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Jonathan Kellerman: Das Buch der Toten

Eine Leseprobe mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Random House.

 

Das Buch der Toten An dem Tag, als ich die Mordakte bekam, war ich in Gedanken immer noch in Paris. Rotwein, kahle Bäume, die Stadt der Liebe. Alles, was dort passiert war. Und jetzt das.
      Robin und ich waren an einem trüben Montag im Januar auf dem Flughafen Charles de Gaulle gelandet. Die Reise war meine Idee gewesen, und in einer Nacht manischer Aktivität hatte ich alles klargemacht, hatte bei Air France den Flug gebucht und Zimmer in einem kleinen Hotel am Rande des 8. Arrondissements reserviert, hatte einen Koffer für zwei gepackt und war die hundertfünfundzwanzig Meilen über den Freeway bis San Diego gerast. Kurz vor Mitternacht war ich in Robins Zimmer im Del Coronado aufgekreuzt, ein Dutzend korallenfarbene Rosen in der Hand und ein Voilà!-Grinsen im Gesicht.
      Sie stand in der Tür mit einem weißen T-Shirt und einem Wickelrock, das kastanienbraune Lockenhaar offen, die schokoladenbraunen Augen müde, kein Make-up im Gesicht. Wir umarmten uns, dann trat sie einen Schritt zurück und blickte auf den Koffer hinab. Als ich ihr die Tickets zeigte, drehte sie mir den Rücken zu, damit ich ihre Tränen nicht sehen konnte. Vor ihrem Fenster wogte der nachtschwarze Ozean, aber dies war kein Strandurlaub. Sie war aus L.A. geflohen, weil ich sie angelogen und mich selbst in Gefahr gebracht hatte. Als ich sie jetzt weinen hörte, fragte ich mich, ob der Schaden wohl irreparabel war.
      Ich fragte sie, was ihr fehle. Als ob ich gar nichts damit zu tun hätte.
      Sie sagte: »Ich bin einfach nur... überrascht.«
      Wir bestellten beim Zimmerservice Sandwiches, sie zog die Vorhänge zu, wir gingen ins Bett.
      »Paris«, sagte sie, während sie in einen Bademantel vom Hotel schlüpfte. »Ich kann nicht glauben, dass du das alles gemacht hast.« Sie setzte sich hin, bürstete ihre Haare aus und stand wieder auf. Trat auf das Bett zu, blickte auf mich herunter, berührte mich. Sie ließ den Bademantel zu Boden gleiten, setzte sich rittlings auf mich, schloss die Augen, senkte eine Brust zu meinem Mund herab. Nachdem sie zum zweiten Mal gekommen war, rollte sie zur Seite und verstummte.
      Ich spielte mit ihren Haaren, und als sie schlief, zogen sich ihre Mundwinkel in die Höhe - ein Mona-Lisa-Lächeln. In zwei Tagen würden wir mit all den anderen Touristen wie Roboter in der Schlange stehen, in der Hoffnung, endlich einmal einen Blick auf das Original zu erhaschen.
      Sie war nach San Diego geflüchtet, weil eine alte Freundin von der Highschool dort lebte - eine Kieferchirurgin namens Debra Dyer, die bereits drei Ehen hinter sich hatte und deren jüngste Eroberung ein Banker aus Mexico City war (»So viele strahlend weiße Zähne, Alex!«). Francisco hatte vorgeschlagen, für einen Tag zur Schnäppchenjagd nach Tijuana zu fahren, gefolgt von einem unbegrenzten Aufenthalt in einem gemieteten Strandhaus in Cabo San Lucas. Robin, die sich wie das fünfte Rad am Wagen vorgekommen war, hatte dankend abgelehnt und mich angerufen, um zu fragen, ob ich nachkommen wolle.
      Sie war unsicher gewesen, hatte sich entschuldigt, weil sie mich hatte sitzen lassen. Ich sah die Sache ganz anders. In meinen Augen war sie die Geschädigte.
      Ich hatte mich durch schlechte Planung in eine schlimme Situation manövriert. Blut war geflossen, es hatte ein Todesopfer gegeben. Es war nicht allzu schwer, dem Ganzen eine rationale Erklärung zu geben: Das Leben Unschuldiger war in Gefahr gewesen; das Gute hatte gesiegt, und ich war schließlich ungeschoren davongekommen. Doch nachdem Robin mit ihrem Truck davongebraust war, hatte ich mich der Wahrheit gestellt: Meine Missgeschicke hatten wenig mit edlen Absichten zu tun, dafür umso mehr mit einem Charakterfehler.
      Vor langer Zeit hatte ich mich für die klinische Psychologie entschieden, die sitzende Tätigkeit par excellence, weil ich mir eingeredet hatte, dass ich den Rest meines Lebens mit dem Heilen seelischer Wunden verbringen wollte. Aber meine letzte Langzeittherapie lag nun bereits Jahre zurück. Und nicht etwa, wie ich mir früher eingebildet hatte, weil das ganze menschliche Elend mich ausgelaugt hätte. Nein, damit hatte ich keine Probleme. In meinem anderen Leben bekam ich massenweise menschliches Elend in den Rachen gestopft.
      Die eiskalte Wahrheit war: Früher einmal hatte ich mich von der menschlichen Dimension und den Herausforderungen der »Redekur« tatsächlich angezogen gefühlt; aber Tag für Tag in meinem Sprechzimmer zu sitzen, meine Arbeitszeit in Portionen zu je fünfundvierzig Minuten einzuteilen und mir anderer Leute Probleme zu Gemüte zu führen, hatte mich mit der Zeit schlichtweg gelangweilt.
      Es war überhaupt merkwürdig, dass ich mich für den Beruf des Therapeuten entschieden hatte. Ich war ein wildes Kind gewesen - hatte schlecht geschlafen, war ruhelos und hyperaktiv gewesen, mit hoher Schmerzschwelle und einer Neigung zu riskanten Aktivitäten mit der Gefahr von Verletzungen. Dann hatte ich die Bücher für mich entdeckt und war ein wenig zur Ruhe gekommen, doch das Klassenzimmer hatte ich als Gefängnis empfunden, weshalb ich die Schule im Eiltempo absolviert hatte, um ihren Mauern zu entkommen. Mit sechzehn hatte ich den Highschool-Abschluss gemacht und mir mit dem Geld, das ich in den Sommerferien verdient hatte, ein altes Auto gekauft. Ich hatte die Tränen meiner Mutter und die finsteren und misstrauischen Blicke meines Vaters ignoriert und hatte die Ebenen von Missouri hinter mir gelassen. Vorgeblich, um ein Studium zu beginnen, in Wirklichkeit aber, um mich in die Gefahren und Verlockungen von Kalifornien zu stürzen.
      Hatte mich gehäutet wie eine Schlange. Auf der Suche nach etwas Neuem.
      Das Neue, Unbekannte war schon immer meine Droge gewesen. Ich verzehrte mich nach schlaflosen Nächten und Gefahren, unterbrochen von langen Phasen der Einsamkeit; nach kniffligen Problemen, die mir Kopfschmerzen bereiteten, nach regelmäßigen Dosen schlechter Gesellschaft und den ebenso abstoßenden wie unwiderstehlichen Begegnungen mit dem Gewürm, das sich in den dunklen Winkeln der Seele schlängelte. Ein rasendes Herz machte mich glücklich. Wenn mich ein kräftiger Adrenalinstoß durchrüttelte, hatte ich das Gefühl, am Leben zu sein.
      Und wenn das Leben zu lange im Schneckentempo dahinkroch, fühlte ich mich leer und unausgefüllt.
      Unter anderen Voraussetzungen hätte ich das Problem vielleicht gelöst, indem ich aus Flugzeugen abgesprungen wäre oder nackte Felsen erklommen hätte. Oder noch Schlimmeres.
      Vor Jahren war ich einem Detective der Mordkommission begegnet, und danach war nichts mehr so gewesen wie zuvor.
      Robin hatte sich das lange gefallen lassen. Aber jetzt hatte sie die Nase voll, und ich würde irgendeine Entscheidung treffen müssen - früher oder später, aber besser früher.
      Sie liebte mich. Das wusste ich.
      Vielleicht hatte sie es mir deshalb so leicht gemacht.

 

Aus dem Amerikanischen von Andreas Jäger.
© Verlagsgruppe Random House
Alle Rechte vorbehalten!

 

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