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Gerald Kersh: Nachts in der Stadt

Eine Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Maas Verlags.

 

Nachts in der Stadt Ein Mann kam an Fabians Tisch und setzte sich ihm gegenüber.
      »Also wenn das nicht Mr. Clark ist!«, rief Fabian aus.
      »Guten Abend, Fabian«, sagte Mr. Clark. »Ich glaube, ich muss eine kleine Schuld begleichen.«
      »Das eilt nicht.«
      »Ich kann es gleich hier machen und die Sache ist erledigt«, sagte Mr. Clark, zog eine Brieftasche hervor und nahm eine Fünfpfundnote heraus. »Es waren fünf, wenn ich mich recht erinnere. Möchten Sie lieber kleine Scheine?«
      »Das ist egal«, sagte Fabian. »Geld ist Geld. Waren die Männer in Ordnung?«
      »Ja, doch.«
      »Mussten Sie Ihnen viel zahlen?«
      »So viel wie ich erwartet hatte.«
      »Für einen Fünfer machen diese Typen alles, was Sie wollen.«
      »Meinen Sie? Jedenfalls kann ich noch mehr Männer wie diese gebrauchen.«
      »Nun, Mr. Clark, ich glaube, ich kann noch ein paar finden, aber die sehen ziemlich abgerissen aus.«
      »Es ist mir egal, wenn sie kein Hemd am Leibe haben. Hauptsache, sie sind unverheiratet. Um den Rest kümmere ich mich schon.«
      »Wer hat den Griechen bekommen? Louise?«
      »Nein. Jemand, den Sie nicht kennen.«
      »Nun, wer auch immer es ist, sie sollte aufpassen. Ein Ehemann ist ein Ehemann. Aber sagen Sie, Mr. Clark, der andere Typ, dieser Ire - «
      »Was soll mit ihm sein?«
      »Sie sollten ein Auge auf ihn haben. Er könnte krumme Touren versuchen.«
      »Zum Beispiel?«
      »Oh... Keine Ahnung. Aber er sieht danach aus, und Sie wollen doch keine krummen Touren.«
      »Ich glaube«, sagte Mr. Clark, und wenn ein Kühlschrank eine Stimme hätte, würde er in diesem Ton sprechen, »ich bin in der Lage, damit fertig zu werden. Leute, die mit mir geschäftlich zu tun haben, erledigen ihre Arbeit und erhalten ihren Anteil. Nicht mehr und nicht weniger. Gerade habe ich Ihrem irischen Freund klargemacht, wie töricht es wäre, irgendeine... krumme Tour zu versuchen. Ich habe für so was keine Zeit. Ich bin Geschäftsmann.«
      Mr. Clarks Stimme war gedämpft, mit kultiviertem Unterton; es war eine sehr kühle Stimme. Sie war die akustische Transformation des Gefrierpunktes. Er sprach, als zöge er es vor, nicht gehört zu werden. Kühle Reserviertheit stand ihm auch ins Gesicht geschrieben. Er hatte die diskreten, versiegelten Lippen eines Familienanwalts; sein Mund war ein einbruchsicherer Safe zum Verschließen von Geheimnissen, doppelt verriegelt durch die Muskulatur seiner langen, rechteckigen Kinnpartie. Sein Gesicht war bemerkenswert symmetrisch. Zwischen seinen Augen und auch auf seinem Kinn war ein Spalt; diese Merkmale sahen aus wie die Überbleibsel einer Grundlinie, um die herum sein Kopf mathematisch ge-nau konstruiert worden war. In seinem glatten, olivenfarbenen Gesicht saßen große schwarze Augen, die scharf, leuchtend und scheinbar ohne zu zwinkern unverwandt in den Raum starrten. Man hätte ihn für einen ehemaligen Theologiestudenten halten können, der das Priester-seminar zugunsten einer wissenschaftlichen Tätigkeit verlassen hatte. Etwas Klerikales war an seiner Art sich zu kleiden: das konventionell geschnittene schwarze Jackett, die engen Hosen, der kleine Kragen seines Hemdes und die klobigen Schuhe. Doch genau in der Mitte seiner dunklen Krawatte funkelte ein kleiner, aber äußerst schöner Diamant. Clark strahlte Distanziertheit aus. Wovon lebte er? Seine Geschäftspartner, die es wussten, würden es nie sagen; und die Polizei, die es ebenfalls wusste, hatte keinen Beweis. Es gab Berichte, die ihn mit Menschenhandel und Rauschgift in Verbindung brachten. Gerüchte deuteten auf organisierten Juwelenraub und andere Dinge hin, die die Grenze zum Phantastischen überschritten. In der Nähe der Great Marlborough Street unterhielt er ein Büro. Auf dem Messingschild stand Arthur Mayo Clark, Kommissionär. Seine Regale waren voller Gesetzbücher. In seinem Wartezimmer wurden die unterschiedlichsten Leute gesichtet: abgehärmte Prostituierte aus Paris; unbeholfene Mädchen vom Lande, immer gut aussehend, die ihre großen Vulkanfiberkoffer sorgsam bewachten, mürrische Italiener mit den Händen in den Hosentaschen; Kosmopoliten in amerikanischen Mänteln, mit deutschen Hüten, belgischen Handschuhen, französischen Schuhen und österreichischen Krawatten; ihr Gepäck bestand aus eleganten Rindsledertaschen, die mit einem Patchwork aus Hotelaufklebern bepflastert waren; mitspektabilität umgab; Chor-knaben mit mehr Puder auf den Wangen, als Männer für gewöhnlich aufzutragen pflegen; der eine oder andere Zypriote mit der halben Ration Stirn und doppelter Menge Kinn; oder rohe Typen, deren abgründige Ge-sichter Plakate waren, die für siebenundfünfzig Varianten menschlicher Verkommenheit warben. Was sie zu Mr. Clark sagten und was er mit ihnen zu tun hatte, blieb ein Geheimnis. Er verließ sein Büro jeden Abend um sieben und verstohlen krochen Mäuse aus ihren Löchern und schnupperten neugierig an den verstreuten Zigarettenkippen und Zigarrenstumpen auf dem Boden des Wartezimmers; die vertrauten Players, die ausländ-ischen Gitanes, Toscani, Cigarette Macedonin, Camels und Lucky Strikes. Dann tauchte Mr. Clark in der Menge auf der Straße unter und erledigte diverse kleinere Geschäfte an einigen merkwürdigen Orten, bevor er nach Hause ging, um zu schlafen.
      »Ja, sicher«, sagte Harry Fabian, der in Clarks Gegenwart äußerste Mühe hatte, sein widerspenstiges linkes Auge unter Kontrolle zu halten. »Sicher, sicher, niemand hat ein Interesse an krummen Geschäften. Nur, was diesen irischen Typ angeht: Ich dachte, ich sag's Ihnen besser, das ist alles.«
      »Ich weiß«, sagte Mr. Clark und zeigte ein oder zwei blendend weiße Zähne in einem gekünstelten kleinen Lächeln, »und ich bin Ihnen sehr verbunden. Was möchten Sie trinken?«
      »Einen kleinen Scotch.«
      »Anna, einen großen Haig für Mr. Fabian und ein kleines Bier für mich.«
      »Hören Sie, Mr. Clark«, sagte Fabian ernst, »da gibt es ein Geschäft, über das ich mit Ihnen reden möchte. Können Sie mir hundert Pfund leihen? Ich geb Ihnen in acht Wochen einhundertundfünfzig zurück. Ich - «
      »Wie? Ihnen einfach so hundert Pfund leihen?«
      »Ja, aber ich werde Ihnen einhundertundfünf - «
      Mr. Clark schüttelte den Kopf.
      »Sie können es nicht?«, fragte Fabian.
      »Wahrscheinlich könnte ich es nicht. Bringen Sie mir morgen vierzig ledige Männer und ich gebe Ihnen einen Tag später zwanzig Fünfpfundnoten«, sagte Mr. Clark.
      »Vierzig! Verdammt! Wer bin ich denn? Eine Heiratsvermittlung? Also ehrlich, Mr. Clark, ich habe ein brandheißes Geschäft an der Hand.«
      »Kann Zoë Ihnen nicht das Geld besorgen?«
      Fabian zuckte mit den Schultern.
      »Wollen Sie noch einen Drink, Fabian?«
      »Nein.«
      »Nicht mal einen kleinen?«
      »Nein.«
      »Um was für ein Geschäft handelt es sich überhaupt?«
      »Ringkampfveranstaltung. Es ist ein - «
      »Oh, ich fürchte, das liegt nun so gar nicht auf meiner Linie. Aber ich wünsche Ihnen viel Erfolg«, sagte Mr. Clark, nickte höflich, trank einen winzigen Schluck Bier und schob das Glas weg. »Halb Elf. Wie in Ihrer Gesellschaft die Zeit verfliegt! Sie entschuldigen mich. Gute Nacht.«
      »Geizkragen«, murmelte Fabian. Eine genaue Transkription seiner Gedanken in diesem Moment hätte etwa so ausgesehen: Einhundert Pfund. Oh, verdammt, verdammt, verdammt! Einhundert Pfund. Einhundert Pfund. Verrrdammmt! Zoë wird es ranschaffen müssen. Und wenn ich ihr den Hals umdrehen muss. Zoë muss es ranschaffen.
      Seine Unterlippe schob sich direkt unter seine Nase. Mit einer abrupten Bewegung, die seine Haarpracht nach hinten warf, stand er auf und stapfte hinaus aus dem International Political Club.
     
      Fabian ging nun schnurstracks geradeaus wie ein Mann mit einem eindeutigen Ziel. Tap, tap, tap, tap machten seine scharfen kleinen Absätze in der feuchten Nacht, während er die Wegstrecke Richtung Süden zu seiner Wohnung in der Rupert Street zurücklegte.
     
      Fabian besaß Talent zum Spionieren durch Schlüssellöcher und war ein begabter Lauscher an der Wand. Als er sich seiner Wohnung näherte, trat er leise auf. Lautlos wie eine Katze ging er die Treppe hoch und den Flur entlang, und als er seine Tür erreichte, blieb er stehen und lauschte, drehte den Schlüssel mit unbeschreiblicher Vorsicht herum, schloss die Tür geräuschlos und lauschte wieder. Sobald er sicher war, allein zu sein, ging er in das kleine Wohnzimmer neben dem Schlafzimmer und zog seinen Mantel an, der hinter der Tür hing. Aber als er sich umdrehte, um wieder hinauszugehen, hörte er Schritte auf dem Flur. Fabian war so etwas wie ein Spezialist in Sachen Schritte: Er erkannte das Klackern von Zoës Blockabsätzen über den langsameren und schwereren Schritten ihm unbekannter männlicher Beine. Er schlüpfte ins Wohnzimmer und schloss die Tür, kurz bevor sich Zoës Schlüssel im Schloss drehte. Fabian verharrte im Dunkeln. Wie üblich führte Zoë ihren Besucher direkt ins Schlafzimmer. Fabian hörte, wie sie sagte: »Nur eine Sekunde, ich mache eben mal das Licht an... Komm rein, mein Lieber.«
      Die Wände der Wohnung waren dünn, aber nicht dünn genug für Fabian, der, von neugieriger Natur, gern einen Blick auf das warf, was um ihn herum vorging. Heimlich hatte er mehrere Löcher in die Schlafzimmerwand gebohrt - durch die dunkleren Teile der Tapete, so dass Zoë nichts davon bemerkte. Durch diese Löcher konnte Fabian beobachten, ohne gesehen zu werden, und konnte Dinge hören, die für keinen Dritten bestimmt waren. Er drückte jetzt sein rechtes Auge an eines der Löcher und bekam einen Überblick über das Schlafzimmer.
      Es war ein kleiner Raum, ausgestattet mit einer Tapete mit China-Motiven, einer Beleuchtung in Form einer billigen Einheitslampe, deren gelber Schirm mit einer Fransenkante geziert war, und der Imitation eines chinesischen Teppichs in Blau und Gelb. Es gab ein großes Doppelbett mit stahlblauer Bettdecke, die mit rosafarbenen Rosenknospen gemustert war; einen Kleiderschrank und eine Frisierkommode mit einem Durcheinander aus Bürsten, zerbrochenen Parfumzerstäubern und billigem Schmuck, wie man ihn auf Weihnachtsmärkten be-kommt, und einem Kruzifix. Zoë stand in der Nähe der Lampe und nahm ihren Hut ab.
      Sie war ein ansehnliches Mädchen mit den beinahe unanständig sinnlichen Proportionen einer Frauengestalt in einem indischen Holzschnitt, eines jener Mädchen, dessen Brüste, bereits mit fünfzehn voll entwickelt, in einer schwülen Atmosphäre der Erotik rasant zur schlaffen Überreife anschwellen wie Tomaten in einem Treibhaus. Jetzt, mit dreiundzwanzig, hatte Zoë fast den Zenit ihrer körperlichen Entwicklung erreicht. Männer, die ihren Namen nicht kannten, nannten sie nicht ðdas Mädchen mit dem schwarzen, krausen HaarÐ oder ðdas dunkle Mädchen mit dem Muttermal am KinnÐ, sondern ðdas Mädchen mit dem BusenÐ. Von seinem Versteck aus sah Fabian ihr direkt in die Augen. Was für eine Frau!, sagte er zu sich selbst. Was könnte sie verdammt noch mal erreichen, wenn sie nicht so sanft wäre! Von vorn betrachtet, im vollen Licht der Lampe, war Zoë außerordentlich schön; doch als sie den Kopf wandte, um mit ihrem Besucher zu reden, zeigte sie ein Profil, das ihren Mangel an Willen offenbarte, die schlaffe, dahinfließende Physiognomie einer Frau, bei der die Ovulation das Denkvermögen aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
      Der Besucher hingegen war einer jener Männer, die man unmöglich mit einer wie auch immer gearteten Vorstellung von Sex in Verbindung bringen kann; einer jener zarten, schüchternen Herren, die auf Grund ihrer angeborenen Ehrbarkeit nie die Kraft gehabt zu haben scheinen, ihre Männlichkeit zu genießen. Beim Betreten des Schlafzimmers hatte er seinen Hut abgenommen. Fabian konnte sein Gesicht deutlich sehen - sehr bleich, knochig und betont länglich durch den zurückweichenden Haaransatz. Das noch auf dem Kopf verbliebene Haar war von undefinierbarer Farbe; ebenso die spärlichen Augenbrauen und der gestutzte Schnurrbart.
      Während eines zehnminütigen Spaziergangs durch die Stadt kann man fünfhundert ähnliche Gesichter sehen, man sieht sie und vergisst sie wieder. An diesem kleinen Mann jedoch war etwas, was einen gezwungen hätte, zweimal hinzusehen, und das war der Ausdruck tiefsten Unglücks in seinem Gesicht. Er zeigte die dumpfe, düstere Miene geduldig ertragenen Leidens. Die dunklen Ringe unter seinen Augen hätten Hinterlassenschaften von Tränenbächen sein können. Stetes Wasser höhlt den Stein - was erst macht es mit dem Gesicht eines armen kleinen Mannes! Er sieht aus, als hätte er einen Fünfer verloren und einen Penny aufgehoben, so brachte Fabian hinter seinem Guckloch die Erscheinung auf den Punkt.
      Wie beiläufig betrachtete Fabian den schlichten grauen Mantel, den Hut mit dem scharfen Knick und den steifen Kragen des Besuchers. Er hatte den Typ Mann in diesem Schlafzimmer schon gesehen, den Typ Mann Ende vierzig aus den Vororten, reserviert, vorsichtig und verschreckt; der Ernährer, der vierhundert Pfund im Jahr verdiente, fünfundzwanzig Jahre verheiratet war und seiner gleichgültigen Ehefrau ziemlich überdrüssig, heimgesucht von einem amourösen Anfall, der so zwanghaft war wie ein selbstmörderischer Impuls und nun in einem verzweifelten Sprung in das Schlafzimmer einer Prostituierten mündete. Fabian verzog verächtlich sein Gesicht. Er wusste genau, was geschehen würde. Der kleine Mann würde sich hinlegen und Zoë in einer zitternden Umarmung umfassen, sich dann all der Schauer-märchen erinnern, die er über Schanker und Paralyse gehört hatte, ein Opfer der Impotenz werden und sich entschuldigen, Müdigkeit vorschützen, sein Geld hinlegen und davonlaufen.
      Zoë schaltete das Radio an. Die Stimme des Solisten einer Tanzband war zu hören: Struttin' like a peacock, feelin' like a millionaire... Zoë tanzte durch den Raum, warf ihr Kleid ab und zeigte sich in einem Hemdhöschen aus schwarzer Spitze. Fabian nickte anerkennend. Doch der Besucher saß nur auf der Bettkante und machte keine Anstalten, seinen Mantel auszuziehen.
      »Weißt du«, sagte Zoë, »ich mag dich. Du hast ein nettes Gesicht. Möchtest du tanzen?«
      »Nein, danke«, sagte der Besucher. »Ich... wissen Sie, ich bin nicht mitgekommen wegen... wegen irgendetwas dergleichen. Ich wollte nicht... nicht... irgendetwas machen. Ich war einfach nur einsam. Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht beleidigt. Sie... Sie gefielen mir, und ich... ich hab mir gedacht, dass es Ihnen vielleicht nichts ausmacht... mir eine halbe Stunde oder so Gesellschaft zu leisten, einfach nur mit mir zusammenzusitzen.«
      »Also einer von diesen Spinnern!«, murmelte Fabian.
      »Aber warum denn, du armer Mann!«, sagte Zoë mit spontanem Mitgefühl. »Als wenn mir das was ausmachen würde. Es tut mir Leid, dass du so einsam bist, mein Lieber. Möchtest du, dass ich mich hinsetze und wir uns unterhalten? Soll ich das Radio ausschalten?«
      »Wenn Sie nichts dagegen hätten?«
      Knack machte der Schalter. Der Sänger verstummte.
      »Du siehst ja völlig kaputt aus«, sagte Zoë. »Was hast du nur angestellt?«
      »Nichts, nur nicht geschlafen.«
      »Warum nicht?«
      »Ich weiß es nicht.«
      »Du wirst dich noch umbringen, wenn du nicht Obacht gibst. Man braucht doch Schlaf. Pass auf, ich mach dir einen Vorschlag. Du legst dich aufs Bett und ruhst dich eine halbe Stunde oder so aus und ich lege mich zu dir und wir reden. Ja?«
      »Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich möchte doch lieber sitzen bleiben, danke.«
      »Was hältst du davon, wenn ich dir eine Tasse Tee mache?«
      »Nein, danke. Aber es ist nett gemeint. Ich bin Ihnen sehr verbunden.«
      Zoë fiel für den Moment nichts mehr ein und es gab eine peinliche Stille, bis der kleine Mann sagte: »Sind Sie schon lange hier?«
      »Zwei Jahre.«
      »Läuft es... gut?«
      »Nicht schlecht.«
      Der Besucher zeigte auf eine Fotografie von Fabian, die auf dem Kaminsims stand und fragte: »Wer ist das?«
      »Oh, das ist ein Freund von mir. Er komponiert.«
      »Wirklich?... Äh, sind Sie schon lange in diesem Geschäft?«
      »Seit ich neunzehn bin, etwa vier Jahre.«
      »Gefällt es Ihnen?«
      »Oh, ich weiß nicht so recht. Eigentlich ist es gar nicht schlecht. Ich hab dich in letzter Zeit öfter hier in der Gegend gesehen und hab mich gefragt, wer du wohl bist«, sagte Zoë. »Einer meiner Freunde dachte, du wärst ein Detective, aber ich hab gewusst, dass das nicht stimmt. Ich hab mir gedacht, ist schon komisch, dass ein Mann wie du die ganze Nacht in diesen miesen Läden rumhängt. Verrat mir, wieso. Bist du unglücklich zu Hause, ist es das?«
      »Nicht ganz. Es ist nur die Einsamkeit. Ist eine merkwürdige Geschichte.«
      »Na dann erzähl sie mir.«
      »Das möchte ich gern, aber...«
      »Also wenn es ein Geheimnis ist, dann erzähl's mir nicht. Leg dich einfach hin und ruh dich aus. Mein Gott, du siehst wirklich aus, als wenn du's nötig hättest.«
      »Sie sind wirklich sehr lieb. Ich merke, dass ich Vertrauen zu Ihnen haben kann.«
      »Natürlich kannst du das. Von mir erfährt keiner auch nur ein Sterbenswörtchen.«
      »Also, es ist so. Ich bin verheiratet.«
      »Aber deine Frau versteht dich nicht.«
      »Nein, nichts dergleichen. Ich bin seit über zwanzig Jahren verheiratet, ganz glücklich sogar. Aber vor einiger Zeit ist meine Frau krank geworden.«
      »Was hat sie?«
      »Krebs.«
      »Nicht mal meinem schlimmsten Feind würd ich Krebs wünschen«, sagte Zoë.
      »Nun, Sie müssen wissen, ich bin Bakteriologe.«
      »Hm?«
      »Ich habe in einer Hefefabrik gearbeitet, verstehen Sie, in der Nachtschicht, habe mich um die Fermentierung gekümmert und all diese Sachen.«
      »Das muss interessant gewesen sein.«
      »Ja. Aber kurz nachdem meine Frau krank geworden ist, hat meine Firma mit einer anderen fusioniert und ich habe meinen Job verloren. In meinem Alter in meiner Branche einen neuen Job zu finden, ist nicht leicht.«
      Himmel Herrgott! Will die kleine Ratte etwa sagen, dass sie kein Geld hat?, fragte sich Fabian.
      »Und was haben Sie nun gemacht?«, fragte Zoë.
      »Meine Frau ist in einem Pflegeheim und hat nicht mehr lange zu leben. Sie hat sich schon immer viel Sorgen gemacht, das kleinste Missgeschick konnte sie wochenlang aufregen. Ich wollte ihr die letzten Monate ihres Lebens nicht vergällen und ihr erzählen, dass ich meinen Job verloren habe. Also hab ich so getan, als würde ich jede Nacht zur Arbeit gehen und am Morgen nach Hause kommen. Dann kam ihre Schwester, um mir den Haushalt zu führen, und ich musste weiter den Anschein wahren.«
      »Hättest du es der Schwester nicht sagen können?«
      »Sie hätte es nicht für sich behalten. Also gehe ich jede Nacht zur Arbeit, komme jeden Morgen nach Hause und jede Woche präpariere ich eine Lohntüte. Ich nehme das von meinen Ersparnissen.«
      »Bekommst du von deiner alten Firma keine Pension?«
      »Nein, aber sie haben mir ein Jahresgehalt als Abfindung gezahlt. Außerdem habe ich etwas gespart. Wir haben nicht auf großem Fuße gelebt, ganz gut zwar, aber nicht über unsere Verhältnisse. Ein oder zweimal die Woche ins Kino. Vielleicht ein oder zweimal im Jahr, zum Beispiel an unserem Hochzeitstag, haben wir uns Abendgarderobe angezogen und sind in die Stadt, ins Theater, und dann zum Abendessen in ein Restaurant, wo wir bei einer Flasche Wein der Band zugehört haben. Kein Luxus also. Wir sind gut miteinander ausgekommen. Wissen Sie, da ist was Wahres dran, wenn Leute ihren Ehegatten als ihre bessere Hälfte bezeichnen. Wenn zwei Menschen lange Zeit recht glücklich zusammenleben, wachsen sie zusammen. Sie werden eins. Und wenn man sie dann auseinander reißt...«
      »Ach du Armer!«, rief Zoë aus. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Und zwei große Exemplare tropften mit einem zarten Platschen auf ihren nackten rechten Oberschenkel.
      »Das Problem ist«, fuhr der kleine Mann fort, »ich muss Zeit totschlagen. Ich habe es nicht gewagt, mich irgendjemandem anzuvertrauen.«
      »Hast du denn keine Freunde?«
      »Niemanden, mit dem ich wirklich reden kann. Ich war schon immer ein Einzelgänger, also muss ich losziehen und mich unter Fremden aufhalten, alles Menschen, die nachts leben. Ich traue mich nicht, dorthin zu gehen, wo ich auf Nachbarn treffen könnte. So bleiben nur Lokale, in denen Sie mich gesehen haben.«
      »Warum nimmst du dir nicht irgendwo ein Zimmer?«
      »Ganz einfach, weil ich es nicht ertragen kann, allein zu sein. Das hat mein Leben zerstört. Ich finde keinen Schlaf, ich muss einfach herumwandern...«
      »Könntest du nicht behaupten, du arbeitest tagsüber?«
      »Das würde nichts ändern. Ich kann nachts nicht schlafen. Am Tage kann ich mich in meiner Nachbarschaft sehen lassen, das ist kein Problem. Aber Sie können sich nicht vorstellen, wie schrecklich es für mich ist, nachts allein zu sein. Nein, nein; möge sie in Frieden gehen und dann soll mir alles egal sein. Meine arme Frau, Krebs allein ist schon schlimm genug.«
      »Die Schwester deiner Frau muss ein richtiges Miststück sein.«
      »Sie ist eine sehr bösartige Person. Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie sich das alles anhören. Ich bin Ihnen sehr dankbar, wirklich.«
      »Weißt du, ich finde, du bist furchtbar nett«, sagte Zoë. »Hab keine Angst vor mir. Vergiss das alles für einen Moment, leg dich hin und ruh dich aus. Nur eine Viertelstunde. Es wird dir gut tun, du siehst furchtbar aus.«
      »Nein, ich kann mich nicht ausruhen.«
      »Soll ich rausgehen und dir einen Drink holen?«
      »Nein, danke; ich trinke in letzter Zeit sowieso zu viel.« Der kleine Mann tätschelte mit einer dankbaren Geste ihr Bein; dann, als ihm plötzlich bewusst wurde, was er gerade tat, zog er seine Hand abrupt zurück.
      Auf der anderen Seite der Wand grinste Fabian von einem Ohr zum anderen.
      »Es tut gut, mit Ihnen reden zu können«, sagte der kleine Mann. »Ich fühle mich wie von einer Last befreit. Dabei ist alles ganz harmlos, nicht so, als würde man ein Verbrechen gestehen - aber es kostet mich Überwindung. Ich konnte es einfach niemandem erzählen, den ich kenne. Das klingt vielleicht lächerlich, aber es war mir nicht möglich. Danke. Ich bin Ihnen sehr sehr dankbar. Aber nun sollte ich Sie nicht länger belästigen. Ich werde gleich verschwinden...«
      Mein Gott! Sieht aus, als will der wirklich gleich ab-hauen, dachte Fabian, als ihm plötzlich eine Idee kam. In der Dunkelheit seines Verstecks ballte er die Fäuste und starrte Zoë durch das Guckloch an. Verschaff dir die Adresse, du dummes Ding, wollte er schreien. Er zitterte vor Erregung.
      »Wohin wirst du jetzt gehen?«, fragte Zoë.

      »Ich weiß es nicht. Ich denke, ich werde irgendwo eine Tasse Kaffee trinken.« Der kleine Mann langte mit zwei Fingern in seine Brusttasche und zog drei Pfundnoten heraus. »Ich danke Ihnen. Bitte nehmen Sie das. Ich habe eine Menge Ihrer wertvollen Zeit verschwendet.«
      »Nein, das ist schon in Ordnung«, sagte Zoë. Sie schob das Geld zurück und einem plötzlichen Impuls folgend, küsste sie ihn auf die Stirn.
      Fabian knirschte im Dunkeln mit den Zähnen.
      »Nein, ich bestehe darauf«, sagte der kleine Mann. »Ein Geschenk. Keine Bezahlung, sondern ein Ge-schenk. Kaufen Sie sich einen Hut oder so was. Sie sind ein süßes Mädchen. Ich werde wiederkommen, wenn ich darf, nur, um mich mit Ihnen zu unterhalten. Gott segne Sie. Gute Nacht.«
      Verdammt! Fabian trat sich tatsächlich selbst. Was bin ich doch für ein Idiot! Warum bin ich nicht vor fünf Minuten rausgeschlichen, um ihn abzupassen.
      »Wart einen Moment«, sagte Zoë, »lass mich deine Kra-watte zurechtrücken. Und du hast eine Menge Fusseln hinten auf deinem Mantel, eine Sekunde, ich bürste sie dir ab.«
      Fabian blieb nicht länger, um noch mehr zu hören. Er zog den Riegel zurück, schob sich aus dem Wohnzimmer und öffnete die Wohnungstür, alles ohne ein Ge-räusch zu machen. Er beherrschte die Technik, Türen lautlos zu schließen. Er stahl sich aus der Wohnung wie ein Schatten und rannte die Treppen hinunter.
      »Gott sei Dank!«, sagte Fabian, der nicht ganz ohne religiöse Prinzipien war.
      Es regnete. Er stand im Hauseingang, als suche er Schutz.
      Das gelbliche Licht der Straßenlaternen hatte etwas Unentschlossenes hinter dem Vorhang aus Regen. Angetrieben von einem wilden Ostwind gingen die schweren Schauer in einem Winkel nieder, als wollten sie ein für allemal das Ungeziefer fortspülen, das über dem fiebrigen Gesicht dieser tristen und endlosen City schwirrte.
      Der kleine Mann kam herunter und ging weg.
      Fabian schlug den Kragen seines Mantels hoch und folgte ihm.

 

Aus dem Englischen von Ango Laina
© Maas Verlag, 2002
Alle Rechte vorbehalten!

 

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