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Joseph Hansen: Feindschaftsdienst

Eine Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Argument Verlags.

 

Kapitel 1

Feindschaftsdienst     Sie trug Jeans, hohe Arbeitsstiefel und einen alten Pullover mit grobem Rentiermuster. Ein Skipullover von jemandem, der noch größer war als sie. Ihrem Sohn? Sie war sechzig, aber nichts an ihr wirkte gebrechlich. Die Hände, die den gemaserten Harkenstiel umfassten, waren Männerhände. Ihr kurz geschnittenes Haar war weiß. Sie trug kein Make-up. Ihre Haut war gerötet, ihre Augen waren leuchtend blau. Herzhaft hätte sie vielleicht treffend beschrieben. Bis auf ihren Mund. Ein Schmollmund. Irgendetwas hatte sie tief gekränkt, ohne sich dafür zu entschuldigen. Nicht vor kurzem - vor langer Zeit. Das Leben, wahrscheinlich.
    »Mrs. Wendell?«, fragte er und streckte ihr seine Visitenkarte entgegen. Sie nahm die Karte, las sie. Darauf stand der Name der Versicherungsgesellschaft, für die er arbeitete - Medallion Leben. In einer Ecke stand sein eigener Name, David Brandstetter, und darunter ABTEILUNG AUSZAHLUNGEN BEI TODESFÄLLEN. Er versuchte nicht, es auszusprechen. Seine Kehle war trocken. Der Vormittag war heiß. Es war ein langer Weg gewesen, vom Pinyon Trail den steilen, kiefernbewachsenen Hügel hinauf, rostbraune Nadeln rutschig auf den ausgetretenen Stufen, bis hierher zu diesem ausladenden Redwoodhaus, wo auf sein Klingeln niemand an die Tür gekommen war, und schließlich bis zu dieser ehemaligen Garage dahinter.
    Sie diente jetzt als Stall. Daneben, im von Kiefernzweigen gefilterten Sonnenlicht, beschnupperte ein nicht mehr ganz junger rotbrauner Wallach hinter einem Weidenzaun ein Häufchen Luzerne. Vor den Garagentoren lag schräg eine Rampe aus Holzdielen und führte zu dem höher gelegten Holzboden über dem ursprünglichen Zement. Drinnen harkte Heather Wendell Dung und zertrampeltes Stroh aus einer Pferdebox. In den dahinter liegenden Boxen schnaubten Pferde und scharrten mit ihren Hufen über den hohl klingenden Plankenboden. Die große Frau schob die Karte in eine Hosentasche, wandte sich ab und fuhr mit ihrer Arbeit fort.
    »Morde«, sagte sie. »Untersuchungen. Leid. Den Pferden bedeutet das nichts.« Es war eine männliche Stimme. Sie klang nicht erfreut. »Was wollen Sie?«
    »Ihr Sohn Richard war bei uns versichert.«
    »Weil ich darauf bestanden habe.« Sie nickte, grimmig und selbstzufrieden. »Er hätte nie daran gedacht. Nicht, dass er egoistisch war. Er hatte einfach keine Phantasie. Es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass er sterben könnte. Und dann stünde ich heute schön da. Danke, das hab ich schon einmal mitgemacht. Mit meinem Vater. Ich möchte da nicht noch mal durch. Nicht in meinem Alter.« Ihr kräftiger Ellbogen schob Dave zur Seite. »Entschuldigen Sie.« Sie harkte den Haufen an seinen Füßen vorbei, hielt inne, blinzelte ihn an. »Sie stellen mir den Scheck aus - kommen Sie deswegen?«
    »Falsche Abteilung.« Dave lächelte entschuldigend. »Meine Abteilung stellt Fragen.« Sie knurrte, harkte weiter, ins Freie hinaus. Sie vertauschte die Harke mit einem kurzen Besen und kehrte den Dreck seitlich von der Rampe. »Ein Dutzend Polizeibeamte waren da, mit und ohne Uniform. In der besagten Nacht und am nächsten Tag. Mindestens die Hälfte von ihnen hat Fragen gestellt. Dieselben Fragen. Wieder und wieder.«
    Sie lehnte den Besen neben die Harke an eine ungehobelte Holzwand. Über Sägeböcken mit Sätteln baumelte verheddertes Zaumzeug von rostigen Haken. Sie nahm eine Trense herunter und trug sie zur Box neben der gereinigten. Metall klickte gegen Zähne, eine Gurtschnalle schnappte zu. Dann führte sie eine kleine scheckige Stute heraus, die schnaubend den Kopf nach hinten warf, als sie Dave sah.
    »Können Sie bitte mal kurz zurücktreten? Männer machen Buffy nervös. Danke.« Sie hielt Buffy an der Trense und schob sie mit der Schulter zur Tür hinaus. Rostige Angeln quietschten am Weidengatter, das hölzern klappernd wieder zuschlug. Dann kam sie zurück und trug die Harke in Buffys Box.
    »Ich gehe davon aus, dass einer dieser Polizisten intelligent genug war, um schreiben zu können. Zumindest der Japaner. Oder gewährt die Polizei den Versicherungen keinen Einblick in ihre Berichte?«
    »Lieutenant Yoshiba«, sagte Dave. »Ich habe seinen Bericht gelesen.«
    »Gut. Dann brauchen Sie Ihre Zeit hier nicht weiter zu verschwenden. Und meine auch nicht. Die Pferde sind seit Tagen nicht gepflegt und geritten worden. Das geht nicht. Und ich hab's eilig. Heute Nachmittag ist die Beerdigung.«
    »Sie waren an dem Abend im Kino«, sagte Dave. »In Los Santos. Sie sind hier kurz nach sieben weggefahren. Der Film begann um acht und lief drei Stunden, aber Sie waren schon vor zehn hier, und die Fahrt dauert vierzig Minuten. Was ist passiert?« »Ich bin rausgegangen. Der Film war widerlich. So sind sie alle heutzutage. Brutal, blutig, pervers. Ich wollte mich zwingen zu bleiben - schließlich war es teuer genug. Und Rick sagt immer, ich lasse mich gehen und versauere hier oben, ich solle ab und zu in die Zivilisation zurückkehren.« Die Harke klopfte dumpf gegen die Rückwand des dunklen Stalls. Heather Wendell schnaubte: »Zivilisation! Wissen Sie, was man den Pferden in diesen Filmen antut? Die Tierschutzvereine hier in den Staaten lassen nicht zu, dass man Fangdrähte benutzt - Sie wissen schon, damit die Tiere stolpern und fallen. Aber zum Filmen geht man heutzutage ja ins Ausland, und dort kümmert es keinen. Man bricht ihnen die Beine, das Genick, tötet sie. Für einen miesen, billigen Film. Reden Sie mir bloß nicht von Zivilisation.«
    »Bestimmt nicht«, sagte Dave. »Sie kamen gegen zehn nach Hause?«
    »Hab den Wagen abgestellt, wo ich ihn immer abstelle. Unten, beim Briefkasten. Sie sehen ja, die Garage benutzen wir nicht mehr für Autos.« Die Harke stand einen Augenblick lang still, während sie mit dem Daumen über die Schulter wies. »Früher sind wir von dort oben zur Garage hinuntergefahren - es ist die gleiche Straße, sie macht oben eine Schleife. Heute führen wir nur noch die Pferde über diese Auffahrt. Vom Asphalt ist kaum noch etwas übrig. Aber die Treppen sind eine gute Übung. Mein Vater hat immer gesagt, das Gehen soll man den Pferden überlassen, und er ist mit neunundvierzig gestorben.«
    »Schon recht«, sagte Dave. »Haben Sie einen Schuss gehört?«
    »Als ich die Treppe halb oben war. Hab nicht gewusst, was es war. Klang wie eine Fehlzündung von der Hauptstraße unten. Hier hallt alles von den Hügeln wider. Und ich hab nicht weiter drüber nachgedacht. Ich war noch wütend über diesen Film.« Sie ging wieder an Dave vorbei und schob den Mist aus Buffys Box mit der Harke nach draußen. »Ich hab ein bisschen Milch aufgesetzt, in einem Topf auf dem Ofen. Um mich zu beruhigen, damit ich schlafen kann. Wollte mich zum Schlafengehen umziehen, während die Milch warm wird, und ging zu meinem Zimmer, da sah ich Licht bei Rick. Das konnte gar nicht sein - er war arbeiten. Da fiel mir ein, dass sein VW unten beim Briefkasten stand, wo ich geparkt hatte. Sehen Sie, so sehr hat dieser Film mich mitgenommen. Normalerweise kommt Rick nicht vor drei Uhr nach Hause.« Ohne Stolz fügte sie hinzu: »Er besitzt nämlich eine Bar. Zusammen mit Ace Kegan.«
    »The Hang Ten«, sagte Dave. »Eine Schwulenbar. Am Ocean Front Walk in Surf.« »Ja.« Sie schaute ihn eine Sekunde lang nachdenklich an, dann fuhr sie fort, den Mist aus dem Stall durch die Tür ins Freie zu schieben. »Ich fürchtete, Rick könnte krank sein. Also dachte ich, ich gehe hinüber und sehe nach. Es ist eine separate Wohnung, wissen Sie, ursprünglich ein Gästehaus, zwei Schlafzimmer und ein Bad. Rick hat eins der beiden Zimmer umgebaut, um einen Raum zu haben, wo er sich entspannen, Musik hören und fernsehen konnte, ohne mich zu stören. Wir haben unterschiedliche Schlafenszeiten. Hatten. Die Tür war offen. Und da stand dieser Junge, diese Kreatur - wie heißt er noch? Johns. Stand splitternackt am Schreibtisch, Papiertaschentücher in der Hand, und wischte einen Revolver ab. Und mein Sohn lag tot vor seinen Füßen.«
    »Ebenfalls splitternackt«, fügte Dave hinzu.
    »Nein.« Sie blieb in der Tür stehen, eine wuchtige Silhouette, und hob den Kopf. Im Gegenlicht konnte Dave ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. Aber ihre Stimme hatte sich verändert. Sie gehörte jetzt einer alten Frau. »In seiner Brust klaffte ein großes Loch. Daran erinnere ich mich. War er nackt? Ja.« Ihre Schultern sanken herab. »Wahrscheinlich war er nackt.«
    »Kann ich mir dieses Zimmer anschauen?«, fragte Dave.
    »Die Polizei hat Fotos gemacht.« Der Griff der Harke polterte gegen die Wand. Sie kehrte das schmutzige Stroh hinaus. Wütend. Wahrscheinlich über sich selbst, weil sie menschliche Schwäche gezeigt hatte. »Ihre scheußlichen ausgebrannten Blitzlichtbirnchen haben sie einfach in den Kamin geschmissen.«
    »Ich habe die Fotos gesehen«, sagte Dave. »Jetzt muss ich das Zimmer sehen. Sie können ruhig mit Ihrer Arbeit weitermachen. Zeigen Sie mir nur den Weg.« Er zuckte zusammen, als er in das grelle Licht hinaustrat, und begann die Rampe hinunterzugehen.
    Sie baute sich vor ihm auf. »Ich weiß nicht, ob ich das muss. Was wollen Sie hier? Nein - machen Sie sich nicht die Mühe, mich anzulügen. Ich kenne die Versicherungen. Ich hab sie 1937 kennen gelernt. Als alle Policen, für die mein Vater jahrelang einbezahlt hatte, ungültig wurden. Weil er am Schluss ein paar Zahlungen versäumt hatte. Als er hilflos und krank war. Sie wollen nur eine Möglichkeit finden, wie Ihre Firma das Geld behalten kann, das mein Sohn für mich bestimmt hat. Damit ich weiterleben kann. Fünfundzwanzigtausend sind weiß Gott wenig genug heutzutage. Hätten Sie Lust, bis zum Ende Ihrer Tage davon leben zu müssen?«
    »Nein«, sagte Dave. »Aber es wird dauern, bis das Geld ausgezahlt werden kann, Mrs. Wendell. Bis nach dem Prozess. Das müssen Sie verstehen.«
    Sie schaute ihn mürrisch an. »Nein, muss ich nicht. Warum? Die Polizei weiß, dass dieser Bursche es getan hat. Der Staatsanwalt weiß es auch.«
    »Ein Geschworenengericht muss davon genauso überzeugt sein, und zwar ohne jeden vernünftigen Zweifel. Und Geschworene sind unberechenbar.«
    »Aber er hat doch dagestanden mit dem Schießeisen in der Hand!«, schrie sie. »Mit der Waffe, die meinen Sohn getötet hat.« Ihre Unterlippe zitterte, sie biss heftig darauf. »Es war doch die Pistole Ihres Sohnes, oder? Sie haben der Polizei gesagt, dass er sie in seinem Schreibtisch aufbewahrte.«
    »Die Hippies überschwemmen diesen Canyon.« Sie trat an Dave vorbei in das Dunkel des Stalles. Zaumzeug klimperte, als sie es vom Haken nahm. »Wir sind hier oben ziemlich isoliert. Weitab von jeder Hilfe. Wenn das Telefon nicht funktioniert, sind wir praktisch abgeschnitten. Und das kommt schon mal vor.« Ihre Arbeitsschuhe dröhnten auf den Planken, und ihre Stimme kam gedämpft aus dem hinteren Teil des Stalles. »Los Santos hat nicht gerade die modernste Technik. Ein Gewittersturm, ein Santana - schon ist die Leitung kaputt.« Aus einem kleinen Fenster fiel Licht in die hinterste Box. Dave sah, wie Heather Wendell das Zaumzeug über einen großen, dunklen Pferdekopf zog. »Es wäre dumm, hier oben keine Schusswaffe zu haben.« »Schusswaffen sind was für Schauspieler im Fernsehen«, erwiderte Dave, »nicht für wirkliche Menschen. Sie treffen immer die Falschen. Ihr Sohn könnte heute noch am Leben sein.«
    Sie gab keine Antwort. Sie sprach mit dem Pferd, sanft redete sie ihm gut zu. Hufe klapperten, kamen zum Stehen. Dave ging auf den von Kiefernnadeln gepolsterten Boden des Hofes hinunter und schaute zu, wie sie das Pferd auf die Koppel führte. Ein mageres Tier mit knubbeligen Kniegelenken und strähniger Mähne. Im Licht der Sonne sah man frisch verheilte Narben an den Flanken. Ein Riss zwischen den Augen war noch blutverkrustet und rot. Heather Wendell schloss das Tor und verriegelte es. »Mit Stacheldraht geschlagen«, erklärte sie. »Von einem Verrückten. Die Behörden wollten ihn einschläfern. Nicht den Mann, oh nein. Das Pferd. Das konnte ich nicht zulassen. Jetzt geht es ihm bald wieder gut.« In ihren Worten lag Zärtlichkeit. Nicht für Dave. Für das Pferd.
    Sie wandte sich wieder Dave zu, und er erklärte: »Sie ist nicht das Einzige, aber die Pistole irritiert mich. Die Geschworenen werden sich daran festbeißen. Jemand vom Polizeilabor wird aussagen, dass an der Hand Ihres Sohnes Schmauchspuren waren. Und an seiner Brust. Die Pistole wurde aus nächster Nähe abgefeuert. Sie könnten zu dem Schluss kommen, dass es Selbstmord war.«
    »Die Voruntersuchung hat aber nicht so entschieden.«
    »Sie hat entschieden, dass Johns sich vor Gericht verantworten muss. Das war alles. Die Geschworenen bei seinem Prozess sind dadurch in keiner Weise gebunden. Sie wissen gar nichts von der Voruntersuchung. Und wenn sie Johns freisprechen, kompliziert das die Dinge für meine Firma. Sollte Richard Wendell Selbstmord begangen haben, können wir die Summe nicht auszahlen. Das steht in der Police.«
    »Ja.« Ihr Mund verzog sich zu einem mürrischen Lächeln. »Das würde Ihrer Firma so passen, wie?« Sie ballte die Fäuste. »Aber dazu wird es nicht kommen. Das sagt einem schon der gesunde Menschenverstand. Ein Mensch bringt sich nicht in Anwesenheit eines anderen um. Eines Fremden.« Sie trat auf Dave zu, schleuderte die Worte wie Steine auf ihn. »Die Erklärung für die Schmauchspuren ist offensichtlich. Rick hielt die Pistole in der Hand. Hat vermutlich den Burschen beim Diebstahl überrascht. Die beiden haben gekämpft. Die Pistole ging los. Und traf Rick in die Brust.«
    »Vielleicht«, sagte Dave. »Johns erzählt es ein bisschen anders.« Die Sonne brannte. Dave zog sein Jackett aus, hängte es sich über einen Arm. »Er behauptet, dass sie im Bett waren und dass Rick ein Geräusch im Wohnzimmer hörte. Er ging hinüber, um nachzusehen. Johns hörte Stimmen - die Ihres Sohnes, die eines anderen Mannes - und einen Schuss. Er war verängstigt und brauchte eine Minute, bis er sich bewegen konnte. Als er aus dem Schlafzimmer kam, lag Ihr Sohn auf dem Boden. Johns beugte sich über ihn, schüttelte ihn. Kein Lebenszeichen. Blut. Die Pistole. Er nahm sie in die Hand, war zu benommen, um klar denken zu können. Dann wurde ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte und dass er die Fingerabdrücke auf der Pistole abwischen, sich anziehen und abhauen musste. Aber die Zeit reichte nicht. Sie kamen dazwischen.«
    »Und nahm ihm die Pistole ab.« Ihre Mundwinkel zuckten verächtlich. »Einsachtzig groß, langer Schnauzbart, langes Haar. Er hat geheult wie ein Mädchen, hat gebettelt und gefleht. Oh ja, ich kenne diese Geschichte. Er hat sie mir ein halbes Dutzend Mal erzählt, während er auf die Polizei wartete.« Ihr Lachen war kurz und zornig. »Lügen. Aussichtslos. Er hat Rick umgebracht.«
    »Wegen Geld?«, fragte Dave. »Die Brieftasche Ihres Sohnes lag auf der Kommode in seinem Schlafzimmer, unberührt. Mit zweihundert Dollar darin. Ein- und Zweidollarscheine, Zehner und Zwanziger.«
    »Für den Fall, dass im Hang Ten das Wechselgeld ausgeht«, sagte sie. »Er hat immer kleine Scheine bei sich gehabt. Natürlich war es noch da. Der Bursche hat es nicht genommen, weil er nicht die Zeit dazu hatte. Ich hab ihn gestört.«
    »Und was ist mit der offenen Tür?«, fragte Dave. Sie schaute ihn verständnislos an, und er erklärte es ihr. »Sie fanden die Tür offen vor, erinnern Sie sich? Bei dem, was die beiden taten, hätten sie eigentlich die Tür zusperren müssen, finden Sie nicht? Sie hätten sie nicht nur geschlossen, sondern abgesperrt.«
    »Es gibt kein Schloss«, sagte sie. »Das heißt, es gibt eins, aber keinen Schlüssel. Und das Schnappschloss ist mit Farbe verklebt. Dies ist ein altes Anwesen. Als wir es kauften, brauchte man hier oben keine Schlösser. Zu abgelegen. Und wir hatten Homer, unsere große Dogge. Die ist jetzt tot.«
    »Aber die Tür stand offen«, sagte Dave. »Das wird Johns bei seiner Verteidigung helfen.«
    »Er kann sich nicht verteidigen«, sagte sie tonlos. »Er hat die Tür selbst geöffnet und offen gelassen. Rick hörte ihn, kam heraus und -«
    »Nackt?«, fragte Dave ruhig.
    »Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen«, erklärte sie, »aber der Bursche ist ein Hippie. Die sind hier überall. Wer weiß, was in ihren Köpfen vor sich geht, wenn sie hier herumspazieren. Es ist bekannt, dass sie sich mit Rauschgift das Gehirn kaputtmachen. Mit dem Auto ist er nicht gekommen. Zumindest hat die Polizei keins gefunden.«
    »Johns sagt, Ihr Sohn hat ihn mitgenommen und hierher gebracht. Und seine Kleider lagen nicht im Wohnzimmer, Mrs. Wendell. Sie lagen im Schlafzimmer.« Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder, drehte sich um und marschierte die Rampe hinauf in den Stall. »Ich habe zu tun.« Als sie herauskam, umfassten ihre kräftigen Finger eine rechteckige Pferdebürste mit Holzrücken und einen groben Kamm, dessen Metallzähne in der Sonne funkelten. Sie ging in die Koppel und begann den Fuchs zu striegeln.
    Dave trat an den Zaun, stellte einen Fuß auf die unterste Querlatte, verschränkte die Arme auf der obersten und stützte das Kinn darauf. »Ich bin gestern Abend beim Kino gewesen«, sagte er. »In Los Santos. Ich habe mit dem Abendpersonal gesprochen. Sie wären dort sicher aufgefallen, Mrs. Wendell. Aber niemand erinnert sich an Sie.«
    Die Striegelbürste hielt in der Bewegung inne. Heather Wendell drehte sich um.
    »Nicht nur das, Mr. Brandstetter, meine Fingerabdrücke sind auch die einzigen auf der Pistole. Weder das eine noch das andere hat irgendetwas zu bedeuten. Da Sie nicht so viel Verstand besitzen, das einzusehen, werde ich es Ihnen erklären. Mein Sohn hat zwölf- bis vierzehntausend Dollar im Jahr verdient. Er hat für das Dach über meinem Kopf gesorgt, für die Kleidung auf meinem Leib und für mein Essen. Er ließ mich meinem teuren Hobby nachgehen - nicht ohne Murren, aber er hätte mir nie irgendeinen Wunsch versagt. Warum hätte ich ihn umbringen sollen? Für 25.000 Dollar Versicherungsprämie?«
    »Das reimt sich nicht zusammen«, räumte Dave ein. »Wie alles in diesem Fall. Das ist es, was mich irritiert.« Er seufzte, richtete sich auf, wandte sich vom Zaun ab. »Aber es wird sich noch zusammenreimen. Es wird.« Er sah hinab auf die grauen, baumbeschatteten Dächer. »Sind das seine Zimmer, in dem L-förmigen Bau dort?«

© Argument Verlag, 2001

 

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