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Kriminalliterarische Lebenszeugnisse aus Kuba

Ein Interview mit Leonardo Padura. Von Doris Wieser

 

Leonardo Padura Nachdem Leonardo Padura (1955) am 8. November in Havanna einen Vortrag über eines seiner Lieblingsthemen, den berühmten kubanischen Schriftsteller Alejo Carpentier, gehalten hatte, konnte ich mich mit ihm über sein anderes Lieblingsthema unterhalten, den Kriminalroman. Leonardo Padura, der zunächst durch seine journalistischen Arbeiten in Kuba bekannt wurde, gilt heute als der populärste und innovativste Kriminalschriftsteller des Karibiklandes. Der Serienheld seines "Havanna-Quartetts" (erscheint beim Unionsverlag) ist der etwas chaotische, unzufriedene, enttäuschte und ironische Ermittler Mario Conde. Dank des erstaunlichen Erfolgs und der großen Beliebtheit der Romanfigur schrieb Leonardo Padura nach den zunächst geplanten vier Romanen des Quartetts, Pasado perfecto (1991; Ein perfektes Leben, 2003), Vientos de cuaresma (1994; Handel der Gefühle, 2004), Máscaras (1997; Labyrinth der Masken, 2005.) und Paisaje de otoño (1998; Das Meer der Illusionen, erscheint im Herbst 2005.) noch einen fünften Conde-Roman, Adiós, Hemingway (2001). Momentan arbeitet er schon am sechsten mit dem Titel La neblina del ayer, der 2005 auf Spanisch erscheinen wird. Zu seinem Werk zählt außerdem ein ambitionierter Roman über Kubas ersten romantischen Dichter und Nationalhelden José María Heredia, La novela de mi vida (2002).

 

Doris Wieser: Sie haben schon fünf Kriminalromane geschrieben. Dennoch scheinen Sie kein typischer Genreautor zu sein, da zu Ihrem Gesamtwerk auch der Roman La novela de mi vida über den kubanischen Nationaldichter José Maria Heredia gehört. Außerdem haben Sie verschiedentlich ihre Romane "falsche Kriminalromane" genannt, da Sie die Kriminalhandlung dazu benutzen, völlig andere Dinge zu sagen. Wenn dem so ist, weshalb haben Sie dann überhaupt dieses Genre gewählt? Und was vermag dieses Genre, was nicht auch auf andere Weise ausgedrückt werden könnte?

Ein perfektes Leben Leonardo Padura: Ich glaube, dass ich das Genre Kriminalroman eher benutze als dass ich es schreibe. Ich spreche von "benutzen", weil ich Formen und Strukturen des Kriminalromans verwende mit dem Ziel, meine Literatur in eine Literatur zu verwandeln, die all das widerspiegelt, was in den letzten Jahren das Leben und die Gesellschaft auf Kuba gekennzeichnet hat, ausgehend von einer sehr persönlichen Sicht der kubanischen Wirklichkeit.
      Der Kriminalroman hat für mich eine große Tugend. Sie besteht darin, dass das Genre ein sehr dankbares ist, wenn man es mit einer literarischen Perspektive und Struktur schreibt - und bekanntlich gibt es ja viele Kriminalromane, die das Literarische kaum berühren. Aber dieses Genre ist von sich aus schon sehr literarisch. Es versetzt einen direkt hinein in die Realität und die Gesellschaft, wo sie am dunkelsten sind. Im Kriminalroman geht es ja um Verbrechen wie Vergewaltigungen und Raubüberfällen und somit um die Probleme der Gesellschaft. Diese Tugend des Kriminalromans ist für mich sehr wichtig, weil ich eine Literatur schreiben möchte, die in gewisser Weise Zeugnis darüber ablegt, wie das Leben auf Kuba in diesen Jahren gewesen ist. Dieses Ziel verfolge ich schon seit ich Ein perfektes Leben, den ersten Roman des Quartetts, geschrieben habe.
      Es ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass es in Kuba keinen Journalismus gibt, der all die Gegensätze unserer Wirklichkeit verarbeiten würde. Beim kubanischen Journalismus, dem innerhalb Kubas, handelt es sich um einen offiziellen Journalismus, da die Zeitungen dem Staat gehören. Und was außerhalb Kubas geschrieben wird, versucht meist die schlechtesten Seiten der kubanischen Gesellschaft herauszukehren, um eine bestimmte Stimmung zu erzeugen. Diese beiden Pole stehen in einem antagonistischen Verhältnis zueinander. Daher wollte ich - ausgehend von meiner Sichtweise auf eine Realität, die ich sehr gut kenne - über Kuba sprechen und dabei nicht nur meine persönliche Anschauung, sondern auch die meiner Generation zum Ausdruck bringen, ihren Frust, ihre Hoffnungen und Enttäuschungen. Darum gibt es einen spürbaren Anteil an Kriminalstruktur in meinen Romanen. Aber ich glaube, in ihnen steckt noch viel mehr. Ich fühle mich auch nicht als Kriminalschriftsteller, obwohl ich schon fünf Kriminalromane geschrieben habe und gerade einen sechsten beende - übrigens alle mit der Figur des Mario Conde.
      Mein Interesse liegt wirklich nie darin, wer wen umgebracht hat, sondern in der Frage, warum jemand einen anderen umgebracht hat, warum einer geraubt hat und wie er es gemacht hat. Das Wer ist am unwichtigsten, das Wie und Warum aber interessieren mich.

Doris Wieser: La novela de mi vida ahmt einige Strukturelemente des Kriminalromans nach, denken wir beispielsweise in die Informationssuche durch Befragung Betroffener. Wo befinden sich also die Grenzen des Genres bzw. was wäre Ihre Minimaldefinition für Kriminalroman?

Leonardo Padura: Auch wenn es nicht so aussieht, glaube ich, dass von all meinen Romanen La novela de mi vida am meisten von einem Kriminalroman hat, denn die Suche und die Ermittlung sind zentral in diesem Roman, wie auch das Finden der "Täter" in der Handlung um Fernando Terry in der Geschichte um Heredia und dem Schicksal, das seine Schriftstücke in den Textpassagen über seinen Sohn erleiden. Ich glaube, dass heutzutage die Grenzen des Kriminalromans - und ich spreche jetzt nicht mehr vom klassischen Kriminalroman à la Agatha Christie, auch nicht vom amerikanischen hard-boiled von Chandler und Hammett, sondern vom zeitgenössischen Kriminalroman - dass sich die Grenzen verloren haben. Was übrig bleibt, ist die Absicht, einen bestimmten Romantypus zu schreiben, der Merkmale des Kriminalromans aufweist. Zum Beispiel ist eines der Modelle für das, was man als den zeitgenössischen Kriminalroman bezeichnen könnte, die Literatur von Rubem Fonseca aus Brasilien. Er schreibt keine Kriminalliteratur und tut es gleichzeitig doch, da er über die Stadt, über Gewalt und über Angst schreibt. Diese Elemente interessieren auch mich, obwohl meine Welt nicht die Welt eines Rio de Janeiro ist, wo sich Fonsecas Literatur bewegt. Aber diese Machart, bestimmte Erzählstrategien des Kriminalromans zu verwenden, ohne dabei an Grenzen zu denken, nähert auch meine Literatur an das Genre an.
      In dem Roman, den ich gerade schreibe, La neblina del ayer, - ich bin schon bei den letzten Revisionen - erfolgt der Mord erst in der Hälfte des Romans. Der Leser hat also schon 150 Seiten hinter sich, ohne dass ein Mord begangen wurde. Man spürt, dass in der Vergangenheit etwas Seltsames passiert ist, aber in der Gegenwart ist noch absolut nichts vorgefallen. Dies widerspricht der gängigen Kriminalhandlung und trotzdem ist mein Roman ein Kriminalroman. Ich glaube, die große Freiheit der zeitgenössischen Literatur darin besteht, dass sie erlaubt, dass so viele Autoren dieses Genre pflegen, indem sie es im Prinzip als urbane Literatur über Gewalt, Angst und Unsicherheit in den Städten begreifen. Und das bleibt weiterhin Kriminalliteratur.

Doris Wieser: Der kubanische Kriminalroman blickt noch auf eine relativ kurze Tradition zurück. In den 70er Jahren transportierte er vor allem politische Inhalte. Jedoch kann man mittlerweile eine Entpolitisierung der kubanischen Literatur im Allgemeinen feststellen und Fidel Castros berühmt-berüchtigtes Diktum:"Innerhalb der Revolution alles, außerhalb der Revolution nichts" hat an autoritärer Schärfe verloren. Durch was zeichnet sich nichts desto trotz die spezielle Bedingtheit des kubanischen Kriminalromans aus?

Leonardo Padura: Das grundlegende Merkmal des traditionellen kubanischen Kriminalromans, der in den 70ern und 80ern geschrieben wurde, war sein exzessiv politischer Charakter. Das war eine sehr politisierte Literatur, die versuchte die Probleme der Gesellschaft zu reflektieren, die sich immer zum Guten lösen ließen, dank des Eingreifens einer sehr effizienten Polizei und sehr sendungsbewussten Ermittlungsorganen. Diese Literatur hat sich so stark politisiert, dass sie schließlich von der Politik verschlungen wurde, obwohl man diese Gefahr von Anfang an gesehen hat.
      Als ich angefangen habe, Kriminalliteratur zu schreiben, bestand meine grundlegende Absicht darin, einen Kriminalroman zu schreiben, der sehr kubanisch sein sollte und gleichzeitig dem kubanischen Kriminalroman in nichts ähnelte. Ich habe versucht, mich von dieser spürbaren Tradition zu trennen und mit meinen Romanen eine sehr viel tiefgreifendere Analyse der kubanischen Gesellschaft vorzunehmen und zwar anhand ihrer Menschen, ihrer Mängel, anhand all der Dinge, die uns während dieser Jahre begleitet haben und die nicht gerade heldenhaft sind. Daher teilen meine Bücher im Kontext der kubanischen Literatur der 90er die Merkmale der Werke von der Mehrheit aller Autoren, die in diesen Jahren geschrieben haben. Da ist dieses Gefühl von Enttäuschung, dieses nostalgische Rückbesinnen auf die Vergangenheit, diese ein wenig apokalyptische Vision von Havanna und der kubanischen Gesellschaft, die in den Büchern von Abilio Estévez, Pedro Juan Gutiérrez und Jesús Díaz spürbar sind.
      Ich glaube, das Wichtigste für mich als Autor war, mir kein Ghetto zu erschaffen, mich selbst nicht als einen Genreautor zu begreifen, der die Sorgen der übrigen Autoren nicht teilt. Im Gegenteil, ich habe mich immer wie einer mehr unter den kubanischen Schriftstellern gefühlt, einer mit der besonderen Eigenschaft, dass er Romane schreibt, die Kriminalromane zu sein scheinen.

Doris Wieser: Inwiefern glauben Sie, dass Ihre Literatur immer noch unter den Einschränkungen, die ihr die Zensur auferlegt hat, leidet?

Handel der Gefühle Leonardo Padura: Ich fühle mich wirklich sehr frei von diesen Einschränkungen. Ich habe versucht und dies wahrscheinlich auch erreicht, mit meinen Romanen eine ziemlich schonungslose Chronik des kubanischen Lebens der letzten dreißig, vierzig Jahre zu schreiben. Und dabei gehe ich jedes Mal noch weiter in die Vergangenheit zurück auf der Suche nach diesem "perfekten Leben". In meinem neuesten Roman beginnt die Handlung sogar schon in den 50ern. Ich behandle also jedes Mal eine größere Zeitspanne in Richtung Vergangenheit und in Richtung Gegenwart, denn der neue Roman spielt 2003 und nicht mehr 1989, wie die Romane des Havanna-Quartetts.
      Ich fühle mich also sehr frei von Einschränkungen, von dieser vorurteilsbehafteten und engen Sichtweise auf die Realität, die den kubanischen Kriminalroman beherrschte. Glücklicherweise sind ein paar Dinge geschehen, die sehr wichtig waren für mein Literaturverständnis. Erstens hat sich die kubanische Gesellschaft in den 90er Jahren grundlegend verändert. Die Krisenjahre haben beispielsweise unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit auf Kuba verändert und sie haben auch die Wirklichkeit selbst verändert. Eine dieser Veränderungen war, dass die Autoren jetzt die Möglichkeit haben - und das war früher nicht so - mit absoluter Freiheit ihren Verleger zu suchen und zu finden. Die Tatsache, dass ich meine Verleger außerhalb Kubas habe - und das sage ich, obwohl mein fundamentales Ziel bleibt, meine Bücher in Kuba zu veröffentlichen, und bisher wurden auch alle in Kuba veröffentlicht - gibt mir Ruhe, wenn ich mich ans Schreiben mache. Ich weiß, dass ich in diesem Sinne mit absoluter Freiheit schreiben kann, obwohl ich auch weiß, dass es Grenzen gibt, die ich nicht überschreiten darf, damit meine Bücher weiterhin in Kuba verlegt werden, so wie ich das möchte. Aber diese Grenzen möchte ich auch gar nicht überschreiten, denn würde ich das tun, so gelangte ich ins offene Feld der Politik. Ich habe kein Interesse daran, dass meine Literatur sich in politische Literatur verwandelt, denn egal ob man für oder gegen etwas schreibt, Literatur, die sich auf das Feld der Politik begibt, droht immer von dieser verschlungen zu werden.

Doris Wieser: Die Polizeiorgane, die Sie in Ihren Romanen erwähnen (z.B. die Zentrale der Kripo) gibt es nicht unter diesen Namen auf Kuba. Wenn die Strukturen der kubanischen Polizei also nicht denen der fiktiven Polizei Ihrer Romane entsprechen, welche Funktion erfüllt diese Fiktionalisierung?

Leonardo Padura: Einer der Fehler der Autoren des Kriminalromans und auch anderer Autoren auf Kuba war, dass sie in der Literatur die Arbeit der wirklichen Polizei reproduzieren wollten. Das ist ein Fehler in jeder Hinsicht, weil die Realität nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten funktioniert. Ein Polizist aus der Wirklichkeit muss beispielsweise ein Reglement einhalten. Aber diese Gesetzmäßigkeiten, diese Reglements, dieser echte Polizist funktionieren in der Literatur nicht. Die Literatur hat ihre eigenen Regeln, ihre eigenen Beziehungen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, die man als Autor beachten muss. Daher erfinde ich eine mögliche kubanische Polizei. Wenn jemand wie Mario Conde in eine Polizeistation hineingehen würde, egal wo auf der Welt, nicht nur in Kuba, dann würde man ihn nach zwei Wochen wieder rauswerfen wegen Unfähigkeit. Conde hat keine Ahnung von Ermittlungsverfahren in einem Kriminalfall. Er ist undiszipliniert, unverschämt und ironisch. Was mir wichtig war, ist, dass diese Person als literarische Figur funktionierte und nicht als Polizist in der Realität. Daher entwerfe ich für ihn auch eine fiktive Polizei mit Personen, die ihn umgeben, manche diszipliniert, manche korrupt, andere mit Autorität. Ich brauche diese Körperlichkeit eines Polizeiuniversums, damit sich Conde darin bewegen kann. Dabei entwerfe ich es immer als fiktives Universum, denn der Kriminalroman kann lediglich dann den Anschein von Wahrscheinlichkeit erwecken, wenn er sich von der Wirklichkeit entfernt und seine eigene Wirklichkeit erschafft. Und das versuche ich mit diesen Romanen zu erreichen.

Doris Wieser: Welchen Ruf hat Ihrer Meinung nach die kubanische Polizei?

Leonardo Padura: Normalerweise, wenn man irgendwo auf der Welt einen Polizisten sieht, spürt man, dass er ein Repräsentant einer Ordnungsmacht ist, die neben anderen Funktionen eine repressive Funktion ausübt, und das halte ich für grundlegend. In Kuba gibt es natürlich verschiedene Arten von Polizei. Es gibt die policía científica (wissenschaftliche Polizei), die spezialisierte Verbrechensermittlung betreibt und auf sehr hohem wissenschaftlichen Niveau arbeitet. Diese Art von Polizei sieht man als Normalbürger nie. Daneben gibt es die policía política (politische Polizei), die in Kuba von den Organen der Staatssicherheit verkörpert wird, welche in der historischen Auseinandersetzung mit den USA eine zentrale Rolle gespielt haben. Es gibt eine Polizei, die auf der Straße agiert und mit dem Bürger in Kontakt kommt. Wenn man diese Polizei sieht, möchte man lieber, dass sie ziemlich weit weg bleibt, auch wenn man weiß, dass sie einen im Zweifelsfall schützen kann.
      Vor ein paar Tagen waren meine Frau und ich in Paris und nahmen die Metro spät nachts. Die Metro von Paris ist friedlich, ruhig, aber man kennt ja auch die Metro von Mexiko-City oder São Paulo und daher kommt einem die U-Bahn immer ein bisschen gefährlich vor. Als wir reinkamen, stand da ein Polizist mit einem Hund und meine Frau sagte zu mir: "In solchen Momenten beruhigt es mich, einen Polizisten zu sehen, denn der kann mir den möglichen Schutz bieten." Dasselbe geschieht aber nicht, wenn man sich in Mexiko befindet, wo alle Leute immer sagen: "Wenn du einen Polizisten siehst, dann geh über die Straße den anderen Häuserblock entlang. Es ist besser, weit weg von der Polizei zu sein."
      Die kubanische Polizei ist in der Wahrnehmung der Leute keine repressive Polizei und das war sie auch nie. Ich glaube, das war eines der Dinge, auf die das kubanische Innenministerium am meisten geachtet hat. Jedoch verspüren die Leute immer Abneigung gegen eine aufgezwungene Ordnung. Aber gleichzeitig haben sie Respekt vor der kubanischen Polizei. Im Falle des Kriminalromans stößt sogar ein Typ wie Mario Conde auf große Akzeptanz bei den Lesern, obwohl er Polizist ist. Die Leser identifizieren sich mit ihm als Romanfigur, als Mensch aus einer möglichen kubanischen Realität. Das kommt vor allem daher, dass die Charaktereigenschaften des Conde sehr menschlich sind. Diesbezüglich ist mir schon etwas Seltsames passiert und zwar haben mir Leute, die viele Jahre in der Polizei als Ermittler gearbeitet haben, verschiedentlich gesagt: "Ich bewundere Mario Conde sehr." Und ich antworte dann immer: "Aber wie ist das möglich, wo Mario Conde doch eine Katastrophe ist und absolut keine Ahnung von Verbrechensermittlung hat?" Und sie antworten dann: "Glaub das doch nicht! Natürlich hat Mario Conde eine Ahnung davon und er weiß sogar sehr viel!" Und dann verteidigen sie Mario Conde mehr als ich selbst. Solche Gespräche sind für mich eine große Bestätigung.

Doris Wieser: Welche Art von Kontakt hatten Sie persönlich zur Polizei? Haben Sie zum Beispiel die Kriminalpolizei bei ihrer Arbeit begleitet?

Labyrinth der Masken Leonardo Padura: Nein, ich hatte noch nie Kontakt mit der Polizei und das beruht auf einer bewussten Entscheidung. Da ich ja diese Freiheit suche, von der wir vorher gesprochen haben, diese Möglichkeit, eine von der wirklichen Polizei unterschiedliche Welt zu erschaffen, zog ich es vor, sie nicht zu kennen. Ich wollte lieber nur die Vorstellungen davon haben, die jeder von uns über die Arbeitsweise von Polizeiorganen hat. Ich meine damit Grundkenntnisse, die man in jedem beliebigen Buch über Fingerabdrücke, Blutgruppen und Spurensuche am Tatort nachlesen kann, diese elementaren Dinge, die jeder kennt. Aber ich besitze keine Kenntnisse über das Innenleben der Polizeiarbeit, weil ich eben denke, dass ich viel, viel freier bin, wenn ich mir diese mögliche oder wahrscheinliche Polizeiarbeit selbst ausdenke. Daher wollte ich keinen Kontakt mit der Polizei, keine Innenansicht über ihre Arbeit auf Kuba oder sonst wo.

Doris Wieser: Sie haben ein großes Interesse an der Neuinterpretation historischer Quellen und im Speziellen an Biographien von Schriftstellern an den Tag gelegt. Dazu gehören vornehmlich José Maria Heredia in La novela de mi vida und Ernest Hemingway in Adiós Hemingway. Aber Sie scheinen auch einen Teil von Virgilio Piñeras Leben in Labyrinth der Masken nachzuerzählen, dem berühmten kubanischen, homosexuellen Dramatiker, auch wenn hier wohl die Biographien mehrerer Personen paradigmatisch zusammenfließen. Worin besteht für Sie die Herausforderung, mit historischen Themen zu arbeiten, und was leistet die Literatur im Speziellen gegenüber der Historiographie?

Leonardo Padura: Ich sehe schon, dass deine Fragen immer schwieriger werden wie in einer Spirale, die nach oben führt. Also, ein wichtiger Teil meiner Arbeit bestand immer in der Forschung und im Verfassen von literaturwissenschaftlichen Essays. Dass ich viele Jahre lang in diesem Bereich gearbeitet habe, sieht man ja deutlich an meinen Büchern über Alejo Carpentier, über den Inca Garcilaso, mein erstes Buch, und über die Persönlichkeit und das Werk verschiedener anderer kubanischer und lateinamerikanischer Autoren. Diese Art von Arbeit hat mir auch das Handwerkszeug für die Nachforschungen für meine Romane geliefert. Im Falle Heredias habe ich zum Beispiel am Ende bemerkt, dass ich nicht alles in dem Roman gesagt habe, was ich über Heredia hätte sagen wollen. Daher musste ich noch einen Essay schreiben, der nach dem Roman veröffentlicht wurde. Es handelt sich um einen wissenschaftlichen oder historiographischen Essay, in dem ich die Person Heredias in Bezug auf ihr Verhältnis zum aufkommenden Vaterlandsbegriff in Kuba verorte. Das ist ein zu schwieriger Begriff für die Verarbeitung in einem Roman. Aber ich konnte dennoch über Heredia schreiben, weil ich Kenntnisse über Leben und Werk des Dichters hatte, die mir dies erlaubten. Interessanterweise entschloss ich mich aber zu einem bestimmten Zeitpunkt meiner Nachforschungen dazu, nicht mehr weiter zu forschen. In diesem Moment spürte ich, dass ich die Schlüssel für das Verständnis der Person in den Händen hielt und das Wesentliche ihrer Biographie beherrschte. Der nächste Schritt hätte nämlich bedeutet, einen wissenschaftlichen Ansatz zu konstruieren und einen Essay zu schreiben. Aber ich wollte ja einen Roman schreiben. In so einem Moment muss man sich also sagen, nun gut, das was noch übrig ist, muss die Vorstellungskraft, die Literatur lösen. Das habe ich mit Heredia so gemacht und in gewisser Weise auch mit Hemingway, einer sehr viel bekannteren Persönlichkeit, über die es sehr viel mehr Material gibt. Aber der Kern der Übung ist derselbe: an einem bestimmten Punkt aufzuhören und die Leerstellen der Vorstellungskraft zu überlassen.
      In meinem Roman La novela de mi vida nehme ich mir beispielsweise einen Satz auf dem Buch Roots von Alex Haley zum Grundsatz. Nicht alles, was in diesem Buch passiert, ist wahr. Teile davon sind Fiktion. Aber es handelt sich um eine Fiktion, die von einer sehr sorgfältigen Erforschung der Wahrheit und der Geschichte ausgeht. Daher könnten die Dinge, die in Wirklichkeit nicht passiert sind, tatsächlich doch passiert sein, oder müssten meinen Nachforschungen zufolge sogar passiert sein. Diese Methode, dieses Konzept nahm ich für La novela de mi vida zum Modell. Nicht alles, was passiert, ist Wirklichkeit, aber es hätte in der Wirklichkeit so passieren können, weil meine Nachforschungen es mir erlaubten, sicher zu wissen, dass ich mich innerhalb des Wahrscheinlichen bewegte. Wahrscheinlichkeit ist das Schlüsselwort in der Literatur, viel mehr als Realismus, oder Wiederspiegelung. Was ein Schriftsteller zu tun versucht, ist, eine Geschichte für den Leser wahrscheinlich erscheinen zu lassen, vor allem für den zeitgenössischen Leser. Und diese Wahrscheinlichkeit erreicht man eben durch eine sehr breite Kenntnis der Epoche. Diese Kenntnis ermöglicht mir gleichzeitig, frei zu erfinden, weil sie mir erlaubt, Beziehungen herzustellen, die nicht existieren.

Doris Wieser: Sprechen wir nun ein bisschen über Mario Conde. Von Roman zu Roman hasst el Conde es zunehmend, Polizist zu sein, bis er schließlich in Das Meer der Illusionen seine Entlassung erwirkt und sich nun voll dem Schreiben widmen kann. Er scheint viel zu sensibel zu sein, um im Leben und Leiden der Menschen "wie ein Aasgeier zu herumzuwühlen, um tonnenweise Hass, Angst, Neid und überkochende Unzufriedenheit zu Tage zu fördern" (Handel der Gefühle, 50). Auf der anderen Seite ist er ein sehr guter Ermittler, "der beste der Zentrale". Wie steht es aber mit seiner sozialen Verantwortung, die er in der Verbrechensbekämpfung übernommen hat?

Leonardo Padura: Mario Conde als feinfühliger Mensch mit einer Lebenseinstellung, die beinahe die eines Schriftstellers oder Künstlers ist, ist eine sehr individualistische Person. Er hat seine Welt auf ein paar sehr eingegrenzte Aspekte reduziert, die er für außerordentlich stabil hält. Dazu gehören sein Freundeskreis, seine Bücher und schließlich ein Hund, den er auf der Straße aufliest, in Das Meer der Illusionen. Auch Tamara, die Frau, die er immer geliebt hat, gehört dazu. Er umgibt sich mit einem Mikrokosmos, in dem er spürt, dass er der Mensch sein kann, der er ist. Deshalb ist es für ihn wichtiger, diese Auseinandersetzung mit sich selbst zu vollziehen, als an eine soziale Notwendigkeit seiner Arbeit zu denken. Seine Selbstfindung musste er viele Jahre aufschieben wegen einer Arbeit, die nicht die Art von Arbeit ist, die er hätte machen wollen,. In Adiós, Hemingway ist Mario Conde kein Polizist mehr. Aber die Reflexion darüber, was für ihn der Abschied von der Polizei bedeutet hat, finden sich erst in dem Roman, den ich gerade beende und der vierzehn Jahre nach seinem Ausscheiden spielt. Er verlässt die Polizei 1989 und der neue Roman spielt 2003. Jetzt hat Mario Conde genügend Distanz, um außerhalb der Polizei zu einem neuen Selbst zu finden. Es stellt für ihn eine große Befriedigung dar, diesen Schritt vollzogen zu haben. Weil el Conde so ist, wie er ist, gehörte er nie zur Seite der Macht und der Ordnung, sondern im Gegenteil immer zu den Unzufriedenen. Deshalb fühlt er sich besser, nachdem er die Polizei verlassen hat.

Doris Wieser: In Ihren Romanen wiederholen sich einige Konstanten, die der Serie ihre Identität verleihen und aufgrund derer der Leser mit den immer wieder auftauchenden Personen sympathisiert. Ich denke da vor allem an die Freundschaft zwischen el Conde und dem dünnen Carlos in seinem Rollstuhl und daran, wie die beiden sich einander anvertrauen und kubanischen Rum trinken. Diese Treffen gleichen einer Hommage an die Freundschaft. Können Sie ein bisschen über die Bedeutung der Freundschaft auf persönlicher und auf gesellschaftlicher Ebene in Kuba sprechen?

Das Meer der Illusionen Leonardo Padura: Auf persönlicher Ebene übertrage ich in gewisser Weise viele meiner Lebenseinstellungen und Besorgnisse auf Mario Conde. Mario Conde ist nicht mein alter ego, aber er verkörpert in vielerlei Hinsicht die Art und Weise, wie ich die kubanische Realität und auch die Innensicht der Menschen wahrnehme. Deshalb gibt Mario Conde viele meiner Verhaltensweisen wieder. Eine dieser Verhaltensweisen ist mein Streben nach Freundschaft. Ich glaube die Freundschaft ist eines der größten Schätze, die der einzelne besitzen kann. Die Freundschaft ist das, was einen auf gewisse Weise als Person vervollständigt. Vor allem in einem bestimmten Lebensabschnitt, am Ende der Pubertät und am Anfang des Jugendalters, werden die großen Freundschaften geschlossen. Man beginnt, sich als Individuum zu definieren, ausgehend von dem, was einem die anderen entgegen bringen.
      Ich hatte sehr viel Glück mit diesen Freundschaften, von denen ich viele erhalten konnte. Manche Freunde sehe ich schon mal sechs Monate nicht, einer wohnt mal in New York und ich sehe ihn nur alle drei Jahre, oder einer wohnt in Madrid und ich sehe ihn einmal im Jahr, aber dennoch sind sie alle weiterhin meine Freunde und ich weiß, dass sie da sind. Das ist sehr wichtig für mich.
      Auch auf gesellschaftlicher Ebene ist Freundschaft in Kuba sehr grundlegend. Sie ist essentiell, weil es hier noch eine übergeordnete Art der Freundschaft gibt, die Fraternität. Fraternität kommt ja von frater, Bruder auf Latein, und bedeutet Brüderlichkeit. Hierbei handelt es sich um etwas anderes als um Solidarität. Solidarität ist sehr wichtig, aber Brüderlichkeit ist etwas viel Intimeres, etwas viel Innerlicheres. Ich glaube, in Kuba hat uns diese Fraternität sehr geholfen zu leben, da wir so viel Mangel erlitten haben, so viel Not, und eine Zeit lang Angst davor hatten, was in der nahen Zukunft oder schon in der Gegenwart passieren würde. Die Brüderlichkeit ist aber nicht nur im geistigen, sondern auch im ökonomischen Sinne wichtig, da wir so viele Probleme in Angriff nehmen mussten, dass das Bedürfnis nach einem Freund, einem frater, ganz elementar für unser Weiterleben war.

Doris Wieser: Eine der auffälligsten Eigenschaften Mario Condes ist seine Nostalgie, der große Schmerz, den empfindet, wenn er an die Vergangenheit denkt, seine Jugendzeit, die letzten Schuljahre im Gymnasium von La Víbora, als er und seine Freunde "arm und sehr glücklich waren". Jeder der Freunde hatte große Zukunftspläne, die auf die eine oder andere Weise in die Brüche gegangen sind. Die Hoffnungen der Jugendlichen wurden nicht erfüllt und was zurückblieb, ist diese Nostalgie. Inwiefern repräsentiert el Conde in diesem Sinne eine ganz bestimmte kubanische Generation und inwiefern wird hier eine conditio humana angesprochen?

Leonardo Padura: El Conde ist nicht nur ein Enttäuschter, er ist auch ein Nostalgiker, der immer versucht, eine Welt zu rekonstruieren, die mehr imaginär als real ist. Denn die Erinnerung und die Nostalgie verändern immer unsere Sichtweise auf die Wirklichkeit. Diese idyllische und romantische Sichtweise, verdankt Conde seiner nostalgischen Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die viel weiter zurück reicht, als seine persönliche Vergangenheit und seine eigenen Erlebnisse. Er sehnt sich auch nach anderen, früheren Leben, die er durch Dinge, die er gelesen und gehört hat, gelebt hat. Er übernimmt die Nostalgie der anderen und empfindet sie, als wäre sie seine eigene.
      Das Havanna der 50er fasziniert ihn zum Beispiel. Aber es handelt sich dabei um eine erworbene Nostalgie und nicht um eine gelebte. Diese ganz persönliche Sichtweise des Conde hat tatsächlich viel mit meiner Generation zu tun, der ersten Generation, die voll und ganz innerhalb der revolutionären Kubas erzogen und ausgebildet wird. Im Revolutionsjahr 1959 war ich vier Jahre alt. Das heißt, dass ich mein ganzes Erwachsenenleben innerhalb des revolutionären Prozesses gelebt habe. Meine Schulzeit beginnt erst nach dem Triumph der Revolution. Wir sind innerhalb dieses Prozesses aufgewachsen und waren Teil von ihm, da wir zuerst als Studenten und dann als Leute, die in den 80er Jahren zu arbeiten begonnen haben, Menschen waren, die direkt am Revolutionsprozess beteiligt waren. Unsere Weltanschauung und unsere Denkweise wurden vom Leben im revolutionären Kuba geprägt. Als 1989/90 diese Wirklichkeit beginnt, sich zu verändern, nicht nur auf Kuba, sondern auch vor allem in Europa und der Sowjetunion, die als Staat auseinander bricht, fingen wir an, die Wirklichkeit anders wahrzunehmen und eine komplexere und tiefere Sichtweise auf unsere eigenen Jahre in Kuba und das Leben in Kuba insgesamt zu entwickeln. Beispielsweise die Vorstellung, dass die Berliner Mauer - das materielle Zeichen dafür, dass es in der Welt zwei verschiedene Systeme gab - verschwinden könnte, war etwas, was wir uns nie hatten vorstellen können. Und ich glaube, so ist es auch vielen Deutschen gegangen. Sie dachten, dass die Mauer für immer da sein würde, dass sie zur ewigen Zukunft des Landes gehörte. Und als die Mauer fiel, drangen zu uns Geschichten, von denen wir uns nicht vorstellen konnten, dass sie wirklich passiert waren. Das war unvermeidlicherweise ein großer Schock.
      Dazu kommt, dass Kuba in diesen Jahren eine tiefe wirtschaftliche Krise durchlitt. Kuba blieb allein zurück, verlor seine Handelspartner, verlor die Unterstützung der Sowjetunion und der sozialistischen Staaten und wir haben hier sogar gehungert. All das hat die Denkweise der Kubaner und im Speziellen der Kubaner meiner Generation aufgerüttelt. All das überrascht meine Generation an einem Punkt, an dem sie an ihrem vermeintlichen Höhepunkt steht. Wenn ich 1955 geboren wurde, dann war ich 1990 genau 35 Jahre alt, das heißt, ich war am Höhepunkt meiner Möglichkeiten, alle Ausbildungen waren abgeschlossen aber gleichzeitig war ich noch jung. Und dann bricht die Welt auf einmal auseinander, die Welt im Allgemeinen und im Speziellen in Kuba.
      Zum Glück war aber die Literatur meine Rettung. In diesen Jahren habe ich sehr viel gearbeitet. Ich habe dieses Buch über Alejo Carpentier geschrieben, das 600 Seiten lang ist, ich habe einen Roman geschrieben und dann noch einen. Die Literatur hat mir emotionale Stabilität gegeben. Aber das verhindert nicht, dass meine Generation eine nostalgische Sehnsucht nach jener Zeit empfindet, in der wir glaubten, dass die Dinge besser sein würden.
      In La neblina del ayer, meinem neuen Roman, ist Mario Conde 48. Sein Verhältnis zur Realität ist nicht mehr so unmittelbar, weil er kein Polizist mehr ist. Trotzdem hat er noch viel Kontakt mit dem alltäglichen Leben auf Kuba. Aber während des Schreibens habe ich bemerkt, dass ich noch eine andere Romanfigur brauchte, jemand jüngeren, der Mario Conde zur Seite stehen sollte. Denn die Art und Weise, wie ein junger Mensch von gut zwanzig Jahren in Kuba die Welt betrachtet, ist völlig verschieden von der Sichtweise meiner Generation. Wir sind in einer unterschiedlichen Welt aufgewachsen und haben andere Entwicklungen miterlebt. Mario Conde ist unfähig, diese andere Welt zu verstehen oder zu vermitteln, und daher musste ich ihm einen Helfer für seine Ermittlungen zur Seite stellen. Es handelt sich genauer genommen um seinen Sozius bei seiner Arbeit als Antiquar. Es ist eine zynische, ungezwungene Person mit einer völlig unpolitischen Sicht auf die Realität, so wie ich sie heute bei der kubanischen Jugend bemerke. Meine Generation wurde enttäuscht, aber das konnte nur geschehen, weil sie geglaubt hatte. Diese neue Generation ist eine Generation von Häretikern, sie haben nie geglaubt.

Doris Wieser: Eine der Neuerungen in Ihren Kriminalromanen gegenüber den traditionellen Romanen des Genres in Kuba besteht darin, dass sowohl Opfer als auch Täter aus hohen Sphären der kubanischen Gesellschaft stammen, das heißt, dass es sich um vermeintlich "vertrauenswürdige" Personen handelt. Wollen Sie die Verbrecher eher als Individuen darstellen oder mit ihnen auf Mängel im politischen System Kubas aufmerksam machen? Welche Reaktionen beabsichtigen damit Sie zu provozieren?

Leonardo Padura: Das war ein wohl überlegter Vorsatz. Ich wollte nicht, dass die Verbrecher in meinen Romanen Typen sind wie ein Schwarzer, der durch ein Fenster einsteigt und eine Blumenvase stielt oder ein Straßengauner, der einem anderen im Kampf einen Messerstich versetzt. Ich habe versucht, die Verbrechenswelt in einen anderen Sektor der Gesellschaft zu verlegen, und zwar in den Sektor dieser Tadellosen, dieser Perfekten, die, wenn sie ein Verbrechen begehen, es für gewöhnlich in größeren Proportionen tun und damit viele Personen in Mitleidenschaft ziehen. In den früheren Kriminalromanen waren die Guten und die Bösen deutlich unterscheidbar. Die Verbrecher waren schlecht, die Polizisten gut, die Agenten des Feindes schlecht, die Agenten der Staatssicherheit gut. All das wollte ich umkrempeln. Deswegen gibt es bei mir korrupte Polizisten und Minister oder Vizeminister, die Verbrecher sind, wie Rafael Morín aus Ein perfektes Leben.
      Selbst Mario Conde, der eine so anziehende Figur darstellt, ist voll von Schwächen. Jedoch sind seine Schwächen in bestimmter Weise innere Schwächen, es sind Schwächen, mit denen man letztendlich sympathisiert. Aber Mario Conde hat eine Charakterstärke, die ich in keinem der Romane weglassen durfte. Er ist anständig. Conde ist ein anständiger Mann. Er musste unbestechlich sein, denn er durfte nicht all die Schwächen haben, die er hat, und gleichzeitig auch noch korrupt sein, das heißt unanständig sein. Ich habe mit sehr viel Sorgfalt seine ethische Sichtweise der Realität gestaltet. Manchmal besäuft er sich, er wird von Frauen betrogen oder kommt zu spät zu einer Besprechung. Aber im Wesentlichen ist Conde ein Mann von unverrückbaren Prinzipien. Das ist sehr wichtig, damit er diese anderen Personen, die scheinbar so tadellos und perfekt sind, verurteilen kann.

Doris Wieser: Im bisher letzten Roman der Conde-Serie, Adiós, Hemingway, ist Conde kein Polizist mehr. Der Fall, den er zu lösen hat, liegt schon Jahrzehnte zurück und zum ersten Mal kann Conde nicht mit letztendlicher Sicherheit nachweisen, wer der Mörder ist. Das liegt zum einen daran, dass die Zeit viele Spuren verwischt hat, und zum anderen daran, dass die am Mord Beteiligten (Hemingway und sein Dienstpersonal), das Geheimnis zu wahren wussten. Ist das der Anfang einer Wende in Ihrer erkenntnistheoretischen Grundhaltung?

Leonardo Padura: Dazu muss ich sagen, dass in diesem Roman das Verbrechen eher literarisch als real ist, weil ich mit dem spiele, was absolute Fiktion über die Geschehnisse der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1958 in Hemingways Haus ist und dem, was in Wirklichkeit in Hemingways Leben in diesem Moment, in dem er schon krank, alt und müde war, passierte. Herauszufinden, wer der Mörder ist, Sicherheit darüber zu haben, hätte daher nichts an Condes Beurteilung von Hemingway geändert, an der Meinung, die er schon hatte, und an der, die sich im Laufe der Ermittlung bei ihm verfestigt. Die ganze Ermittlung hat insgesamt mehr mit den Wünschen Mario Condes als mit der Realität zu tun im Sinne einer möglichen wirklichen Ermittlung. Und gerade deswegen hat ja auch er und kein anderer die Ermittlung übernommen. Wenn wir das, was in Hemingways Haus geschehen ist, und das, was zum selben Zeitpunkt in seinem Leben passierte, auf die Wagschale legen, dann ist in diesem Roman letzteres viel wichtiger. Das erstere ist eine Episode, die kam und ging, ohne allzu große Wichtigkeit zu erlangen. Der Hemingway des Romans ist ein Mann, der Gewalt liebt und fähig ist, inmitten von Gewalt zu leben. Deshalb ist das Wichtigste in diesem Roman, dass Condes Überzeugungen über Hemingway durch die Ermittlungen in Bewegung geraten, und nicht dass ein Täter gefunden wird.

Doris Wieser: Der Roman Adiós, Hemingway ist kürzer und knapper als Ihre vorhergehenden Werke. Die immer wiederkehrenden Konstanten wie die Treffen mit dem dünnen Carlos, das gemeinsame Musikhören, die Besäufnisse und das genüssliche Vertilgen der Gerichte, die Carlos¹ Mutter Josefina stets zubereitet, wurden stark eingeschränkt. Auch das sonst obligatorische Liebesabenteuer wird durch eine flüchtige Verehrung eines gestohlenen Damenslips ersetzt. Meinen Sie, dass sich die charakteristischen Kennzeichen der Conde-Serie abgenützt haben?

Leonardo Padura: Nein, überhaupt nicht, denn alle tauchen in La neblina del ayer wieder auf. Die Geschichte von Adiós, Hemingway ist sehr speziell, da es eine Auftragsarbeit war. Meine brasilianischen Verleger wollten, dass ich einen Roman für eine Serie mit dem Titel "Literatura o muerte" schreibe, und die unterlag mehreren Bedingungen. Erstens, dass es so etwas Ähnliches wie ein Kriminalroman mit einem Schriftsteller als Hauptperson sein sollte. Zweitens, dass der Roman 140-160 Seiten nicht überschreiten sollte. Der Roman durfte also nicht länger sein und daher spürt man diese Beschränkung. Aber ich glaube, dass ich diesem Roman, wenn ich noch 50 oder 100 Seiten mehr geschrieben hätte, nichts Wichtiges hätte hinzufügen können. Ich glaube, dass alles Wichtige schon in diesen 150 Seiten steckt und dass es fast besser so ist. Bei La neblina del ayer ist das anders. Da ist Conde schon viel älter und braucht mehr Raum für Reflexion, um sich in seiner Welt neu zu verorten, weil sie sich auf natürliche Weise verändert in Richtung auf andere Empfindungsweisen. Er geht auf die 50 zu und spürt, dass sich etwas verändert und zwar die Sicherheit darüber, dass seine Freundschaft mit Carlos ewig halten würde. Er sieht jetzt den Verfall von Carlos und das ist ein sehr wichtiges Element in seiner Reflexion.

Doris Wieser: Wenn Sie noch mehr Bücher mit Mario Conde planen, wie kann die Serie weiter gehen, wenn Conde doch kein Polizist mehr ist? Schreiben Sie dann keine Kriminalromane mehr?

Leonardo Padura: Die Romane werden immer weniger Kriminalroman seine, aber dennoch wird die Absicht spürbar bleiben, dass sie sich der Welt der Kriminalliteratur bewegen. Ich weiß noch nicht, wie der nächste Conde-Roman sein wird und ob ich ihn schreiben werde. Ich glaube ja, ich glaube, dass ich noch zwei oder drei Romane mit dem Conde schreiben werde. Aber in La neblina del ayer ist Conde ein Buchhändler für antiquarische Bücher. Durch diese Welt tritt er in ein Geheimnis ein, das Geheimnis um das Leben einer Bolerosängerin aus den 50er Jahren, an die sich niemand mehr erinnern kann. Die Nachforschungen über ihr Leben sind wie eine Schraube, die sich in die Geschichte der kubanischen Gesellschaft der 50er und der von heute hinein dreht. Es ist wie eine Höllenfahrt, die Schraube dreht sich nach unten und stößt auch die harte Realität des kubanischen Lebens auf eine schonungslose und brutale Weise. Da nähere ich mich mehr an die Literatur der Gewalt an, wie der Rubem Fonsecas. Trotzdem gibt es ein Ermittlungsverfahren, weil ein Mord geschieht, in den Conde irgendwie verwickelt wird und ihn deshalb aufklären will.
      Wie das in den nächsten Romanen sein wird, weiß ich noch nicht, aber ich glaube, dass ich immer eine Möglichkeit finden werde, damit Mario Conde weiterhin ermitteln kann.

Doris Wieser: Zum Schluss noch eine philosophische Frage und dazu möchte ich aus Handel der Gefühle zitieren: "Ist Glück möglich?"

Leonardo Padura: Ja und nein. Ich glaube, dass das Glück immer ein vorübergehender und sehr instabiler Zustand ist. Man kann zu einem bestimmten Zeitpunkt Glück empfinden und im nächsten Augenblick kann dieses Glück in dieser Form nicht mehr existieren. Oder man entdeckt das Glück dann in anderen Winkeln des Lebens. Vielleicht denkt man mit zwanzig, dass ein bestimmter Aspekt des Lebens einen nicht glücklich macht, und mit vierzig oder fünfzig findet man heraus, dass er es sehr wohl tut, dass genau dort das Glück liegen kann. Ich glaube, dass für einige Leute das Glück etwas sehr Schlüpfriges ist, das nur schwer festgehalten werden kann. Aber für andere, die vielleicht mehr Bewusstsein darüber haben, dass Glück tatsächlich möglich ist, können diese Momente tatsächlich andauern.

 

© Doris Wieser, 2005

 

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