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Cream of Crime 3/1993

Joseph Wambaugh: Flucht in die Nacht

 

Mit dem Roman "The Secrets of Harry Bright", dem sein dämlicher deutscher Titel "Der Rolls-Royce-Tote" hierzulande keine Chance gelassen hatte, hat Joseph Wambaugh der Kriminalliteratur 1985 zum zweiten Mal eine entscheidende Wendung gegeben. Zum ersten Mal hatte er bekanntlich seit 1972 mit der virtuosen Kombination von erbarmungsloser Authenzität des Erzählten und dem hochartifiziellen Aufbrechen von Erzähltraditionen und -formen in seinen Cop-Novels die Kriminalliteratur in eine Identitätskrise geschrieben. Der Schlichtkrimi war endgültig erledigt, Wambaughs dissonanten Fraktale aus der Monsterstadt L.A. waren zum Paradigma für die Möglichkeit des literarischen Umgangs mit den Molochmetropolen geworden, und Tom Wolfe erklärte ihn zu einem der bedeutendsten Gegenwartsautoren. Das Genre insgesamt mußte sich einen höheren ästhetischen Standard anbequemen, oder es mußte auf dumpfe Formeln ausweichen, um sich wenigstens kommerziell noch behaupten zu können.

Während jedoch Wambaugh in seinen Romanen über den Irrsinn auf den Straßen von Los Angeles nicht umhin kam, Gewalt und Brutalität als normalen Teil des Alltags zu thematisieren, wurde "Gewalt" zu dem großen Paradigma des Thrillers der 80er Jahre, ästhetisiert und stilisiert als Komponente von "Sex & Violence", konkretisiert in der Figur des Serial-Killers. Wambaugh hatte Tabus gebrochen, indem er die Darstellung von Gewalt und Tod komisch ambivalentisierte. Dadurch entstanden leider Freiräume für affirmative Gewaltorgien, die etwa in Bret Easton Ellis' American Psycho ihren unappetitlichen Höhepunkt fanden, und seitdem einen Überbietungszwang ausgelöst haben, der mittlerweile auch in den unerheblichsten deutschen Werklein als "Realismus"-unterstellung fatal funktionalisiert ist.

Wambaugh schreibt seit 1985 (s.o.) gegen diesen Trend an, hat damit wieder Schule gemacht (die der Deeskalierung von Gewalt-Darstellung) und einen neuen Qualitätssprung der Crime Fiction ausgelöst. "Flucht in die Nacht" ist sein dritter (Ex-)Cop-Roman, der (fast) ohne physische Gewalt auskommt. Dafür handelt er von sozialer, oder neudeutsch von struktureller Gewalt. Auf mehreren Ebenen: Gewalt, der der ganz normale Alltag Frauen aussetzt, Gewalt zwischen den Geschlechtern (und davon, warum es für Individuen vielleicht Hoffnung geben kann), Gewalt, der der Job Polizisten antut, wenn sie Gewalt ausüben müßen.

"Flucht in die Nacht" thematisiert auch die strukturell gewalttätige Beziehung des reichen Kaliforniens zum armen Mexiko und deren vertrackte Dialektik. Der Titelheld, The Fugitive, der Flüchtige, ist ein mexikanischer Polizist, der sehr spezifisch auf den Nord-Süd-Konflikt reagiert. Wambaughs Reflexion dieser Dimensionen von Gewalt vermeidet jeden billigen Sensationseffekt. Tiefstapelnde Komik ist das vorrangige Darstellungsmittel. Allerdings tritt zu der immer grandiosen Situationskomik (der Besuch von Georg Bush und dem japanischen Ministerpräsidenten in Palm Springs ist ein beiläufig eingeflochtenes Meisterstück an Polit-Satire), mehr und mehr elaborierte Sprachkomik, ein Feuerwerk von wahnwitzigen Metaphern und raffinierten Anspielungen. Nur über die komischen Dialoge gelingt es zum Beispiel den beiden Helden, den Ex-Cops Cutter und Breda Burrows gegen ihre Rollenfestlegungen vielleicht ein Liebespaar zu werden. Denn wie schon "The Golden Orange" (1990; dt: "Ein kalifornischer Traum") ist auch "Flucht in die Nacht" ein Liebesroman. Das ist Wambaughs utopischer Punkt: Inmitten all der Verheerungen, die die moderne Zivilisation angerichtet hat, gibt es gerade für ihre kaputtesten Glieder, die Cops, ein trotziges Dennoch mit Aussicht auf Glück.

© Thomas Wörtche

 

Joseph Wambaugh:
Flucht in die Nacht.
(Fugitive Nights, 1992).
Roman.
Dt. von Dietlind Kaiser.
München: Goldmann Verlag 1995;
(München: C. Bertelsmann 1993)
382 Seiten, 12.90 DM

Flucht in die Nacht

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