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Argentinien ist überall

Thomas Wörtche

 

Kriminalliteratur ist ein Genre mit einem hohen Trägheitsmoment. Das liegt daran, dass man sie lange als "Form" mißverstanden hat, die sich in immer ausdifferenzierteren Abweichungen konkretisiert. Für diese Sichtweise spielte eine nicht unbeträchtliche Rolle, dass erlauchte Geister wie Jorge Luis Borges und Adolofo Bioy Casares unter dem Pseudonym Bustos Domecq 1942 mit den »Sechs Aufgaben für Don Isidro Parodi« eine zwar ironische, aber dennoch form-konservative Variation dessen vorgelegt haben, was man gerne als Kriminalliteratur versteht: Kniffelige Denkaufgaben in bizarrem Setting - hier sitzt der Detektiv im Gefängnis und muss seine Aufgaben durch pure Reflexion leisten. Die Dominanz dieser Texte - ein Folgeband und der unter dem Namen B. Suárez Lynch 1946 erschienene Roman »Mord nach Modell« (alles bei Hanser/Fischer) verstärkten die Tendenz - ließen die Frage nach den Ursprüngen der argentinischen Kriminalliteratur von Luis Varela aka Raúl Waleis bis Eduardo Gutiérrez, von Paul Groussac bis Horacio Quirroga verblassen. Letzterer war übrigens Urugayer, aber die werden gerne flugs Argentinien einverleibt, so wie Daniel Chavarría, den ich neulich auch unter einer Aufzählung argentinischer Kriminalautoren gefunden habe.

Tatsächlich aber dauerte es bis Mitte der 1950er Jahre, bis ein erst journalistisches, dann auch literarisches Schwergewicht wie Rodolfo Walsh einerseits Borges/Cacares den ästhetischen Respekt nicht verweigerte, andererseits anfing, die Form "Krimi" mit realistischen Inhalten zu besetzen. Dabei weichte er den formalen Panzer peu à peu auf und machte damit für Argentinien und Lateinamerika insgesamt Kriminalliteratur als free style-Option sichtbar, als die sie sich seit Hammett & Co. und seit der französichen Burlesque-Tradition (Fântomas und die Folgen) anderswo auf der Welt schon durchgesetzt hatte. Man kann jetzt glücklicherweise diesen Prozess in dem Band Die Augen des Verräters (Rotpunktverlag) nachverfolgen, in dem zehn Texte plus eine kleine literaturstrategische Absicherung der Kriminalliteratur von Rodolfo Walsh versammelt sind.

Walsh wurde 1977 von den Militärs ermordet, aber seine kritische Methode, anhand von Gewalt und Kriminalität die Geschichte seiner Gesellschaft zu schreiben - am eindrücklichsten in Das Massaker von San Martín, auch dieser Text neu übersetzt und von Erich Hackl kenntnisreich kommentiert bei Rotpunkt - machte Schule bei Autoren wie Miguel Bonasso oder Juan Sasturaín, von denen allerdings wenig auf deutsch übersetzt wurde. Von Walsh finden sich weitere Prosa-Perlen unterschiedlichster Genre-Zughörigkeit in dem Sammelband »Ein schwarzer Tag für die Gerechtigkeit« (Stockmann Verlag), der in diesen Tagen erscheint und hiermit nachdrücklich empfohlen sei.

Die generelle Zweigleisigkeit der argentinischen Kriminalliteratur aber lässt sich bis heute deutlich sehen: Auf der einen Seite die durchaus den Borges-Parametern verpflichteten Guillermo Martínez (Eichborn) oder Pablo de Santis (Unionsverlag metro) oder die offen die gesellschaftskritische Linie fortschreibenden Autoren wie Raúl Argemí. Dazwischen die Autoren und Autorinnen, bei den beide Traditionen sich echo-mäßig bedingen: Juan José Saer etwa oder Ricardo Piglia (beide bei Wagenbach), die sich auf Borges berufen, aber realitätstüchtige Themen bearbeiten. Natürlich hängt das Trauma der Militärdiktatur verständlicherweise schwer dräuend über der Literatur, die sich per definition mit Gewalt und Verbrechen beschäftigt - aber zwischen Meisterwerken über den Zusammenhang von Staatsterror und Organisiertem Verbrechen wie Und der Engel spielt dein Lied von Argemí (Unionsverlag metro) und dem ungeheuerlichen Solitär von Juan Damonte, Ciao Papa (Lateinamerikaverlag) und eher unentschiedenen Büchern wie Guillermo Orsis Im Morgengrauen (dtv) oder Marcelo Figueras Der Spion der Zeit (Nagel & Kimche), die zwischen der Schnoddrigkeit angelsächsischer hard-boiled-Vorlagen und dem Gewicht des Themas keine eigene künstlerische Lösung finden, liegen Welten. Bücher übrigens, die, wenn nicht anläßlich der Argentinien-Buchmesse so ziemlich alles übersetzt würde, was nicht immer sehr informierten Programmachern in die Hände fällt, auch gar nicht so relevant sind. Deswegen sticht auch eine Autorin wie Claudia Piñeiro - neben ihren literarischen Qualitäten - mit ihren maliziösen Romanen aus dem Argentinien des Hier und Heute so heraus. Liest man Die Donnerstagswitwen (Unionsverlag metro), ein böses Stück über den Niedergang des Mittelstandes, liest man ein Buch über die globalen Folgen des Neoliberalismus. Auch bei uns. Dann ist Argentinien überall.

 

© Thomas Wörtche, 2010
(LiteraturNachrichten Nr.106,
Herbst 2010

 

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