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Cream of Crime 5/1993

Thomas Adcock: Hell's Kitchen

 

Wenn Literatur etwas taugen soll, hat sie erstens autonom und zweitens ästhetisch strukturiert zu sein. Beides widerspricht nicht der legitimen Funktion, auch Fremderfahrung zu vermitteln, ungewöhnliche Ausschnitte der Wirklichkeit darzustellen, verrottete Zustände zu attackieren. Literatur kann und soll mit poetischen Mitteln mehr und anderes zeigen, als eine Sozialreportage zu erklären vermag. Die intellektuelle und künstlerische Inferiorität des gesamtdeutschen Sozio-Krimis und seine ideologische Blindheit haben eine solche Möglichkeit von Literatur hierzulande nachhaltig diskreditiert, weil das unvermittelte Aufschreiben von schlichten Thesen keinen ästhetischen Wert hat und somit zurecht nicht als Literatur oder überhaupt wahrgenommen werden muß.

Hohes artistisches Niveau plus erstaunliche Nachrichten aus einer fremden Welt plus wütend-aufklärerischer Furor machen den Erstling des in New York lebenden Erzählers Thomas Adcock, "Hell's Kitchen", zu einem großen Roman voller düsterer Wunder.

Hell's Kitchen ist ein Viertel auf der West Side von Manhattan (offiziell heißt es heute Clinton), nach dem die großem Immobilienhaie vom obszönen Zuschnitt eines Donald Trump gieren. Das Leben in Hell's Kitchen ist, und war schon immer, wie der Name sagt, nicht gerade idyllisch, aber noch hoffnungsloser ist es für die abertausend Obdachlosen, die die Reagonomics vermehrt und gnadenlos produziert haben. Sie fristen ihr Dasein noch am Rande von Hell's Kitchen, in einer Schlucht zehn Meter unter der Stadt, in einem von Straßen und Eisenbahngleisen überzogenen, von gespenstischer Vegetation überwucherten Canyon, der "der Dschungel" genannt wird. Über dieses Soziotop erzählen Thomas Adcock und seine Hauptfigur, der Detective Neil Hockaday, der in Hell's Kitchen aufgewachsen und jetzt wieder dorthin zurückgekehrt ist - als Beamter der Street Crimes Unit - Manhattan, der SCUM-Patrol (scum = Abschaum). Hockaday hat ein sozio-topo-historisches Gedächtnis von Manhattan, das die Geschichte seiner Menschen am Alltagsleben konkret macht. An den Kneipen, Nachtbars, Straßenecken, kleinen Geschäften und an der Kriminalität, die ein organischer Teil der Historie und der Gegenwart (und gewiß der Zukunft) von New York ist.

Das ist die vertikale Dimension, die Adcock mit dem akribischen, minutiösen Blick des Fußgängers schildert. Die horizontalen Stränge seines dichtmaschigen Erzählens spannen sich nach allen Richtungen: nach Harlem etwa, in die Stadtpolitik, in die Nationalökonomie und in das schäbige Geschäft mit der Religion. Alles hat mit allem zu tun, die Gegenwart ist ohne Geschichte nicht zu verstehen. Um zu kapieren, warum in Harlem gemordet wird, muß man wissen, was etliche Meilen weiter südlich unter der Stadt vor sich geht, und was es mit den irischen Gangs der 30er und 70er Jahre auf sich hatte, was wiederum Konsequenzen für die 34. Etage eines Protztowers auf der Third Avenue hat. Alles ist komplex, nichts bedeutungslos. Und deshalb sind auch die Obdachlosen keine Statisterie, sondern Individuen, denen Adcock Stimmen, Gesichter und Geschichten gibt. Wenn man sich für sie interessiert, bekommen auch sie Einfluß und Macht. Das ist nur eine der sehr ernstzunehmenden politischen Implikationen des Romans, der deswegen auch exemplarisch (zum Beispiel für Berlin) ist, weil er so detailgenau mit New York verfährt. Seine Poesie indes entwickelt "Hell's Kitchen" nicht aus den genreüblich mythisierenden Verfremdungen, sondern aus den visionären Möglichkeiten des Konkreten.

Ein Glücksfall ist die Übersetzung von Jürgen Bürger, der auch einen sinnvollen Anmerkungsteil beigesteuert hat.

© Thomas Wörtche

 

Thomas Adcock:
Hell's Kitchen
(Sea of Green, 1989). Roman.
Deutsch von Jürgen Bürger.
München: Piper Verlag 1998
(Zürich: Haffmans Verlag, 1993)
381 Seiten, DM 16.90

 

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