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D.B. Blettenberg: Siamesische Hunde

Eine Leseprobe mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Random House.

 

1

Siamesische Hunde Khun Bao war einundsechzig Jahre alt. Ein anerkannter Altprofi. Sein Geschäft war der Tod.
      Er konnte auf eine Millionen Opfer zurückblicken. Acht Baht pro Kadaver. Der Preis für zwei Flaschen Coca-Cola. Bao war der ungekrönte König der Schlächtereinheit. Sie bestand aus fünfzig Männern, die in neun Gruppen aufgeteilt operierten. Jagdgebiet waren die Straßen der Sechs-Millionen-Metropole. Ein Vollzeitjob, wenn noch hundertundfünfzigtausend Opfer frei herumliefen. Jede Gruppe setzte sich aus mindestens drei Mitgliedern zusammen: einem Fahrer, einem Mann mit einer Taschenlampe und einem Fänger mit einem Netz.
      Khun Bao arbeitete am liebsten zwischen drei Uhr nachts und dem Morgengrauen. Die Temperatur sank um diese Zeit auf ein erträgliches Maß ab. Der Auto - und Motorradverkehr kam zum Stillstand. Fußgänger waren Mangelware. Ruhiges und ungestörtes Arbeiten. Angenehm.
      Baos Team operierte in jener Nacht in einem Villenviertel nahe der Sukhumvit Road, zwischen Soi 49 und Soi 61. Der Altmeister machte sich gerade Gedanken über das Töten, als der Fahrer einen Grunzlaut von sich gab. Im Scheinwerferlicht war ein Opfer zu sehen. Der Fahrer hielt an. Khun Bao und der Beleuchter stiegen aus. Der mit der Taschenlampe blendete das Opfer, und Bao warf das Netz. Das Opfer gellte um Hilfe, wehrte sich, erlahmte und landete schließlich im Käfig auf der Ladefläche des Toyota Pickup.
      Beide Männer stiegen wieder ein. Es war erst der dritte Fang in den letzten vierundzwanzig Stunden. Khun Bao knurrte mürrisch. Beinahe hatte ihn das Biest auch noch gebissen. Vor vier Jahren hatte ihn ein Köter mit Schaum vorm Maul am linken Unterarm erwischt. Er erinnerte sich an zwölf Antitollwutspritzen.
      »Verdammte Hunde«, fluchte Khun Bao.
      Der Fahrer legte den ersten Gang ein und fuhr weiter.

 

2

Die meisten Gerüchte über Bangkok entsprechen der Wahrheit.
      Eine exotische Oase voller goldener Pagoden. In der Luft das Läuten von Tempelglocken. Wunderschöne Frauen mit perfekten Körpern. Muskulös-sehnige Männer mit dunkler Haut. Das immerwährende Lächeln, ohne Rücksicht auf das Geschlecht. Mönche in safrangelben Roben. Der Geruch von Räucherstäbchen. Buddhafiguren. Das Trompeten der Elefanten. Lastwagen voller Teakholz. Märkte wie Ameisenhaufen. Straßenhändler. Edelsteine, echt und gefälscht. Orchideen und Lotosblüten. Schwärme wilder Sittiche und Hochspannungsleitungen voller Schwalben.
      Diebe, Träumer und Abenteurer bevölkern das Treibhaus und geben dem Chaos Leben. Auspuffgase in dicken, schwarzen Wolken schwängern die dampfende Waschküche Tag und Nacht. Die Magie der Vergangenheit. Märchen aus tausendundeiner Nacht und der Irrsinn der Moderne. Der Rock'n Roll der Neuzeit. Der Zauber des alten Siam, und der Terror des neuen Thailand.
      Zur Hölle mit Bangkok! Man konnte dieses Monstrum lieben oder hassen. Dazwischen gab es gar nichts. Brandau war seit vier Jahren hier, und er hatte vor, noch zu bleiben.
      »Ich habe Ihr Bild in der Zeitung gesehen«, sagte der weißgekleidete Boy in tadellosem Englisch, nachdem er die Eingangstür zum President Hotel aufgerissen hatte. Er lächelte.
      »Bangkok Post?« fragte Brandau.
      »Nation« sagte der Boy.
      »Feeling the pulse of Thailand «, gab der Deutsche zum besten. Aber der Bedienstete kannte den Werbeslogan der Tageszeitung nicht.
      Brandau stieg die wenigen Treppenstufen zur Lobby hoch und dachte mit Schrecken an den vorgestrigen Empfang. Man steht nicht ungestraft zwei Stunden lang an der Tür zum Cocktail-Room des President herum und begrüßt die ankommenden Gäste. Er hatte zehn Gin Tonic gebraucht, um einigermaßen beim Smalltalk über die Runden zu kommen. Der Rücken tat ihm immer noch weh.
      Er ging zum Zeitungsladen, kaufte die Nation Review und verzog sich in den Barraum. Der Innenarchitekt, der das Rattan arrangiert hatte, verdiente die Note Eins. Farben okay. Das Beste, was man in Bangkok in diesen Tagen an Hotelinnenleben finden konnte, die Autoren-Lounge des Oriental selbstverständlich ausgenommen.
      Die Bedienung kam, ging in die Knie und lächelte. Er hatte wieder das Bedürfnis, einen langen Einkaufszettel für den Supermarkt herunterzubeten, damit es etwas länger dauerte. Die Frauen sahen alle so gut aus. Es war unfaßbar. Brandau bestellte Kaffee und ein Stückchen »Black-Forrest-Cake«. Sie bestrafte ihn mit einem von diesen Sonnenaufgangslächeln. Die Sorte, die man im Rückenmark spürt.
      Auf Seite 15 der Nation grinste er sich stumpfsinnig entgegen. Es war peinlich. Man konnte direkt sehen, wie ihn das Blitzlicht in den Wahnsinn getrieben hatte. Eingekeilt zwischen dem dritten Mann aus dem Landwirtschaftsministerium und einem deutschen Experten für Tierproduktion hielt er seine Einmeterneunzig recht gerade. Vor dem Bauch ein leeres Glas mit Papierserviette. Kenner hätten ihn auf um die zehn Drinks geschätzt und damit goldrichtig gelegen. Der perfekte Werbeträger. Total überfordert. Man sah ihm die Bewußtlosigkeit förmlich an.
      Ein zweites Foto zeigt die Scheckübergabe. Der Startschuß zur Arbeit an dreißig Milchkühen und drei Gebäuden. Zum Glück war Brandau seitlich so getroffen, daß er auch jemand anderes hätte sein können.
      Er trank einen Schluck Kaffee, während der blauhaarige Morgenschein um ihn herum hantierte, als wolle sie ihn tagelang mit Schwarzwälderkirsch versorgen.
      Sein glattrasiertes Gesicht wirkte auf den Fotografien aufgedunsen. Die blonden Haare standen wie elektrisch geladen vom Kopf ab. Nur, daß er fett war, konnte wirklich niemand ernsthaft behaupten. Daran lag ihm. Er sah wieder sehr sehnig aus, sehr zäh. Ein Rest Sportlichkeit war unübersehbar.
      Auf Seite 22 hatte ein thailändischer Fachmann noch einen Artikel über Milchkühe beigesteuert. Er erklärte den Lesern vor allem den HF-Anteil. Holstein Friesian . Eine nordamerikanische Hochleistungsrasse, die aus dem in Nordwesteuropa verbreiteten schwarzbunten Niederungsvieh hervorgegangen ist. Der Autor hatte Bedenken gegen Milchkühe mit einem hohen HF-Anteil. Er war also mit anderen Worten der Meinung, daß Brandau einen Scheck für die falsche Sache gestiftet hatte und sich umsonst zwei Stunden lang dem Smalltalkterror ausgesetzt hatte.
      Brandaus Rücken schmerzte wieder. Der Autor war der Meinung, daß das Leistungspotential der Holstein Friesian mit der in Thailand üblichen Haltung und Fütterung gar nicht genutzt werden könne. Die Empfindlichkeit der HF gegenüber ungünstigen Umweltbedingungen schlage aber wiederum voll durch. Und das sei schließlich der Grund für einen absehbaren Fehlschlag. Der Autor wies zur Untermauerung seiner Behauptung noch auf die Tatsache hin, daß in früheren Jahren eine Vielzahl HF in einer Versuchsfarm in Muak Lek innerhalb kürzester Zeit eingegangen sei. Aus Neuseeland importiert. Und trotz zahlreicher Tierärzte und Tierzuchtspezialisten.
      Brandau nahm noch einen Schluck Kaffee und knabberte am Kuchen. Der Autor des Artikels war ein Schwarzseher. Mit dem nötigen Schuß Optimismus, den man bei Brandaus Job brauchte, würde man nicht arbeitslos werden. Es würde Milchkühe geben. Sogar Milch. Basta! Man würde sich etwas einfallen lassen. Wie immer.
      Für einen kurzen Augenblick hatte Brandau das dringende Bedürfnis, den Namen des Schreiberlings auf ein Stück Papier zu schreiben und mit den Füßen darauf herumzutrampeln oder es gar zu verbrennen. Die übelste ortsübliche Art, jemanden für null und nichtig zu erklären. Aber er beherrschte sich. Er hatte ein kleines Privatprojekt. Er wollte immer noch ein guter Buddhist werden. Und Buddhisten sind keine Missionare. Buddhisten dulden die Gedanken, Entscheidungen und Lebensweisen anderer. Und Toleranz soll zu Freundschaft führen und sowieso immer siegen. Was waren schon dreißig Milchkühe von gemischter Rasse gegen diese Herausforderung.
      Brandau legte die Nation beiseite. Ein dezentes Klingeln ließ ihn aufsehen. Ein Hotelboy trug eine Tafel mit kleinen Glocken vorbei. Er konnte seinen Namen lesen. Mr. Brandau. Er stand auf, gab sich zu erkennen, damit der Tafelträger seine Runde abbrechen konnte und ging in die Empfangshalle hinüber. Am Telefon war seine Sekretärin.
      »Du weißt mit tödlicher Sicherheit, wo du mich auftreiben kannst«, motzte er.
      »Wegen dir habe ich meinen Kaffee verschüttet.«
      »Und dich am Kuchen verschluckt. Was machst du schon, wenn du am frühen Nachmittag im Ministerium bist. Du läßt dein Büro die Arbeit erledigen und gibst dich dem süßen Leben hin. Hast du auch deine Badehose nicht vergessen?« Robin kicherte.
      »Was gibt es?«
      »Ein Telex aus Bonn. Nicht allzu wichtig. Ein Bundestagsabgeordneter. Für zwei Tage. Er will ein paar Projekte sehen.«
      »In zwei Tagen ein paar Projekte«, schmatzte Brandau geringschätzig. Immer dieselbe Leier. »Und wann will er die ganze Folklore absolvieren und den Schmuck für seine Ehefrau einkaufen?«
      »Dein Problem!« sagte die Königin der Schreibmaschine.
      »Was sonst noch?«
      »Die halbe Million ist auf unserem DM-Konto eingegangen. Du kannst dir also noch ein Stück Kuchen bestellen. Ich nehme an, daß du wegen dieser heißen Nachricht nicht extra noch im Büro vorbeikommst, um uns durch deine kurze Anwesenheit glücklich zu machen.« Sie raschelte mit dem Telex.
      »Wollte eigentlich von hier aus nach Hause. Keine Lust, mich durch den Feierabendverkehr quer durch die Stadt zu euch zu kämpfen.«
      »Ich schicke Samart mit dem Motorrad vorbei. Ist auch noch ein privater Brief für dich da. Er kann die Post beim Hausmädchen abgeben. Wir wollen doch nicht, daß du an einer Abgasvergiftung verendest.« Ihre Tonlage war jetzt sehr persönlich.
      »Das ist lieb. Ich weiß die Fürsorge zu schätzen. Wofür habe ich schließlich einen Büroboten?« Er schickte ein Kußgeräusch über die Leitung und legte auf.
      Nachdem er seine Schwarzwälderkirsch ordentlich aufgegessen hatte, zahlte Brandau der knieenden Madonna mit dem Superlächeln die Rechnung und ging zum Parkplatz vor dem Hotel.
      Der Volkswagen war aufgeheizt. Brandau war sofort naß, startete den Motor, ließ den Schweiß durchs Hemd sickern und schaltete die Klimaanlage auf Stufe drei. Der uniformierte Parkplatzwächter kam längsseits. Brandau kurbelte die Seitenscheibe runter und gab ihm den Parkschein und zehn Baht. Der Wächter reichte ihm die rosa Quittungen zu fünf Baht das Stück, grüßte lässig und Brandau kurbelte die Scheibe wieder zwischen sich und die überhitzte Außenwelt. Beim Anfahren merkte er, daß die fünf Zylinder etwas müde reagierten. Er drehte den Regler zur Klimaanlage auf Stufe eins zurück.
      Vorsichtig fädelte er sich mit dem Passat in den Verkehr auf der Phloenchit Road ein, kämpfte sich mit lauter Huperei auf die mittlere Spur und war in fünf Minuten an der Einfahrt zum Super Highway. Der Junge im Schalterhäuschen hatte wieder seine helle Freude daran, wie sie bei nur leicht verringerter Geschwindigkeit mit ausgestrecktem Armen eine Quittung und einen Zehn-Baht-Schein austauschten. Der Junge lachte Brandau begeistert an. Fliegender Wechsel bei der Autobahngebühr war ihre Spezialität, ihr Spaß. Sanuk!
      Der Wagen nahm die Geschwindigkeit auf. Die 116 PS zogen ihn die Auffahrt hoch, an den Betonpfeilern vorbei. Dann flog er im fünften Gang über die Stadtautobahn, hoch über den Dächern der Metropole. Die Sonne war auf dem absteigenden Ast und hing verschwommen im Dunst über dem Golf von Siam. Brandau konnte sie im Rückspiegel sehen.

 

3

Der Ventilator quirlte die feuchtheiße Hitze in der Kabine durch. Von draußen konnte man den gedämpften Lärm der sechstausend Zuschauer hören, die den Vorkämpfen im Lumpini Stadion folgten.
      Suwit Aroonkit saß auf der Liege. Einer der Betreuer massierte ihm die Schultermuskulatur. Neben ihm stand, gegen die Liege gelehnt, der Dolmetscher. Der kanadische Reporter auf dem wackeligen Hocker schwitzte. Er hatte etwas von einem Vertreter eines Magazins für schöneres Wohnen, der eine finnische Sauna testete. Er schrieb für ein Sportblatt. Die Boxseite. Der Notizblock auf seinem rechten Oberschenkel war verquollene Wellpappe. Der matte Glanz des Dupont-Drehbleistiftes, mit dem er nervös aufs Papier klopfte, nahm sich in der Kabine seltsam aus.
      Der Übersetzer räusperte sich, als wolle er signalisieren, daß die Zeit für dieses Interview begrenzt sei. Man wußte nicht, wer in den Vorkämpfen vorzeitig ausgezählt wurde.
      »Sie hatten sich nach Ihren großen Erfolgen im internationalen Stil bereits als Farmer zurückgezogen. Sie sind eine berühmte Persönlichkeit der Sportszene in diesem Land. Warum versuchen Sie ein Comeback?«
      Suwit hörte sich geduldig die Version des Übersetzers an und starrte auf seine Fußspitzen. Eine Weile schien es so, als wolle er gar nicht antworten. Dann suchten seine Augen die des Kanadiers.
      »Ich war Weltmeister im Fliegengewicht. Als ich anfing, euren Stil zu boxen, haben mich meine Freunde für verrückt erklärt. Aber ich hatte einen guten Lehrer. Kruh Chao Sukhnata. Damals in New York hat mir keiner eine Chance gegen diesen Mexikaner eingeräumt. Keiner hat an mich geglaubt. Keiner. Und diejenigen, die Hoffnung in mich gesetzt hatten, glaubten an einen glücklichen Punktsieg. Ich habe ihn in der dritten Runde k.o. geschlagen. Ich habe meinem König und meinem Land Ehre gemacht.«
      Suwit verstummte, und der Dolmetscher redete auf den Reporter ein.
      Bevor der Kanadier eine neue Frage stellen konnte, fuhr der Boxer fort: »Ich hatte noch einige gute Kämpfe, habe meinen Titel zweimal erfolgreich verteidigt. Ich bin damals ungeschlagen zurückgetreten, mit 24 Jahren. Von meinem Geld habe ich mir 22 Rai gutes Land gekauft. Ich hatte eine Frau und zwei Kinder. Einen Sohn und eine Tochter.«
      Für einen Moment lächelte Suwit.
      »Ich bin nicht zurechtgekommen. Meine Frau hat mich verlassen, mit den Kindern. Ich machte Schulden. Man bot mir an, in den Ring zurückzukehren. Und hier bin ich.« Er brach abrupt ab. Seine Augen fixierten den Reporter.
      Der Übersetzer vermittelte dem Zeitungsmann mit offensichtlicher Verlegenheit das Gesagte. Er wischte sich dabei mit einem großen Taschentuch über den Nacken und hustete zwischen den Sätzen.
      »Wieviele Aufbaukämpfe haben Sie vor Ihrem Comebackversuch bestritten? Ich hörte vier. Aber ich konnte nur zwei Zeitungsberichte finden.« Der Kanadier sank immer mehr auf dem Hocker in sich zusammen, floß weg. Seine Stirn stand voller Schweißperlen.
      Bevor der Dolmetscher ausgehustet hatte, antwortete Suwit direkt. Sein Englisch war fehlerhaft und schwer zu verstehen. Er hatte es sich auf den Kampftouren angeeignet, in Ringnähe, mit nordamerikanischen Betreuern und Sparingspartnern, mit den Huren des schnellen Geldes, mit schwarzen Kämpfern, die von sich selbst als Nigger geredet hatten und ihn als gelbes Schlitzauge beschimpft hatten. Er hatte viel gelernt und gesehen. Und er konnte mittlerweile einem Ausländer, einem Farang, seine Geschichte erzählen ohne sich schämen zu müssen, für die verlorenen Kämpfe, die verlorenen Frauen, das verlorene Geld. Wenn dieser Kanadier es hören wollte, dann konnte er auch wissen, daß er ein gutes Jahr an der Flasche gehangen hatte.
      »Ich habe zweimal in Japan geboxt. Beide Kämpfe habe ich nach Punkten gewonnen. Dann habe ich hier im Lumpini vor vier Monaten einen Schotten geboxt. Der Kampf wurde nach drei Runden abgebrochen. Der Schotte hatte eine Platzwunde an der Augenbraue. Der Ringarzt war Europäer.« Suwit lächelte leise.
      Der Übersetzer hustete beleidigt und verließ die Kabine.
      »Wie sind Sie zum Boxen gekommen? Ich meine damals, am Anfang.« Der Reporter witterte die Chance, die in diesem holprigen aber direkten Dialog lag und saß wieder kerzengerade auf seinem Hocker. An seiner Nasenspitze hing ein einzelner Schweißtropfen. Der Drehbleistift fiel zu Boden. Der Kanadier machte keine Anstalten ihn aufzuheben. Er legte den Schreibblock ebenfalls auf den Fußboden und konzentrierte sich aufs Zuhören.
      »Nicht weit von meinem Elternhaus war ein Trainingslager für Boxer. Es hieß Luk Wangderm und lag in der Nähe eines Tempels, des Wat Arun. Sie wissen, was das bedeutet?« Der Boxer sah den Reporter fragend an, als gehöre das zu den einfachsten touristischen Grundlagen.
      »Nein«, sagte der Farang kleinlaut.
      »Der Tempel der Morgendämmerung«, übersetzte Suwit geduldig. In seinen Augen lag ein seltsamer Glanz. Seine Sonne ging wieder auf.
      »Auf dem Gelände des Tempels haben viele junge Leute trainiert. Ich war sofort von diesem Sport begeistert. Aber es war nicht nur das. Ich hatte unsere Familie mit zu ernähren. Dann habe ich meinen Lehrer kennengelernt, Kruh Chao Sukhnata. Ich betrachte ihn als meinen Onkel.«
      Der Reporter nickte eifrig. Er wußte, was das bedeutet. Er wischte sich über die Stirn und hielt den Mund.
      »Er hat mir einen Manager besorgt und mich aufgebaut. Er hat mich großgemacht. Mit fünfzehn Jahren habe ich meinen ersten Kampf im internationalen Stil absolviert. Im Naval Welfare Stadium. Ein k.o.-Sieg. Damals habe ich 50 Baht für einen Sieg bekommen.« Suwit lächelte wieder.
      »Ungefähr zwei Dollar«, murmelte der Kanadier.
      »Heute«, warf Suwit ein, »damals war es weniger.«
      »Was ist aus Ihrem Lehrer geworden?« fragte der Reporter. »Ist er heute abend dabei?« Er sah sich in der Kabine um, als suche er ihn.
      »Nein«, antwortete der Boxer düster. Er sackte unmerklich in sich zusammen. Die ganze Zeit über hatte er seine Haltung nicht verändert, auch nicht, nachdem sich der Masseur zurückgezogen hatte. Nur seine Augen hatten sich bewegt. Jetzt wurde er etwas kleiner, nur wenige Millimeter, sein Rücken wurde runder.
      »Er hat die Zusammenarbeit mit mir eingestellt.« Nachdem ich mit dem Alkohol angefangen hatte, dachte er. Aber er sagte es dann doch nicht. Er hatte jetzt genug geredet. Er sprang von der Liege und blieb davor stehen.
      Der Reporter verstand und kam vom Hocker hoch, bückte sich nach seinem Schreibzeug. »Noch eine Frage?«
      Suwit nickte kurz und sah mahnend zu dem kleinen Altar in der Kabinenecke. Es war Zeit an den Kampf zu denken. Draußen am Ring brüllte die Menschenmenge auf. Gleichzeitig ertönte der Gong.
      »Was halten Sie von Ihrem Gegner?«
      »Nibhon ist die Nummer eins im Thaistil. Es ist heute sein erster Kampf im internationalen Stil. Beim Muay Thai macht er die meisten Punkte mit Fuß- und Knietreffern. Seine Faustarbeit ist mittelmäßig. Heute wird er seine Beine zum Tanzen brauchen. Wenn er das kann. Ein starker Mann. Wir werden sehen.« Der Boxer schloß den Mund und sah durch den Reporter hindurch.
      »Danke und viel Glück.«
      Der Thai reagierte nicht.
      Der Kanadier verließ den Raum.

 

© Pendragon Verlag, 2003
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