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Roger L. Simon: Die Baumkrieger

Eine Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Unionsverlags.

 

1.

Die Baumkrieger Der Abend, an dem ich erfuhr, dass mein Sohn wegen Mordes gesucht wurde, war für mich wie ein Weckruf aus der Hölle. Mag sein, dass die Anklage auch auf Totschlag oder fahrlässige Tötung lautete, aber was machte das schon für einen Unterschied? Unter dem Strich waren das alles nur eskalierende Nuancen von entsetzlich.
      Paradoxerweise hatte ich mich bis zu diesem Abend ausgesprochen gut gefühlt. Genau genommen sogar großartig. Ich war gerade dabei, für einen zweiwöchigen Vietnamurlaub zu packen. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte ich alles in meiner Macht Stehende getan, um nur ja nicht dieses Land betreten zu müssen, jetzt aber löhnte ich einem Verein namens Wilderness Travel acht Riesen, um genau dorthin zu reisen. Wilderness Travel würde mich und meine Freundin auf einem gemütlichen »kulturellen Abenteuer quer durchs Land« begleiten, durch den dichten Dschungel und über saftig grüne Reisfelder vom Mekong-Delta bis in das Gebiet der Bergstämme hoch oben im Norden, inbegriffen außerdem ein Zwischenstopp zum Schnorcheln an der Nha Trang Bay und eine Führung durch die üppigen Gemüsegärten in der Nähe von Son My -- Schauplatz des berühmt-berüchtigten My-Lai-Massakers.
      Anlass unserer Reise war Nancys zweiunddreißigster Geburtstag, allerdings hatte ich selbst auch Grund zum Feiern. Nach einer außerordentlich frustrierenden Phase war mir im Fall des dreiundzwanzigjährigen Krankenpflegers und zweifachen Vaters Dexter Reynolds endlich der entscheidende Durchbruch gelungen. Dexter war von einer seiner Patientinnen auf der Intensivstation des Midway Memorial Hospital in Santa Monica, der siebenundachtzigjährigen russischen Emigrantin Olga Nazimova, zu Unrecht der Vergewaltigung beschuldigt worden (und zwar oral, genital und anal!). Ungeachtet Olgas fortgeschrittenen Alters, ihrer Ekzeme, ihres von der Gürtelrose gezeichneten Gesichts und ihrer insgesamt welken Physiognomie versteifte sich der Bezirksstaatsanwalt über sieben Monate lang noch bis tags zuvor hartnäckig darauf, ihren Märchen über die angeblich von Dexter (einem gut aussehenden ehemaligen Stürmer der UC Santa Barbara) begangene Notzucht unbedingt Glauben schenken zu wollen. Erst als meine Partnerin Jane Ellenbogen und ich uns als Talentsucher für eine Talkshow ausgaben, schafften wir es, dass Olgas Cousin Maxim vor laufendem Tonband damit prahlte, seine aus Odessa stammende Familie -- Olga eingeschlossen -- könne auf eine lange Tradition als Schwindler und Bauernfänger zurückblicken und sei mithilfe eines jeder realen Grundlage entbehrenden Antrags auf politisches Asyl in dieses Land eingewandert. Zwanzig Minuten später spielten wir dem Bezirksstaatsanwalt unser Band vor und bewahrten so Dexter vor mindestens vier Jahren Knast wegen Notzucht und gleichzeitig das Midway Memorial vor einer Zahlung in Höhe von sechzehn Millionen Dollar, die Olga in einer Schadensersatzklage gefordert hatte.
      Ich steckte also gerade mitten in den letzten Vorbereitungen für mein Südostasienabenteuer, als es klingelte, und aus den genannten Gründen fand ich es ziemlich passend, dass ich zur Tür ging und in die Gegensprechanlage grölte: »Ho... Ho... Ho Chi Minh... der Vietcong schaukelt das Ding!« Immerhin war es schon acht Uhr abends -- das ist selbst in meiner Branche weit nach den üblichen Bürostunden. Außerdem hatte ich Nancy erwartet.
      »Wohnt hier ein gewisser Moses Wine?«, fragte ein Mann am anderen Ende, der mein Gegröle offenbar überhaupt nicht komisch fand.
      »Ja«, antwortete ich stirnrunzelnd. »Wer ist denn da?«
      »Los Angeles Police Department. Detectives Jackson und Ramirez.«
      Ich öffnete die Tür und sah mich zwei Männern gegenüber -- der eine blond und zu massig für seinen Anzug, der andere ein Latino im Pullover. Letzterer hielt eine Dienstmarke hoch.
      »Ich bin Moses Wine«, sagte ich, während die zwei in meine Diele traten. »Um was gehts denn?«
      »Sind Sie der Vater von Simon Wine?«, fragte Ramirez.
      »Ja, bin ich.« Ich spürte, dass ich mich sofort in einen misstrauischen Elternteil verwandelte. Simon war inzwischen zwanzig, aber an dieser instinktiven Reaktion hatte sich nicht das Geringste geändert.
      »Wissen Sie, wo er sich momentan aufhält?«
      »Er studiert außerhalb... Ist irgendwas nicht in Ordnung?« Ich sah meinen Sohn schon verblutend auf irgendeiner nordkalifornischen Autobahn liegen oder unter der Golden Gate Bridge, wo er oft surfte, im Wasser treiben.
      Die Cops ignorierten meine Gegenfrage. »Würden Sie uns dann bitte begleiten?«, sagte Jackson. Gleichzeitig drehte er sich um und verließ meine Wohnung, womit er mir keine echte Wahl ließ, außer mir noch schnell eine Jacke zu schnappen und sie zu begleiten. Ramirez gab mir zu verstehen, ich solle ihnen in meinem eigenen Wagen zum Parker Center folgen, wobei er zutreffend davon ausging, dass ich wusste, wo das war. »Wie ich höre, sind Sie Privatschnüffler«, fügte er abwesend hinzu und schaute sich im Gehen noch einmal kurz in meinem Haus um. »Sie kommen mir nicht wie einer vor.«
      »Wie sind die denn normalerweise so?«, fragte ich noch, aber da war er bereits mit seinem Kumpel durch die Tür und auf dem Weg zu ihrem Bullenwagen. Jedenfalls wusste ich genauso gut wie er, wie die meisten Privatschnüffler waren -- pensionierte Cops mit Toupets und Polyester-Jogginganzügen, die ihre Pensionen mit Jobs für Schadensersatzanwälte und Versicherungsunternehmen aufbesserten. Wenn sie Glück hatten, schnüffelten sie Ehegatten hinterher oder suchten Wanzen für eine Firma, die Geld genug hatte, um nichts unversucht zu lassen, ihre ausländischen Konkurrenten abzuwehren. Das war ungefähr so schillernd und aufregend wie Telefonmarketing.
      Aber Ramirez hatte Recht. Ich war anders. Zumindest hatte ich 1971 so angefangen, als ich Marty Ross vor dem Knast bewahrte, weil er einen Ziegelstein ins Schaufenster der Berkeley Bank of America geworfen hatte. Der Vietnamkrieg war in vollem Gange, es war der Oktober des Zorns, und ich rettete ihn, indem ich Touristenfotos auftreiben konnte, auf denen deutlich zu erkennen war, dass der hinter Marty stehende Typ, der ihm das fragliche Wurfgeschoss in die Hand drückte, tatsächlich ein Sergeant der Polizei von Berkeley in Zivil war. In Wahrheit war meine Motivation für diese Heldentat weniger Solidarität mit der Bewegung als vielmehr der Wunsch, meine Finger in die knallenge ausgestellte Jeans von Martys jüngerer Schwester Emily zu kriegen (übrigens leider ohne Erfolg). Trotzdem galt ich schon bald als Sam Spade der studentischen Linken. Ungefähr ein Jahr später deckte ich in Los Angeles ein Komplott auf, das zum Ziel hatte, den Wahlkampf eines gegen den Krieg eingestellten Senators durch die Behauptung zu sabotieren, der Kandidat werde von einem gewaltbereiten Anführer des Weather Underground unterstützt. Der Senator schaffte seine Wiederwahl, und mein Ruf nahm einen neuerlichen Aufschwung. Ich bekam meine fünfzehn Minuten Ruhm und landete im Rolling Stone: DER DETEKTIV DES VOLKES -- MOSES WINE BLEIBT AM BALL.
      Zu diesem Zeitpunkt stand ich im Begriff, zu einer (kleinen) Legende zu werden, und was fast zufällig als Mischung aus jugendlichem Idealismus und unerfüllter Lust begann, wurde zu meinem Leben. Und ich genoss es, im Amerika der Siebzigerjahre den Robin Hood zu spielen. Leider musste ich feststellen, dass die meisten Fälle eines Privatdetektivs nicht dazu angetan waren, die geknechtete Unterschicht vor einem abgefeimten System zu schützen, und wenn dies doch mal der Fall war, brachte es kaum genug ein für einen Busfahrschein in Los Angeles -- einer Stadt, in der sowieso kein Mensch mit dem Bus fahren will. Ich war verheiratet und hatte Kinder, und ich musste endlich erwachsen werden und anfangen, das Leben etwas ernster zu nehmen. Allmählich und fast unbemerkt wurde ich einem stinknormalen Privatdetektiv schrecklich ähnlich, auch wenn ich es mir selbst nicht eingestehen wollte. Ich arbeitete für Anwälte und übernahm gelegentlich, wenns meine Zeit denn erlaubte, auch mal einen Fall allein der guten Sache wegen. Allerdings war ich gut in meinem Job, jedenfalls gut genug, um gegen die Konkurrenz zu bestehen (die in L.A. beträchtlich war, wo sich in den Gelben Seiten unter »Privatdetektive« fast genauso viele Einträge finden wie für Autoersatzteilhändler und Poolreiniger). Etwa Mitte der Achtzigerjahre führte ich genauso ein stinknormales bürgerliches Leben, wie ich es früher verschmäht und verachtet hatte. Anfang der Neunziger fand ich mich dann fast zwangsläufig am Schreibtisch eines Kreditsachbearbeiters der Glendale Federal Bank wieder. Ich wollte expandieren, eine eigene Detektei leiten -- die MW Investigative Services - mit einem halben Dutzend Angestellten inklusive Partner und Büropersonal, Computer, Modems, Datenbankanschlüssen, Fotokopierern, Faxgeräten, Frankiermaschinen und einem Kühlschrank voll Calistoga-Wasser und Designerbier, das Ganze in einem Gewerbeobjekt in der Nähe von Little Tokyo, zwischen dem Museum of Neon und einer Schickimicki-Sushi-Bar mit minimalistischen Gemälden und Mobiliar aus Pappe. Die kleine Firma florierte, und ich wurde so was wie ein Manager, während unsere Haupteinnahmequelle mit den sich ändernden Zeiten variierte: von Industriespionage (Tendenz fallend) über sexuelle Belästigung (Tendenz steigend) bis schließlich zum aktuellen Tophit - Statusmissbrauch von Geschworenen. Manchmal dachte ich, dass von dem alten Moses Wine nichts mehr übrig war außer den verblassenden Porträts von Marx (Groucho) und Lennon (John) unter der vollständigen Sammlung Original-LPs von Big Brother and the Holding Company, die ich aus sentimentalen Gründen in meinem Schreibtisch aufbewahrte. Einen Plattenspieler besaß ich schon lange nicht mehr.
      Aber an Janis Joplin und Papa John Creach dachte ich am allerwenigsten an diesem Abend, als ich dreißig Minuten später den Officers Jackson und Ramirez in die höhlenartige Eingangshalle des Parker Centers folgte, einem nüchtern nichts sagenden Sechzigerjahregebäude, das aussieht wie ein überdimensioniertes Motel, tatsächlich aber das Präsidium des LAPD ist. Natürlich dachte ich an meinen Sohn Simon.
      Das letzte Mal hatte ich ihn etwa vor einem Monat gesehen, als ich geschäftlich für einen Tag in San Francisco war. Wir hatten uns zum Mittagessen im Hunan verabredet, einem ziemlich schmierigen, imbissbudenartigen Lokal in Chinatown, das eine Weile angesagt gewesen war, diesen Status inzwischen aber an das Restaurant Szechuan ein Stück weiter die Straße hinauf abgegeben hatte. Simon und ich mochten den Laden trotzdem noch, tranken Tsingtao-Bier und aßen kräftig gewürztes Schweinefleisch. Zu sagen hatten wir uns allerdings nicht besonders viel. Lange Schweigephasen waren bei uns nicht weiter ungewöhnlich, und oft fühlte ich mich dabei unbehaglich. Ich meine dann immer, er sei wegen irgendwas sauer auf mich, und normalerweise beende ich das Schweigen.
      »Wie läufts auf der Uni?«, fragte ich schließlich als jämmerlicher Versuch, eine Unterhaltung anzufangen.
      Simon zuckte nur die Achseln und verzog das Gesicht. »Kunstgeschichte nervt«, sagte er. Er studierte Malerei an einer Kunstakademie und wurde in diesem Semester buchstäblich von akademischen Anforderungen erdrückt, die er bislang vor sich hergeschoben hatte. »Hab zwei Hausarbeiten über das Barock gekriegt«, fügte er hinzu, als würde er in eine Strafkolonie verbannt.
      »Tja, es gibt ja immer noch die Atelierseminare... Woran arbeitest du gerade?«
      »An einem Selbstporträt. Es heißt Double Man
      »Double Man? Interessanter Titel. Was bedeutet das?«
      Aber Simon hatte keine Lust, sich weiter darüber auszulassen, also schwiegen wir wieder.
      »Wie läufts mit den Mädels?«, erkundigte ich mich ein halbes Bier und einen Teller Lo Mein später. »Irgendwelche scharfen Modelle im Studio?«
      Wieder dieses Achselzucken. Als dunkler Typ mit übellaunig gefurchter Stirn, die ihm eine unheimliche Ähnlichkeit mit dem jungen Brando verlieh, sah Simon außergewöhnlich gut aus, und man sollte eigentlich meinen, er würde ständig von Frauenschwärmen umlagert, aber er war schüchtern und schien die meiste Zeit allein zu verbringen. Es war schon einige Jahre her, dass er eine Freundin gehabt hatte. »Da ist jemand«, meinte er ungefähr eine Minute später, als wärs ihm so gerade eben noch eingefallen. Normalerweise ließ er sich nicht detailliert über solche Dinge aus, zumindest nicht mir gegenüber, dieses Mal jedoch spürte ich, dass er reden wollte.
      »Super«, sagte ich und versuchte, ermutigend zu klingen. »Wie heißt sie denn?«
      »Karin.«
      »Karin?... Wo hast du sie kennen gelernt? Beim Surfen?«
      Er schüttelte den Kopf. »Sie studiert auf der Cal. Philosophie.«
      »Eine echte Intellektuelle...«
      »So ungefähr. Ja.« Er drückte ein Lächeln ab. »Sie hilft mir bei meinen Hausarbeiten.«
      »Du Glückspilz... Sieht wahrscheinlich auch noch ganz gut aus, was?... Läuft sie Ski?« Simon und ich gingen jeden Winter zusammen Ski laufen.
      »Glaube schon«, erwiderte er. »Aber ich war mit ihr noch nicht.«
      »Vielleicht könnten wir ja mal alle zusammen. Ihr zwei, ich und Nancy.«
      Simon grinste. »Ihr seid immer noch zusammen, Pop?«
      »Du Ungläubiger«, antwortete ich, und er lachte. Simon fand mein unstetes Privatleben amüsant. Ich vermutete, wenn er eines Tages gegen mich rebellieren wollte, dann würde er sich womöglich eine Frau suchen und für immer mit ihr zusammenbleiben. Wer weiß? Vielleicht hatte er sie ja schon gefunden.
      Wir vereinbarten, zusammen Ski laufen zu gehen, sobald der Schnee am Tahoe gut genug war. Dann bestellten wir noch eine Runde Bier zum Rest unserer Mahlzeit und redeten über die bevorstehende Basketballsaison. Wir hatten kaum aufgegessen, da warf er auch schon einen Blick auf seine Uhr und verkündete, er müsse los. In einer halben Stunde müsse er an einem nicht näher bezeichneten Ort sein. Zehn Minuten später nahm ich ihn an einer Flughafen-Shuttle-Haltestelle zum Abschied in die Arme.
      Eine Woche später telefonierten wir kurz miteinander. Er brauchte eine kleine Finanzspritze, da er sein monatliches Budget bereits aufgebraucht hatte. Die Acrylfarben für sein Malereiseminar waren teurer gewesen als erwartet, und außerdem musste er die Kupplung seines Pick-ups reparieren lassen.
      »Bist du sicher, dass dus nicht für Karin ausgegeben hast?«, sagte ich und wollte ihn damit aufziehen, aber so kam es bei ihm nicht an.
      »Wir haben Besseres zu tun«, erwiderte er. Und ließ es dabei bewenden.
      Jetzt war er verschwunden.
      Die Cops führten mich in ein Besprechungszimmer auf der vierzigsten Etage des Parker Center, wo wir von einem großen Mann Anfang dreißig und einer Stenografin erwartet wurden. Der Mann stellte sich mir als Special Agent Nicholas Bart vom FBI vor. Er trug ein modisch schwarzweißes Sakko und eine Krawatte mit Etiketten französischer Weine, die ich aus einem Versandhauskatalog wieder erkannte. Für einen Cop, selbst für einen FBI-Cop, klang er recht gebildet und hatte eine angenehm zwanglose Ausstrahlung. Er behandelte mich selbst dann noch wie einen besorgten Vater, als er lächelnd meinte, der typische Durchschnittsvater sei ich mit meinem Beruf als Privatdetektiv ja wohl kaum.
      Er stellte mir einige Fragen über meinen Sohn, und ich antwortete schnell. Simon war zwanzig. Er war ordentlicher Student auf dem California Arts Institute in Walnut Creek. Er lebte in einer eigenen Wohnung ein paar Blocks von der Schule entfernt.
      »Wissen Sie, wo er im Augenblick sein könnte?«, fragte Bart.
      »Ich habe seit ein paar Wochen nicht mehr mit ihm gesprochen. Ich führe nicht Buch darüber, was er jeden Tag so alles macht, Mr. Bart. Er ist kein Kind mehr.«
      »Ich verstehe«, sagte er. »Demnach haben Sie nicht die geringste Ahnung, wo wir ihn finden könnten?«
      »Nein, habe ich nicht.« Ich hatte plötzlich das Gefühl, als würde mir die Brust zusammengedrückt, als wäre ich kurzatmig. Ich warf Jackson und Ramirez einen Blick zu, sah dann wieder Bart an. »Was soll das alles? Wenn Sie wollen, dass ich mit Ihnen rede, dann werden Sie mir das erklären müssen.«
      Er runzelte kurz die Stirn, wählte sorgfältig seine Worte. »Ihr Sohn wird in Zusammenhang mit dem Tod von Leon Erlanger gesucht.«
      »Was?!«
      »Tut mir Leid.« Er legte verständnisvoll den Kopf schief.
      »Ich verstehe nicht. Das ist ja völlig verrückt! Wer ist dieser Leon Erlanger?«
      »Er arbeitete als Holzfäller für die Allied Lumber Company.«
      »Wie ist er gestorben?« Mein Herz raste.
      »Jemand hat einen Redwood mit Nägeln gespickt, den er fällen wollte.«
      »Einen was gespickt?... Sie meinen, wie diese Ökoterroristen, die Stahlstangen in Baumstämme treiben...?«
      Bart nickte. »... um zu verhindern, dass sie gefällt werden.«
      »Ich hätte nie gedacht, dass jemand so was wirklich macht.«
      »Jemand hat«, sagte Bart und öffnete eine Akte. »Und Mr. Erlanger musste dafür bezahlen. Die Kettensäge flog wie ein Bumerang zu ihm zurück. Hat den armen Mann praktisch in zwei Hälften geteilt.« Er schob mir über den Tisch zwei Fotos zu. Auf einem war ein Mann zu sehen, der in einer Blutlache lag. Sein Kopf war merkwürdig nach vorne geneigt, direkt darunter befand sich eine gewaltige klaffende Wunde, die das Innere seines Brustkorbs vom oberen Ende der Lungen bis zur Gallenblase freilegte, fast als wäre sein gesamter Oberkörper wie ein Baumstamm gespalten worden. Auf dem zweiten Foto waren eine übel zugerichtete Kettensäge und die verbogenen Überreste eines gut dreißig Zentimeter langen Stahlnagels zu sehen. Beides lag als Beweismittel nebeneinander. Der Kopf des Nagels schien mit einem Seitenschneider abgeknipst worden zu sein.
      Ich schaute zu Bart auf, der mich mit seinen tief liegenden blauen Augen beobachtete. »Schrecklich«, sagte ich. »Aber ich weiß nicht, was Ihrer Meinung nach mein Sohn damit zu tun hat. Simon ist der friedliebendste Mensch, den ich kenne. Er tritt nicht mal auf Insekten.«
      »Er ist Mitglied der Hüter des Planeten.«
      »Wer ist das?« Ich spürte Wut in mir aufsteigen, versuchte aber, sie zu beherrschen.
      »Die Gruppe, die dafür die Verantwortung übernommen hat.«
      »Wie haben sie das gemacht?«
      »Per E-Mail. Direkt an die Website des Bureau... Sagt Ihnen die Gruppe irgendwas?«
      »Die Hüter des Planeten?« Ich erinnerte mich dunkel, dass Simon irgendeiner Umweltschutzgruppe beigetreten war -- ein paar andere Surfer gehörten dazu --, schüttelte aber den Kopf.
      »Die haben vielleicht ein Dutzend Mitglieder. Ihr Sohn ist einer der Anführer.«
      »Noch nie von denen gehört.«
      Bart sah mich merkwürdig an. »Nun, dann verstehe ich, warum Sie nicht wissen, wo er sich derzeit aufhält.« In seiner Stimme lag ein vorwurfsvoller Unterton. »Das mussten wir wissen.« Er stand auf und streckte seine Hand aus. »Bitte, lassen Sie es uns wissen, falls...«
      »Moment mal. Selbst wenn mein Sohn zu diesen, äh... Hütern gehört, warum ist ausgerechnet er dann verantwortlich dafür, dass der Baum gespickt wurde? Haben die das auch im Internet bekannt gegeben?«
      »Leider ist er der Einzige, der vergangene Woche in der Nähe des Jack London Redwood Grove gesehen wurde -- wo die Bäume mit Nägeln gespickt wurden. Tatsächlich wurde er dort sogar zweimal gesehen.«
      »Das ist alles? Mehr haben Sie nicht?«
      Er zuckte die Achseln und ging zur Tür, als wollte er mich hinausbegleiten.
      »Wer hat ihn gesehen?«
      »Das ist vertraulich, Mr. Wine. Selbst wenn ich wollte, dürfte ich es Ihnen nicht sagen.«
      »Ist er überwacht worden?«
      »Wir befinden uns in einem laufenden Ermittlungsverfahren.« Jackson wollte schon die Tür öffnen. Bart deutete dem Polizeibeamten mit einer Kopfbewegung an, noch zu warten, bevor er seine Fingerspitzen leicht auf meinen Arm legte und fortfuhr. »Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen. Wahrscheinlich sind Sie sehr stolz auf Ihren Sohn... wenn man an Ihre Vergangenheit denkt und so weiter.«
      »Da haben Sie verdammt Recht«, sagte ich und sah Bart direkt in die Augen.
      »Man könnte sagen, er ist ganz wie der Vater in seinen idealistischen Sturm- und Drangjahren.«
      »Ich könnte kaum stolzer sein.«
      »Dann machen Sie sich mal keine Sorgen.« Er drückte ein gezwungen freundliches Lächeln ab. »Ich bin überzeugt, es wird sich alles von selbst aufklären. Wenn er tatsächlich, wie Sie andeuten, so ein großer Pazifist ist... dann muss ja wohl ein Irrtum vorliegen.«
      »Worauf Sie sich verlassen können!«, antwortete ich.
      »Natürlich. Machen Sies gut, Mr. Wine. Wir bleiben in Verbindung...« Diesmal öffnete er die Tür selbst. »Ach ja, und übrigens... Meinen Glückwunsch zur Aufklärung des Dexter-Reynolds-Falles.« Immer gut zu wissen, dass die eigene Arbeit anerkannt wird, dachte ich. Bart führte mich mit einem weiteren Lächeln und der Warnung hinaus, die Sache nicht selbst in die Hände nehmen zu wollen. »Ich weiß, dass es Sie jucken wird«, sagte er.
      Ehe ich mich versah, saß ich wieder in meinem Wagen. Ich war wie weggetreten durch den Schock und fuhr mit Autopilot nach Hause. Praktisch als Erstes schnappte ich mir das Mobiltelefon und wählte Simons Nummer. Ich fädelte mich gerade auf den Hollywood Freeway ein, als sein Anrufbeantworter ansprang. Ich sprach aufs Band, auch wenn ich genau wusste, dass ich dies besser nicht tun sollte. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wurde sein Anschluss abgehört. Dann überkam mich eine Paranoia, wie ich sie Jahre nicht mehr erlebt hatte. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel, um zu sehen, ob ich verfolgt wurde. Unmittelbar hinter mir fuhr ein grüner Chevy, und ich bremste ab, um ihn überholen zu lassen, während ich in Gedanken noch einmal mein Gespräch mit Bart abspulte, als wäre es ein Haiku, das ich interpretieren musste. Kurz genug war es bestimmt gewesen. Und unterschwellig anklagend. »Wenn man an Ihre Vergangenheit denkt und so weiter...« Unter anderen Umständen hätte ich mich vielleicht geschmeichelt gefühlt oder amüsiert reagiert, dass sich die Bundesregierung nach all den Jahren immer noch so für meine politische Vergangenheit interessierte. In diesem Augenblick jedoch fand ich es eher beängstigend.
      Ich holte tief Luft und rief Nancy in ihrem Haus im Nicholas Canyon an. Sie war noch da, und ich berichtete, was passiert war. Als ich zu Hause ankam, erwartete sie mich vor dem Haus in ihrem Saab-Kabrio. Sie sprang heraus und nahm mich beruhigend in die Arme. Ich drückte sie ebenfalls heftig. Nancy und ich befanden uns an diesem prekären Punkt, an dem wir »versuchten«, unsere Beziehung funktionieren zu lassen, jedenfalls brauchte ich sie an diesem Abend, und sie wusste es.
      »Es muss schrecklich sein«, sagte sie, als wir über die Veranda zur Haustür gingen.
      »Tut mir Leid, dass du Ho-Chi-Minh-Stadt auf ein andermal verschieben musst.«
      »Ach, mach dir deswegen keine Gedanken. Ich werde versuchen, die Anzahlung zurückzubekommen... Kann ich irgendwas tun?«
      Sie behielt ihren Arm tröstend um meine Schultern gelegt, während ich nach dem Schlüssel kramte. »Das wäre schön«, sagte ich. »Ich glaube, ich muss versuchen, ihn vor der Polizei zu finden.«
      »Möchtest du, dass ich mitkomme?«
      »Damit wären wir dann schon drei«, sagte eine Stimme von der anderen Seite der Veranda. Es war eine Frauenstimme, erheblich rauchiger als Nancys und um einiges ätzender. Langsam drehte ich mich um und starrte in die Dunkelheit zu der Stelle, wo eine gelbe Glühbirne die Bougainvillea beleuchtete. Vor dem Hintergrund der Terrakottawand erkannte ich die unscharfe Silhouette einer Frau. »Erkennst du mich nicht?«, fragte sie und lachte, wobei sie ein paar lange, schwarze Haarsträhnen ins Licht hob. »Siehst du. Sie sind noch nicht völlig grau.« Sie kam zu uns, und ihr Gesicht, mit mehr Falten, seit ich es das letzte Mal gesehen hatte, wurde mit jedem Schritt erkennbarer.
      »Suzanne?«, sagte ich.
      »Wer sonst?«
      Meine Exfrau.
      »Suzanne Wine... Nancy Wing. Nancy Wing... Suzanne Wine.«
      Nancy und Suzanne sahen sich an, eine Eurasierin Anfang dreißig, die immer noch als Model Karriere machte, und eine auf die fünfzig zugehende jüdisch-amerikanische Intellektuelle. Ich sah den Anflug eines ironischen Kräuselns um Suzannes Lippen spielen. »Es heißt nicht mehr Wine -- heute heißt es Greenhut«, korrigierte sie und bot Nancy die Hand an. Ich hatte vergessen, dass sie vor ein paar Jahren wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte.
      Keiner sagte ein Wort.
      »Ich glaube, du brauchst mich nicht mehr«, sagte Nancy nach einer Weile, die mir wie eine Stunde vorkam, wahrscheinlich aber höchstens dreißig Sekunden gedauert hatte. Sie lächelte Suzanne höflich an. »Ich hoffe, wie begegnen uns noch einmal unter angenehmeren Umständen.«
      »Ja, ich auch«, antwortete Suzanne. Sie wirkten beide so aufrichtig wie ein Pärchen am Ende eines mies verlaufenen Blind Dates.
      Nancy lächelte mich an. »Viel Glück«, sagte sie. »Ruf mich an, wenn du kannst.« Sie hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. Dann drehte sie sich um und ging ohne einen Blick zurück.
      »Sie ist hübsch«, sagte Suzanne ein paar Minuten später. Wir befanden uns in meinem Wohnzimmer, und ich machte uns beiden einen Stoli auf Eis.
      »Und intelligent. Sie arbeitet gerade an ihrem Abschluss in Psychologie.«
      »Davon bin ich überzeugt... Wann brechen wir auf?«
      »So bald wie möglich. Wann hat das FBI dich verständigt?«
      »Heute Nachmittag war ein Agent in meiner Kanzlei. Sie wollten, dass ich herkomme. Also habe ich den nächsten Flug genommen und mit diesem Bart geredet. Ich muss ungefähr eine halbe Stunde vor dir bei ihm gewesen sein.«
      Ich nickte. Das ergab einen Sinn - als wollte der Staat uns zusammenbringen, damit wir sie gemeinsam zu Simon führen konnten. Bislang funktionierte es, immer vorausgesetzt, wir konnten ihn auch finden.
      »Wie kommen wir dorthin?«
      »Ich glaube, den können wir nicht nehmen«, sagte ich mit einem Blick nach draußen auf meinen BMW. »Wahrscheinlich haben sie längst eine Wanze unter der Haube deponiert. Wir werden uns was anderes einfallen lassen müssen.«
      Suzanne lächelte. »Genau wie früher, hä?«
      »So ungefähr«, sagte ich. »Ich glaube, ich hab schon eine Idee... Hast du mit Jacob gesprochen?« Jacob war unser zweiter Sohn, der als angehender Schriftsteller in New York lebte.
      Sie nickte. Dann verzog sie plötzlich das Gesicht. »Ist das alles unsere Schuld, Moses?«
      »Was denn? Wir wissen doch nicht mal, was passiert ist.«
      »Haben wir irgendwas falsch gemacht? Es ist fast, als würde er uns nachahmen.« Sie fing an zu weinen.
      »Simon ist ein großartiger Bursche. Das weißt du auch. So was Verrücktes hätte er nie gemacht.« Suzanne sah mich an. Wie ich selbst wollte sie glauben, was ich da sagte. Keiner von uns hatte den Mut, das Unaussprechliche auszusprechen -- dass irgendwo, in den tiefsten Winkeln unserer Vorstellungskraft, stets die Möglichkeit lauerte, dass er schuldig war. Ich nahm sie in die Arme. Ich fing ebenfalls an zu heulen.
      Seit Suzanne vor drei Jahren ihre Anwaltskanzlei nach New Mexico verlegt hatte, hatten wir uns nicht mehr gesehen. Vor siebzehn Jahren waren wir geschieden worden. Simon war damals drei. Zu diesem Zeitpunkt waren wir aus unserer ersten Wohnung in Berkeley, keine fünfhundert Meter entfernt vom People's Park an der Telegraph, in das Echo-Park-Viertel von L.A. umgezogen. Es war das bevorzugte Wohngebiet für Verbannte der Cal, die aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen waren, nach L.A. zu ziehen, aber dennoch auch im weniger gastlichen Süden ihre idealistischen Lebensformen beibehalten wollten. Neben uns wohnte ein peruanisches Paar. Die Familien auf der anderen Straßenseite waren Mexikaner der ersten und Japaner der zweiten Generation. Jeder liebte unsere Jungs -- Jacob, weil er schon in frühem Alter geistreich und witzig war und die Sprache beherrschte wie ein Erwachsener, Simon, weil er außergewöhnlich hübsch und sportlich war, selbst wenn er mit einem Protestplakat gegen das aktuelle Objekt seines Unmuts in seiner Kleinkindfaust nackt über die Wiese neben dem Karussell im Griffith Park rannte. So wurde er für die Rückseite der alternativen L.A. Free Press fotografiert: Seine stolzen Eltern ihm dicht auf den Fersen, damit er ja nicht stolperte. Er hatte schon immer eine leichtsinnige Ader. Damals erwischten wir ihn gerade noch rechtzeitig. Dieses Mal aber hatten wir ihn offensichtlich nicht erwischt. Und ich wusste auch nicht, ob wir dazu in der Lage gewesen wären, wenn wirs versucht hätten.
      »Bist du sicher, dass du das machen willst?«, fragte ich Suzanne. Ich hielt sie weiter fest -- um mich selbst zu beruhigen mindestens so sehr wie sie. »Bist du sicher, dass du wirklich mitkommen willst?«
      »Ich bin seine Mutter«, sagte sie und löste sich von mir. Ihre Tränen waren versiegt.

 

Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger
© Unionsverlag, 2003
Alle Rechte vorbehalten!

 

»Irgendwie wurde Moses Wine der globale 68er« - Thomas Wörtche im Interview mit Roger L. Simon.

Eine Bibliographie der Romane finden Sie unter der Hauptfigur Moses Wine in unserem Figuren-Index.

 

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