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Mary Wings: Sie kam als Mann

Eine Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Argument Verlags.

 

Kapitel 1

Sie kam als Mann Keine Todesanzeigen!

»Keine Todesanzeigen!«, schrie die Schlagzeile des Bay Area Reporter in sechzig Punkt großer Schrift. »Keine Todesanzeigen!« 1998 schenkte uns die erste Woche, in der niemand eine Todesanzeige in der lesbischwulen Zeitung aufgegeben hatte. Zehn Jahre lang war die Liste der Todesanzeigen immer länger geworden. Tote Freundinnen und Freunde füllten diese Seiten. Jetzt hatten Aktivismus, Geld, Forschung und die pharmazeutische Industrie den Kurs der Aids-Epidemie geändert.
    Halloween schien, wieder, ein Anlass zum Feiern. Und Halloween gehörte ins Castro, wo das fröhliche Chaos in einem offenbar nicht zu unterdrückenden Ausbruch von Anarchie den Verkehr und die Straßenbahnen lahm legte. Castro-Klone, die nie ein Kleid getragen hatten, kicherten und zogen sich gegenseitig auf mit der neu gewonnenen Freiheit, im Rock herumzulaufen. Die Worte des seligen, großen Sylvester tönten aus dem Café: »Du bist ein Star, du geschiehst nur ein Mal«; sie erinnerten uns alle an die unterschiedlichen Arten, tuntig zu sein: das niedere Tuntigsein, das sexistisch war, und das hohe Tuntigsein, das stolz war.
    Leider sollte es das letzte Halloween im Castro sein: Nächstes Jahr würde die überwältigende Straßenparty im Bürgerzentrum stattfinden. Der riesige, flache Platz mit dem quadratischen Teich und dem bürokratischen Ambiente würde einfach überhaupt keinen Spaß bringen.
    Als ich durchs Castro streifte, konnte ich spüren, dass der heilige Tag bald über uns kommen würde. Der elfte Oktober gab Homosexuellen die Erlaubnis zum Coming-out, aber der einunddreißigste Oktober gab den Schwulen von San Francisco die Chance, die hochhackigen Schuhe Größe vierundvierzig, die rubinroten Pumps oder die kniehohen Piratenstiefel zu tragen, von denen sie immer geträumt hatten. Hunderte geschmackloser Imitate toter Filmstars waren in der Mache. In den Bars ging es hoch her, und zwischen Burritos und Shakes hielten schwule Männer Händchen und küssten sich, verstopften den Bürgersteig manchmal so sehr, dass eine Lesbe sich kaum ihren Weg zu einem Frozen Joghurt bahnen konnte. Und Halloween würde noch viel schlimmer werden.
    Ich hatte die Halloween Festlichkeiten in den letzten Jahren gemieden. Die Staus waren eine Sache, die Trauben von Touristen, die kamen, um zu glotzen waren etwas anderes. Schon jetzt gab es unzufriedenes Grollen; ACT UP plante eine massive Foto-Aktion, die gaffende Heteros aufs Korn nehmen sollte. Vielleicht würden die Schlägertypen ja später noch mit ihrem weniger verbindlichen Protest aufwarten. Die jährliche Feier hatte viel von ihrer Spontaneität verloren. Mein Leben auch.
    Als freiberufliche Menschenjägerin, Zustellerin von Vorladungen und eine, die den Müll anderer Leute rausbringt, hatte ich es ziemlich weit gebracht. Nach meinem letzten Auftrag hatte ich meine Hausmiteigentümerin ausbezahlen können. Polizeibeamtin Laura Deleuse wohnte nicht gern über einer Privatdetektivin. Und ich nicht gern unter einer Polizistin. Unsere Immobilienbeziehung endete in aller Freundschaft und der finanzielle Ertrag meines letzten Falls hatte dafür gesorgt, dass die Besitzurkunde des alten viktorianischen Gebäudes jetzt auf meinen Namen lautete. Und nur auf meinen.
    Da weniger als ein Prozent der Wohnfläche in der Stadt leer stand, fand ich genau die Mieterinnen, die ich wollte. Creole und Jessie waren Masseurinnen. Wo die Polizistin müde, launisch und misstrauisch war, waren meine neuen Mieterinnen positiv, gelassen und gesundheitsbewusst. Unser Mietverhältnis wirkte sich wahrscheinlich positiv auf meinen Blutdruck, meine Durchblutung und Beweglichkeit aus. Ich hoffte es würde eine Langzeitbeziehung werden.
    Ich zog nach oben, in die geräumigere Wohnung mit Blick auf die Bucht. Ich ließ Jessie und Creole im Haus ihrer sinnlichen Arbeit nachgehen. Sie verursachte keine Parkprobleme und alles, was ich je von unten hörte, war ein gelegentliches wohliges Stöhnen. Ihr Geschäft lief prima.
    Aber Detektivinnen-Arbeit hatte es nicht für mich gegeben. Auf einmal waren keine Menschen aufzufinden oder Vorladungen zuzustellen. Ich war zu lange aus der Mühle rausgewesen. Aber heute war das anders. Um neun klingelte das Telefon mit einem netten langweiligen Auftrag. Ich nahm den Hörer ab und fingerte an meinem Ohrläppchen herum: ein Zeichen für Ärger.
    »Emma Victor, Privatdetektivin.« Ein Mitarbeiter von ðJedes Risiko Garantiert- wollte, dass ich beobachtete, wie so ein Typ ohne seine Krücken losmarschierte, und ihn filmte. Die Gesellschaft würde Hunderttausende sparen und ich erwartete meinen gerechten Teil fürs im Auto Sitzen und Warten auf den Augenblick der Wahrheit. Ich würde den Klienten nachher am Mittag treffen. ðJedes Risiko Garantiert- beschäftigte viele freiberufliche Detektivinnen - Honorarkräfte, heutzutage. Sie versuchten, so viele Angestellte wie möglich einzusparen, genau wie alle anderen. Kostensenkung, und versucht, sie in der Disco zu erwischen. Kleine Fische, aber eine Gelegenheit, ein paar Tage lang durch meine Windschutzscheibe zu schauen.
    Inzwischen rief Rose an, mit etwas viel Interessanterem und Lukrativerem. Es war Zeit, den Müll rauszubringen.
    »Hast du die Fernseh-Sendung gesehen, bei der Audra Léon geoutet wurde, Emma? Das war ein historisches Ereignis.«
    »Ich gewöhn mir das Lesen wieder an«, murrte ich, um Rose an die Vergangenheit zu erinnern. »Vor zwanzig Jahren kamen die Frauen in Scharen in die Frauenbuchläden, um das letzte Manifest zu diskutieren. Erinnerst du dich an ðder Mythos vom vaginalen Orgasmus-?«
    »Ja, und ich erinnere mich an vaginale Orgasmen.«
    »Ach, was ist mit uns geschehen, Rose? Früher war lesbischer Sex ein revolutionärer Akt. Jetzt kommt die Schwesternschaft in den Buchladen zurück, um fernzusehen: Berühmte Leute haben ihr Coming-out im Fernsehen. Und danach gehen wir zu Safeway und holen uns den Enquirer mit einem Leitartikel über Martina und Rita. Dann kommen wir zurück in unsere Häuser mit hohen Hypotheken und suchen unseren G-Punkt.«
    »Was ist daran falsch?«
    Anscheinend fanden alle in meinem Freundeskreis das Outen einer berühmten Komikerin, einer berühmten Schauspielerin, einer berühmten Popsängerin, einer berühmten irgendwas, weltbewegend, alle, außer mir. Was bedeutete Ruhm den Vorkämpferinnen gegen das Patriarchat?
    »Unsere Freundinnen haben also aufgehört zu lesen und Manifeste zu schreiben. Jetzt kommen sie von der Arbeit nach Hause und greifen nach der Fernbedienung. Was ist daran falsch?«, wiederholte sie.
    »Ach, nichts«, seufzte ich. »Nur wurde ich vor der Show von einer Million Anrufe und E-Mails an die Wiederholung der Johnny Lever Show erinnert. Meine Mieterinnen unter mir haben durchgeklingelt und mich eingeladen, das Spektakel anzusehen. Danach haben sie mir eine Videokassette gegeben. Ich hab's nicht angeschaut.«
    »Du wirst es hier sehen, Freundin.«
    Super. Wie konnte ich das Outing von Audra Léon verpassen? Die Boulevardzeitungen schrien ihre angebliche Homosexualität heraus, während ich bei Safeway in der Schlange stand. Audras kupferroter Pagenschnitt und ihr Markenzeichen, der hautenge Catsuit, waren in ðCliffs Gemischtwarenladen- ausgestellt, der Schaufensterdekorateur hatte die Popdiva besser nachgebildet als Madame Tussaud.
    Im Bay Area Reporter zog sich »Audra Léon GEOUTET!« in sechzig Punkt-Schrift quer über die Titelseite. Audra Léon sei eine von uns, sagten sie. Ich merkte, wie ich fast wütend wurde. »Vielleicht ist sie eine von denen, aber für mich persönlich gehört Audra Léon nicht zu unserem Stamm.«
    »Ganz zu schweigen von all ihren Liedtexten, eine Frau, die unbedingt einen Mann braucht. Seit ihrer Hochzeit mit Tyrone Warren, diesem weißen, möchte-gern-schwarzen Rapper, hege ich für Audra Léon auch keine besonders schwesterlichen Gefühle«, stimmte Rose zu. »Erinnerst du dich an das Interview mit Barbara Walters? ðEine Lesbe? Seien Sie nicht albern! Ich bin eine hingebungsvolle Mutter.- Wörtlich hat sie allerdings nie gesagt, sie sei keine Lesbe, Emma. Ach, egal, was kümmert's uns, hm?«
    »Nicht sehr. Also was gibt's, Rose?«
    »Die Produzenten sagen, die Frau, die Léon geoutet hat, ist in Gefahr. Muss geschützt werden.«
    »Warum ist sie überhaupt in der Show aufgetreten?«
    »Ich schätze, es war das Geld, das sie dem Frauen-Krebs -«
    »Klingt nett, aber ich bin nicht sicher, dass das als Begründung reicht.«
    »Ist auch egal. Hast du Interesse, Emma? Sie kommen in zwanzig Minuten vorbei.«
    »Sich Probleme anderer Leute anzuhören kostet nichts.«
    »Und das Fernsehen hat Geld. Übrigens, als was gehst du an Halloween? Hast dein Kostüm schon?«
    »Ich weiß nicht, Rose. Da sind zu viele Touristen, die kommen um zu glotzen.«
    »Komm, Emma. Es ist das letzte Halloween im Castro. Du siehst immer gut aus, in jeder Verkleidung, die du ausbrütest. Nächstes Jahr ziehen sie ins Bürgerzentrum um.«
    »Das ist eine Verbesserung für dich.«
    »Page Hodel ist als DJane auf der Tanzbühne. Und es gibt einen Drag-King- Wettbewerb im ðClub Lex-! Es ist immer so nett, sich als Kerl zu verkleiden. Alle jungen Frauen machen das im ðClub Lex-. Du hast die Privilegien der Jungs und die Leute auf der Straße machen dir Platz. Hey, warum gehst du nicht in dem Kostüm von vor ein paar Jahren? Das Butch/Femme-Teil.«
    Das Kostüm, das Rose meinte, war genial gewesen, aber fast unmöglich zu tragen. Ich hatte ein Kleid in der Mitte durchgeschnitten und es an einen dreiteiligen Anzug genäht. Die Hälfte meines Gesichts hatte falsche Wimpern und war mit Rouge geschminkt, die andere Hälfte trug einen Schnurrbart und Bartschatten. An einem Fuß hatte ich einen hohen Absatz, an dem anderen einen rechtsanwaltsmäßigen Semi-Brogue. Je nachdem, von welcher Seite man mich sah, war ich Männlein oder Weiblein. Von vorne war ich ein schizophrenes Geschlecht, unfähig, mich zu entscheiden. Trotz der sensationellen Wirkung war es ein ungünstiges Modell, von den unterschiedlich hohen Absätzen bekam ich Rückenschmerzen und meine Arme wurden lahm vom angewinkelten Ellbogen auf der Femme-Seite, der Hand in der Hosentasche auf der Butch-Seite. Ich hatte es sogar fertig gebracht, aus einer Seite meines Mundes zu kichern, aus der anderen zu grunzen.
    »Wir reden später über Halloween. Setz dich ins Auto und mach dich her, Emma.«
    »Ja, Ma'am.«
    »Fernsehleute, Emma. Mach dich schick.«
    Was für ein Kostüm wäre das wohl? Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht und kniff mir in die Wangen, um sie zu röten, das viktorianische Äquivalent zu Rouge. Ich versuchte, einen goldenen, schnörkelig gravierten Ring durch mein rechtes Ohrläppchen zu stecken. Eine Nickelallergie ruinierte meinen Accessoire-Plan. Indem ich mein Ohrläppchen zuerst mit Alkohol einrieb, schaffte ich es, den vermeintlichen Golddraht durch die entzündete Haut zu fädeln. Der Ohrring machte weiter Probleme. Ich nahm ein gestärktes weißes Hemd aus seiner Plastiktüte und legte mir einen Seidenschal um den Hals. Meine Lederjacke saß wie eine zweite Haut. Ich sah in den Spiegel. Weißes Hemd, die Schuhe spiegelblank gewienert, eine Ziegenlederjacke und funkelnde Ohrringe. Ich sah schick genug aus für die Medienhaie.
    Bald fuhr ich die Hügel hinauf und hinunter, mein Auto bremste besonnen an Stopschildern, und tauchte dann hinunter ins Eureka Valley. Ich kam an Reihen von viktorianischen Häusern italienischen Stils vorbei, die Lesben und Schwule in fröhlichen Farben gestrichen hatten. Sie zogen sich den Hügel hinunter, fantastische Goldrausch-Paläste in allen Farben des Regenbogens. Das Schaufenster von ðCliffs Gemischtwarenladen- zeigte die Puppe im Audra Léon-Look. Der schwarze Catsuit und der kupferrote Pagenschnitt waren unverwechselbar. Ihr Hexenkessel trug die Aufschrift: Das letzte Halloween im Castro.
    Regenbogenflaggen wichen Piñatas, als ich den Hügel hinunter in Richtung Mission gondelte. Ich rollte über den Freeway nach Potrero Hill, dem Stadtteil mit den steilen Hügeln. Goldgeschmückte Häuser italienischen Stils kauerten an Hängen mit sechzig Prozent Steigung, mit Blick auf Wolkenkratzer, Brücken und Wasser. San Franciscos Schiffsbauindustrie war größtenteils nach Oakland abgewandert. Santa Fe Railway vermietete die Gebäude am Wasser als Lager. Ein paar Boote zogen gemächlich zum Hafen hinein und hinaus. Manchmal ging die russische Marine vor Anker. Aber kombinierte Wohn- und Gewerbelofts, das geplante Mission-Bay-Projekt und die Spießgesellen des Bürgermeisters würden das alles bald ändern.
    Trotzdem war der Quadratmeter hier recht günstig, verglichen mit dem Rest von San Francisco. Rose hatte ein Lagerhaus gemietet, in dem es nach Pommes Frites und Dieselöl roch. Das Haus mit der hölzernen Ladenfront hätte Treffpunkt der Anonymen Alkoholiker sein können. Stattdessen mussten Eingeweihte der hinter Brombeergestrüpp versteckten Videokamera winken, um eingelassen zu werden.
    Ich ging durch Roses Auffassung eines Spießrutenlaufs aus Sicherheitssperren. Noch drei Kameras, und ich musste den Code eingeben, ehe ich den Büropark betreten durfte. Bienenfleißig bediente Roses gut gedeihende Mitarbeiterschaft Telefone und Computertastaturen. Zimmerpalmen reckten sich zu den großen industriellen Oberlichtern hinauf. Eichenmöbel aus zweiter Hand, Holzschreibtische und feuerfeste Aktenschränke, schwer wie Anker, bildeten ein massiges Bollwerk im Inneren. Die Klienten wurden nicht mit einer Büroflucht und überteuerten Mittagessen in der Innenstadt, Brokattapeten und lederbezogenen Schreibtischen umworben. Rose ging mit ihren Klienten in unbekannte Bistros und sparte Geld an Miete und Möbeln. Das große Geld gab sie für Computer und eine ausgedehntes, privates Alarmsystem aus, das einige der größten Kunstsammlungen von San Francisco bewachte.
    Ich ging direkt in Roses Büro. Es war rollstuhlgerecht gestaltet: niedrige Tische, nichts Wichtiges höher als einen Meter zwanzig über dem Boden. Nur eine halbe Tasse Kaffee war anwesend, als Briefbeschwerer auf dem San Francisco Chronicle von heute. Rose musste irgendwo auf diesem Stockwerk sein; die Tasse war noch warm. Die Zeitung war auf Seite vier aufgeschlagen: »Kaufen Sie heute ein, Super Halloween-Weißwäsche-Verkaufsaktion bei Macy's!« Anscheinend war Macy's jeder Grund für eine Weißwäsche Verkaufsaktion recht: Ostern, Veteranentag, Valentinstag, die Wäscheabteilung nahm sie alle mit. Unter den Bildern von flauschigen Handtüchern plärrte eine Schlagzeile: »Neuer Jägervirus vielleicht HIV-Killer Š Vielleicht kann nur ein Virus einen Virus abtöten, sagen Forscher, die glauben, eine biologische Waffe entdeckt zu haben, die HIV-infizierte Zellen aufspüren kann Š«
    »Kaffee?« Rose rollte in ihr Büro und sah hinüber zur Kaffeemaschine. Die Kanne enthielt anderthalb Zentimeter schwarze, ölige Substanz.
    »Nein danke; ich hatte heute Morgen schon genug Koffein, um Rom anzutreiben.«

 

Aus dem Amerikanischen von Britta Dutke
© Argument Verlag, 2001

 

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