Welt, 1988]
Den vedervärdige mannen från Säffle
[Stockholm: Norstedt, 1971]
1971 Das Ekel aus Säffle
[Reinbek: Rowohlt, 1973]
[Berlin: Volk und Welt, 1980]
Det slutna rummet
[Stockholm: Norstedt, 1972]
1972 Verschlossen und verriegelt
[Reinbek: Rowohlt, 1975]
[Berlin: Verlag Volk und Welt, 1977 unter dem Titel »Der verschlossene Raum«]
Polismördaren
[Stockholm: Norstedt, 1974]
1974 Der Polizistenmörder
[Reinbek: Rowohlt, 1976]
[Berlin: Volk und Welt, 1985]
Terroristerna
[Stockholm: Norstedt, 1975]
1975 Die Terroristen
[Reinbek: Rowohlt, 1977]
[Berlin: Volk und Welt, 1986]

 

Maj Sjöwall mit Tomas Ross:
Kvinnan som liknade Greta Garbo
[Stockholm: Norstedt, 1990]
1990 Eine Frau wie Greta Garbo
[Reinbek: Rowohlt, 1991]

 

Per Wahlöö:
Himmelsgeten
[Stockholm: Norstedt, 1959]
[Stockholm: Norstedt, 1967 unter dem Titel »Hövdingen«]
1959 Foul Play
[Reinbek: Rowohlt, 1982]
Vinden och regnet
[Stockholm: Norstedt, 1961]
1961 Wind und Regen
[Reinbek: Rowohlt, 1983]
Lastbilen
[Stockholm: Norstedt, 1962]
1962 Das Lastauto
[Berlin: Volk und Welt, 1969]
[Reinbek: Rowohlt, 1980]
Uppdraget
[Stockholm: Norstedt, 1963]
1963 Libertad!
[Reinbek: Rowohlt, 1980]
Mord på 31:a våningen(*)
[Stockholm: Norstedt, 1964]
1964 Mord im 31. Stock
[Reinbek: Rowohlt, 1977]
Det växer inga rosor på Odenplan
[Stockholm: Norstedt, 1964]
1964 Von Schiffen und Menschen
[Reinbek: Rowohlt, 1988]
Generalerna
[Stockholm: Norstedt, 1965]
1965 Die Generale
[Reinbek: Rowohlt, 1981]
Stålsprånget (*)
[Stockholm: Norstedt, 1968]
1968 Unternehmen Stahlsprung
[Reinbek: Rowohlt, 1980]

 

(*) In beiden Romanen ist Inspektor Jensen die Hauptfigur - eine Miniserie, wenn man so will.

 

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