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"Im Grunde haben wir unsere eigenen Mörder beauftragt"

Ein Interview mit dem peruanischen Schriftsteller Santiago Roncagliolo. Von Doris Wieser

 

Santiago Roncagliolo

Santiago Roncagliolo (Lima, 1975) ist Autor mehrerer Kinder- und Jugendbücher, Drehbücher für Telenovelas, eines blog im Internet, eines Theaterstücks und einer Musicaladaptation von »Animal Farm«. Sein bisher bestes Werk ist jedoch der Kriminalroman »Roter April«, der 2006 den hochdotierten "Premio Alfaguara de novela" in Spanien gewonnen hat und dieses Jahr bei Suhrkamp erschienen ist. In »Roter April« ermittelt der stellvertretende Staatsanwalt Felix Chacaltana auf eigene Faust in der Andenstadt Ayacucho im Fall eines Serienmörders, der seinen Opfern auf bedeutungsvolle Weise ihre Gliedmaßen abtrennt. Chacaltana meint, einen Zusammenhang mit der früheren Terrororganisation "Der Leuchtende Pfad" erkennen zu können, und tatsächlich flammen die Feuer des Terrorismus in einem abgelegenen Andendorf während der Präsidentschaftswahlen nochmals auf. Doch es handelt sich lediglich um ein letztes Zucken einer langen Agonie.

Santiago Roncagliolo war im Juli 2008 in Augsburg zu Besuch, wo er auf der "Brecht Connected" an einer Diskussionsrunde über politische Gewalt teilnahm. Bei dieser Gelegenheit konnte ich mit ihm über sein persönliches Verhältnis zur Kriminalliteratur, über »Roter April« und die peruanische Wirklichkeit sprechen.

 

Doris Wieser: Santiago, du hast schon die unterschiedlichsten Werke geschrieben. Wie schaffst du es, so schnell von einem zum anderen Genre zu springen? Hast du keine Präferenz für eine bestimmte literarische Gattung?

Santiago Roncagliolo: Anfangs war das keine freiwillige Entscheidung. Ich musste eben irgendwie Geld verdienen. Das Schreiben ist keine Arbeit, bei der man immer wählen kann, was man machen will. Ich habe daher alle möglichen Angebote angenommen: Telenovelas, Übersetzungen oder Reportagen. Drehbücher für Telenovelas schreibt man nicht, weil einen die Inspiration packt, sondern weil jemand dafür bezahlt. Ich wusste anfangs nur, dass ich schreiben wollte, und das lernt man am besten, indem man schreibt. Aus den politischen Reden, Reportagen und Kinderbüchern entstanden dann Ideen und ich lernte immer besser zu schreiben. Heute könnte ich von der Literatur leben, aber ich arbeite trotzdem noch als Journalist und versuche mich auch weiterhin in anderen Genres, weil das meine Kreativität ankurbelt.

Doris Wieser: Hier in Deutschland kennen wir dich vor allem durch deinen Kriminalroman »Roter April«. Wie stehst du zum Kriminalroman im Allgemeinen? Warst du schon immer ein Fan des Genres?

Santiago Roncagliolo: Die ersten Kriminalromane, die ich gelesen habe, waren die von Agatha Christie. Ich fand die Frage "Wer ist der Täter?” unterhaltend. Aber ein besonderer Fan von Kriminalromanen war ich damals nicht. Viel mehr hat mich immer das Genre Thriller im Kino fasziniert, insbesondere die Figur des Serienmörders. Wenn ich an meine Vorbilder denke, dann denke ich mehr an Filme als an Bücher: »Sieben«, »Das Schweigen der Lämmer«... oder auch an die Comicreihe »From Hell« von Alan Moore. Das ist eine ziemlich morbide Graphic novel über Jack the Ripper, die aber gleichzeitig die ganze Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts durchleuchtet, von Queen Victoria bis zu den Huren von Whitechapel. So etwas wollte ich auch schreiben, das heißt, einen Serienmörder dazu benutzen, die Gesellschaft zu untersuchen. Außerdem wollte ich vom internen Krieg in Peru erzählen, bei dem 70.000 Personen umgekommen sind. Wir lebten in einer Gesellschaft, in der alle dachten, dass man kaltblütig morden musste.

Roter April

Doris Wieser: Dann hat dich also das Thema zum Genre geführt?

Santiago Roncagliolo: Das Thema und das Genre haben sich gefunden. Mein Interesse für das Genre und die Figur des Serienmörders kommt daher, dass ich mich schon immer sehr für Populärkultur ineressiert habe. Der "schwarze Roman" ist die geeignetste Form, über den Krieg in Peru, Gewalt und Tod zu schreiben und die moralische Doppeldeutigkeit aufzuzeigen, denn in der novela negra sind die Figuren meist moralisch zweideutig (im Gegensatz zum Rätselroman). Und auch als ich mit den Terroristen und Militärs gearbeitet habe, bekam ich diesen Eindruck von moralischer Ambiguität. Keiner von beiden war der Gute und keiner war der Böse. Beide konnten die brutalsten Dinge tun und dabei glauben, dass sie etwas Großes vollbrachten.

Doris Wieser: Die novela negra hat sich in Lateinamerika mittlerweile zu einem beliebten Genre entwickelt. Was verbindet dich mit den Kriminalschriftstellern anderer lateinamerikanischer Länder?

Santiago Roncagliolo: Ich glaube, dass das Genre den Zustand, in dem sich Lateinamerika momentan befindet, sehr gut einfängt. In Lateinamerika haben die Menschen jahrzehntelang an Revolutionsprojekte geglaubt; und die Revolutionäre hielt man für die Guten. Dann hat man bemerkt, dass die erfolgreichen Revolutionen bei Licht besehen auch nicht besser waren als demokratische Regierungen. In den 90er Jahren kippte Lateinamerika so auf die Seite der liberalen Demokratien. Aber jetzt, fünfzehn Jahre danach, sind die Probleme der Armut und Ungleichheit immer noch nicht beseitigt. Ich glaube, dass die Atmosphäre momentan in Lateinamerika auf beiden Seiten sehr skeptisch ist. Man ist sehr sensibel für moralische Doppeldeutigkeit und das kann die novela negra sehr gut einfangen.

Doris Wieser: In »Roter April« behandelst du ein ganz ernstes Thema. Auf der anderen Seite ist für viele Leser der Kriminalroman aber in erster Linie Unterhaltung. Bist du im Verlag oder bei den Lesern auf Vorurteile gestoßen?

Santiago Roncagliolo: Ich glaube, das ist ein Generationsproblem, sowohl in Europa als auch in Lateinamerika, und hängt mit den Veränderungen seit dem 20. Jahrhundert zusammen. Bis dahin repräsentierten die Intellektuellen die Hochkultur und schätzten die Populärkultur gering. Aber diese Linien wurden genauso wie jene zwischen Gut und Böse immer mehr verwischt. Meine Generation wurde während des Aufwachsens mit Populärkultur bombardiert, vor allem durch das Fernsehen. Das gehört zu unserer Kultur.

Ich wollte daher mit dem arbeiten, was die Höhenkammliteratur ablehnt: »Roter April« ist ein Thriller, bis zu einem gewissen Punkt auch eine grausame Sitcom, die viele Elemente des Fernsehens verwendet, mehr als Elemente des Kinos. Viele TV-Serien wie »Die Sopranos«, »The Closer«, »The Wire« oder »Lost« sind heute viel experimenteller als die US-amerikanischen Kinofilme. Die älteren Leute in Peru finden immer noch, dass man über ein Thema wie den peruanischen Terrorismus nicht in der Form eines Thrillers schreiben sollte. Aber bei den jungen ist das ganz anders. Sie nähern sich dem Thema über diesen Roman, da das Genre zu ihrer Kultur gehört.

Doris Wieser: So erreichst du also eine größere Leserschaft...

Santiago Roncagliolo: Ja, mit »Roter April« passiert etwas Eigenartiges. In Europa liest man den Roman als Thriller, aber in Lateinamerika wird er als politischer Roman gelesen. Aber genau das gefällt mir. Ich wünsche mir, dass der Roman einem Leser gefällt, der sich für das Spiel mit Fragen über Tod, Krieg und universelle Themen interessiert. Außerdem finde ich es schön, wenn ihn Menschen lesen, die eine Art von Porträt der Geschichte oder der historischen Erinnerung Lateinamerikas suchen. Und schließlich möchte ich auch Leser erreichen, die einen Roman mit vielen Toten und Zerstückelten suchen und wissen wollen, wer der Mörder ist. Mir ist wichtig, dass diese drei Ebenen funktionieren.

Doris Wieser: Die Hauptfigur von »Roter April«, der stellvertretende Staatsanwalt Chacaltana, orientiert sich sehr stark am Gesetzestext, der in der Andenwelt aber nicht anwendbar scheint. Es wirkt so, als folge diese Welt anderen Gesetzen.

Santiago Roncagliolo: Ich glaube, genau das ist Chacaltanas Konflikt. Er kommt aus einer perfekten Welt, eine Welt, in der das Gesetz wohlgeordnet ist. Alles hat System und ist organisiert und die Leute machen das, was sie tun sollen, und erhalten die Strafen, die sie verdienen. Aber Chacaltana wird in Ayacucho mit einer Welt konfrontiert, die nicht in seine Gesetzbücher passt. Die Realität sprengt den engen Rahmen, über den Chacaltana verfügt, um die Wirklichkeit zu begreifen. Ich glaube, Chacaltanas Geschichte ist die Geschichte der Zerstörung seiner Welt, einer Welt, die er aus Lima mitgebracht hat und die in Lima funktionierte, die aber nicht in den Ort passt, an dem er sich nun befindet. Es ist eine Geschichte darüber, wie sein Sinn für Gut und Böse und seine eigene Denkweise zusammenbricht.

Doris Wieser: In deinem Roman spürt man an manchen Stellen, dass es ein tiefes Misstrauen zwischen den Mestizen und der andinen Bevölkerung gibt, eine unüberschreitbare Kluft zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen. Gibt es dennoch eine Art gemeinsamen Nationalgefühls in Peru?

Santiago Roncagliolo: Das ist eine interessante Frage. Was mich am meisten an dieser ganzen Gewalt beeindruckt, ist, dass beide Seiten - die Militärs wie die Terroristen - immer angaben, dass sie für die Bauern und Landbevölkerung kämpfen, aber selbst keine waren. Das Kommando der einen saß in Lima und die Befehlshaber des "Leuchtenden Pfads" gehörten der Mittelschicht aus den Provinzen an - Leute, die an der Universität studiert hatten, aber keine Bauern waren. Alle, die in diesem Krieg kämpften, waren Mestizen.

Doris Wieser: In »Roter April« flackert der Terrorismus in einem Andendorf noch einmal kurz auf. Das erinnert die peruanischen Leser sicher an ihre eigenen Erlebnisse aus den 1980ern und 90ern, ihre Angst auf die Straße zu gehen, die plötzlichen Stromausfälle. Wie wird mit diesem gesellschaftlichen Trauma heute in Peru umgegangen? Gibt es eine öffentliche Diskussion über diese Zeit?

Santiago Roncagliolo: Nun, die Sachlage ist in Peru ganz besonders, weil die Verantwortlichkeiten diffus verstreut sind. Als es in Chile oder Argentinien große Massaker von Seiten des Staates gab, war ganz klar, wer in diesem Film die Bösen waren, da sie nicht vom Volk gewählt worden waren. Sie hatten sich an die Macht geputscht, sie folterten und unterdrückten die Menschen und zogen sich sogar wie Übeltäter an: Die Fotos von Pinochet zum Beispiel machen richtig Angst. Aber in Peru gab es die meisten Toten und Verschwundenen während der Demokratie, unter Regierungen, die wir gewählt hatten, rechte und linke Regierungen. Die Militärs hatten daher eine gute Verteidigung: Sie befolgten zivile Befehle; sie taten, was das Land von ihnen verlangte, und fanden es nicht gerecht, vor Gericht zu stehen, wenn nicht gleichzeitig die zivilen Befehlshaber mitangeklagt würden. Es ist sehr schwer, diesen Konflikt anzugehen, denn im Grunde haben wir alle unsere eigenen Mörder beauftragt. Und es stimmt auch, dass wir eine Gesellschaft wollten, in der die Subversiven nicht an die Macht kommen konnten. Ich glaube, der "Leuchtende Pfad" war die tödlichste Terrorgruppe des Kontinents. Darüber wurde schon diskutiert.

Was mich aber erstaunt, ist, dass das Land jetzt bereit ist, in anderen Kategorien über diese Vergangenheit nachzudenken. Bisher stand man immer entweder auf der einen oder auf der anderen Seite. Das haben auch die Regierungen jahrelang forciert: "Entweder bist du auf der Seite der Terroristen oder auf der unseren." Das macht im Prinzip jede kontrasubversive militärische Strategie; das machen auch die USA. Aber ich habe einen Generationsvorteil. Ich bin für keine Seite verdächtig, weil ich ein Kind war, als all das geschah. Wenn ich sage, dass es in Peru viel Gewalt gab wegen des hohen Armuts- und Ungleichheitsniveaus, dann ist das eine ganz offensichtliche Wahrheit. Wenn das jemand sagt, der 50 Jahre alt ist, dann ist er gleich ein Kommunist. Wenn ich sage, dass die Militärs zivile Befehle befolgten, dann ist das nur ein Faktum. Wenn das ein 70-Jähriger sagt, ist er ein Faschist. Der Generationswechsel der Schriftsteller und Journalisten ist auch eine Befreiung für viele Menschen, weil sie solche Bücher lesen können, ohne sich fragen zu müssen: "Und auf welcher Seite steht der Autor? Wen verteidigt er und was will er uns verkaufen?"

Doris Wieser: Deine non-fiction-novel »La cuarta espada« (Das vierte Schwert) und »Roter April« sind das Ergebnis einer Forschung, die du während deiner Zeit bei einer Menschenrechtsorganisation durchgeführt hast.

Santiago Roncagliolo: Ja, das war die Defensoría del Pueblo, das Amt für die Verteidigung des Volkes.

Doris Wieser: Was genau hast du dort gemacht?

Santiago Roncagliolo: Das war eine staatliche Institution zum Schutze der Menschenrechte. Ich habe dort in einer Anwaltskanzlei gearbeitet. Meine Funktion bestand darin, nichts über Jura zu wissen und dadurch zu helfen, die Dinge zu vermitteln. Dieses Amt hatte keine Macht und konnte keine Befehle erteilen. Seine Macht war also keine gesetzliche, sondern eine moralische. Es war wichtig, einem Staat, der die Menschenrechte missachtete, und der Bevölkerung zu vermitteln, was wir dort machten. Ich schrieb also Reden, Pressemitteilungen, redigierte die Abfassung von Dokumenten... Ich war eine Art von politischer Image-Berater.

Doris Wieser: Dort hast du dann begonnen, Militärs und Terroristen in den Gefängnissen zu interviewen?

Santiago Roncagliolo: Ja, unsere Arbeit bestand darin, in die Gefängnisse zu gehen und mit den Gefangenen zu sprechen, aber auch mit den Militärs. Dort habe ich ein Land entdeckt, von dem ich nicht wusste, dass es existierte.

Doris Wieser: In deinem davor veröffentlichten Roman »Vorsicht« (Claasen, 2006) geht es um ganz andere Dinge als in »Roter April«. »Vorsicht« ist weder ein Kriminalroman, noch hat er einen direkten Bezug zu Peru. Es geht vielmehr um allgemeine menschliche Verhaltensweisen und Konflikte. Planst du jetzt nach dem großen Erfolg von »Roter April« noch mehr Kriminalromane zu schreiben?

Santiago Roncagliolo: Ich habe kein Projekt in diesem Sinne. Mein einziger Plan ist, nicht von Peru zu erzählen. Wenn ich in »Roter April« über Peru schreibe, dann nicht im Sinne eines Touristenführers. Ich habe über Terrorismus und Gewalt geschrieben, weil diese Themen nicht nur an Peru gebunden sind. Das sind jetzt Themen, die in New York, in Tschetschenien, in Kolumbien und in Bagdad wichtig sind. Normalerweise spielen meine Romane in Peru, weil es das Land ist, das ich am besten kenne und in dem ich am längsten gelebt habe. Aber mein nächster Roman wird zum Beispiel in Spanien spielen, wo ich seit acht Jahren lebe. Darin gibt es keine Terroristen und es wird auch niemand erschossen. Mehr sage ich nicht, denn ich möchte, dass die Leute den Roman ganz unvoreingenommen lesen.

Doris Wieser: Vielen Dank, Santiago!

 

Santiago Roncagliolo: Roter April. (Abril rojo, 2006). Aus dem peruanischen Spanisch von Angelica Ammar. Deutsche Erstausgabe. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008, 333 S., 19,80 Euro (D).

 

© Doris Wieser, 2008

 

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