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Die Verweigerung von Eindeutigkeit

Obwohl der argentinische Illustrator Alberto Breccia mittlerweile (posthum) auch hierzulande hoch gehandelt wird,
hat man über seinen Beitrag zur Ästhetik des 20. Jahrhunderts selten nachgedacht.
Von Thomas Wörtche

 

"¿ Qué es eso?... Humo" (1) , mit diesen vier Worten kommt ein Comic-Strip von acht Seiten aus.
      Er erzählt die Geschichte der Kolonisation Lateinamerikas. "Humo" - "Rauch" heißt das knappe Stück, gezeichnet von Alberto Breccias Sohn Enrique, konzipiert von Juan Sasturaín. Natürlich "erzählt" Humo nicht im Sinne epischer Breite, sondern verdichtet die Spirale von Gewalt, die Lateinamerika bis heute nicht zur Ruhe kommen läßt, zu wenigen Bildern mit wenig Text. Die Besatzung eines britischen Kriegsschiffs metzelt die indianische Bevölkerung nieder, eine britische Tabakplantage wird errichtet, die Indianer werden als Sklaven gehalten. Ein Sklavenaufstand bricht aus, die Briten werden niedergemetzelt. Das nächste Kriegsschiff nähert sich. Ad infinitum - muß man schon nicht mehr hinzufügen.

Die Bildfolge von "Humo" schafft das narrative Gerüst, der karge Text liefert den lakonischen Kommentar, und der ganze Kontext ("Die Geschichte" Lateinamerikas") erlaubt, in "Humo" nicht eine beliebige Abenteuerepisode unter endlichen vielen möglichen anderen zu sehen. Verknappung, Konzentration und die prächtig-bunten Bilder Breccias, die ikonographische Traditionen zitieren, nur andeuten, statt ausführen (also alles contra-epische Verfahren), macht den kurzen Strip universell gültig. Die Erzählung einer kleinen Episode impliziert, sehr pointiert gesagt, eine weltgeschichtliche Dimension. Deswegen ist der Strip dennoch lange nicht symbolisch, allegorisch oder sonst dergleichen, weil die kleine Geschichte auch als kleine Geschichte trägt.

Der Comic oder die "Graphic Novel" (je nach Länge) scheint also eine künstlerische Erzählform zu sein, die wegen der Kombinationsmöglichkeiten von Bild und Text andere Potentiale von "Erzählen" eröffnet als erzählende Prosa oder Film. Die ästhetischen Qualitäten der Bilder-Kunst von Tardi, de Loustal, Bilal und anderen sind mittlerweile auch in Deutschland gesehen und gewürdigt worden - weniger darüber nachgedacht hat man jedoch, was die Graphic Novel als eigenständiges erzählendes Medium ausrichten kann - im Gefüge der Künste als Gattung mit kommunikativer Breitenwirkung zum einen, als Möglichkeit einer nicht nur "intertextuellen", sondern "intermedialen" Kunst zum anderen.

Was ich mit diesen etwas abstrakten Kategorisierungen meine, läßt sich an einigen Werk von Alberto Breccia demonstrieren, dessen Bedeutung für die Kunstentwicklung des ausgehenden Jahrhunderts nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Die Rezeptionsblockaden, die Breccia erst in den letzten Jahren hierzulande überhaupt haben sichtbar werden lassen, sind hinreichend bekannt und müssen nicht mehr beklagt werden: Die Arroganz einem Medium gegenüber, das auch wegen der sektiererische Mentalität seiner Liebhaber lange keine Chance auf intelligente Infrastrukturen in der Öffentlichkeit hatte; die eurozentrische Anmaßung, die Kunstformen aus fernen Ländern nur als exotische Folklore begreifen kann (Duke Ellington als Entertainer, südamerikanische Musik als Modetanz oder "Weltmusik", südamerikanische Literatur nur, wenn sie über die europäischen und eurozentrierten Metropolen Paris und Madrid nobilitiert ist); die Skepsis gegenüber allem, was seine Urspünge in populären Formen hat (und genauso kontraproduktiv: die besinnungslose Umarmung von allem, was "Popular Culture" zu sein behauptet, unter Hintansetzung jeglicher Qulaitätskriterien) - der Katalog ist allzu bekannt und allmählich subdiskutabel. Und obwohl Alberto Breccia mittlerweile (posthum) ein Name ist, der auch hierzulande hoch gehandelt wird, hat man über seinen Beitrag zur Ästhetik des 20. Jahrhunderts selten nachgedacht.

In "Mort Cinder" (2), der Aneinanderreihung von kurzen Erzählungen über einen Untoten, die Breccia 1962 zusammen mit dem Szenaristen Héctor Oesterheld zu einem frühen Meilenstein der Comic-Kunst gestaltet hat, unternehmen die beiden Verfasser es gleich in der ersten Episode "Ezra Winston, Antiquar" eine weder graphisch umsetzbare, noch mit Text materialisierbare Sensation zu thematisieren: Duft. "Der Duft war immer noch da" lautet der Text unter einem Bild, das nichts anderes zeigt als Tuscheflecken. Bild und Text und Erzähltes treten bis zur Beziehungslosigkeit auseinander, und wenn es zwei Bilder weiter heißt: "Ich stürzte, eine Fensterscheibe zerbrach..." zerbricht sichtbar keine Fensterscheibe, aber der Kopf des Erzählers Winston wird unendlich oft reproduziert, mehr als ein Dutzend Winstons mit unterschiedlichem Mienenspiel blicken den Betrachter an - das Thema von "Mort Cinder", die diversen Identitäten des Untoten werden auf den fiktiven Erzähler projeziert, ohne daß dies mit dem geringsten expliziten Hinweis so gesagt würde: Der Text erzählt etwas anderes, als das Bild zeigt und das Bild bedeutet etwas anderes, als es zeigt. Und dennoch fügt es sich in die Chronologie des Erzählten (wie Ezra Winston allmählich auf Mort Cinder stößt) ein.

Noch ein Beispiel aus der zweiten Episode "Bleiaugen". Mittlerweile haben sich Ezra und Mort Cinder kennengelernt und sind auf der Flucht vor den "Bleiaugen". Sie geraten in ein Kellergewölbe, die Verfolger sind ihnen auf der Spur. Das alles ist in der Logik der Erzählung ganz logisch, auch wenn Mort Cinder gerade einem Sarg entstiegen ist, die Bleiaugen Hirnamputierte sind und ein "Mad Scientist" sich an Ezras Gehirn zu schaffen machen will. Doch mit dieser Logik des Phantastischen begnügen sich Breccia und Oesterheld nicht: Drei Totenschädel sind auf einem Bild abgebildet, nebst drei Sprechblasen vor schwarzem Hintergrund. Die Comic-Konvention der Sprechblase nun stiftet Verwirrung: Wer sagt die Worte: "Sie sind dort am Gitter... Sie stehen starr... Es gibt keinen Ausweg"? Die aus der Schwärze des Bildhintergrunds näherkommenden Verfolger? Oder die Totenschädel? Text und Bild dementieren sich gegenseitig, und zwar dergestalt, daß es keine eindeutige Auflösung dieses Dementis gibt. Im nächsten Bild sehen wir einen Schädel, der sowohl einer der drei Totenschädel sein kann wie auch eine karikierende Darstellung des Mad Scientist, der spricht: "Lebend! Ich will Mort Cinder lebend!" Der unter das Bild gesetzte Erzähltext kompliziert die Angelegenheit noch: "Das Geschrei ging weiter... So als redeten alle Totenschädel durcheinander... Irgendwo in einem benachbarten Gang." Die Bilder haben uns nur Totenschädel gezeigt, von denen wir nicht wissen, ob sie tatsächlich reden, aber nie einen benachbarten Gang, wo es womöglich noch andere gibt. Text und Bild dementieren sich nicht nur, sie stiften eine nicht aufzulösende Unschlüssigkeit, die kategorial weitergeht als die 'normale' phantastische Unschlüssigkeit ("Kann die Erzählung von Nicht-Existentem wahr sein?"). Eine Unschlüssigkeit, die so spezifisch nur mittels der Bild-Textkombination des Comics herstellbar ist, und dennoch eine Unschlüssigkeit, die ihre narrative Funktion, nämlich eine Atmosphäre der allumfassenden Bedrohung zu schaffen und die Protagonisten als ihr ausgeliefert zu zeigen, perfekt erfüllt.

Diese Detailbeispiele sollen genügen, um auf der Ebene des Bild-Textverhältnisses die narrativen Optionen von Breccia und Oesterheld anzudeuten, die aus einer einfachen phantastischen Story ein komplexes Gebilde von unauflösbaren Polyvalenzen machen. Ein Verfahren, das auf der Detailebene nur funktioniert, weil "Mort Cinder", wie alle anderen Werke Breccias auch, seinen Reichtum an Ambiguitäten, Brechungen und Mehrfachcodierungen vor allem der Kunst der Konzeption verdankt. "Mort Cinder" konnotiert und assoziiert Kontexte in rauhen Mengen: Mort Cinder sieht auf manchen Bildern deutlich und gewollt aus wie Boris Karloff in "The Mummy" etwa, einem Film des deutschen Kameramannes Karl Freund, der u.a. mit seinen Arbeiten für Murnau berühmt ist, wobei Breccia auffällig im unmittelbaren Umfeld solcher Stellen ungewöhnliche "Einstellungen" wählt, die nicht "passen", Achssprünge also; z. B. ist die Perspektive eines Bildes plötzlich die von Mort Cinder aus dem Sarg auf Ezra Winston, bevor Cinder als "Erzählinstanz" überhaupt eingeführt ist, und wieder dementiert der dazugehörige Text das Bild, denn er berichtet deutlich aus Winstons point-of-view.

Oder: Ezra Winston ist hin und wieder so gezeichnet, wie Breccia später Jorge Luis Borges zeichnen wird. Auch das kein Zufall, denn die ganze Konzeption der labyrinthischen Verschlingungen von Raum, Zeit und Universen ist deutlich borgesk, während "Mort Cinder" gleichzeitig die literarischen Welten von Poe, Lovecraft, Blackwood, Machen etc. ebenso gewollt und deutlich konnotiert, die wiederum von Borges später nebst anderen zur "Bibliothek von Babel" zusammengefaßt wurden.

Genauso souverän verlassen Breccia und Oesterheld die Milieus von Gothics und Neo-Gothics und lagern in diesen Zusammenhang Typen des Comics ein, die comic-historisch aus weniger elaborierten Genres stammen: die Kriegsgeschichte etwa (die Episode "Charlies Mutter"), der Gangster-Strip ("Das Zuchthaus von Blue Dove") oder der historische Abenteuer-Comic ("Die Schlacht bei den Thermopylen") - sie lassen diese Formen als solche unbeschädigt stehen. Was auch heißt: sie disqualifizieren und denunzieren sie nicht, aber sie fügen sie in das Gesamtkonzept von Phantasmagorie und Traum, von Realismus und Phantastik, von Bedrohung und Labyrinth, und vor allem von Uneindeutigkeit ein. Die Geschichte des Comics und seiner schlichten Formen geht in der Konzeption eines neuen Erzählens produktiv auf.

Außerdem entwickelt Breccia in "Mort Cinder" Darstellungsformen, die sich spätestens von dem Spätwerk her als politisch gemeint lesen lassen. Die drei Bleiaugen, die anonymen Verfolger aus Mort Cinder sind 1962 schon so gruppiert und ikonographisch festgelegt, wie sie ab 1986 in Perramus (3) als Schergen der maricales, 1993 als die Blinden in "Informe sobre Ciegos" (4) und im selben Jahr als spöttisches Selbstzitat in Gestalt von Wölfen in "Dracula" (5) auftreten.

Denn daß Alberto Breccias Themen immer etwas mit der merkwürdigen Dialektik aus Utopie und Bedrohung zu tun haben, ist für einen argentinischen Künstler (auch wenn Breccia in Montevideo, Uruquay geboren worden ist, war er doch zeitlebens ein Porteño) kein Zufall. Auch nicht, daß er immer wieder eine bestimmte Art von Literatur illustriert (Poe, Lovecraft, Ray, Stevenson, Eco etc.), verarbeitet, zitiert hat, hat mit der spezifischen argentinischen kulturellen Situation zu tun.

Wenn der mexikanische Kulturhistoriker Ilán Stavans die gesamte lateinamerikanische Literatur als Kultur des "rewriting" europäischer Muster beschreibt, als die Kunst "in der Nicht-Originalität originell" (6) zu sein, Carlos Fuentes speziell Argentinien bezichtigt, "die eigene Kultur einer unkritischen Identifizierung mit 'Zivilisation und 'Europa' geopfert" (7) zu haben, und Tomas Eloy Martinez gar von Argentien als "nekrophilem Land" (8) spricht, dann haben die deskriptiven Teile dieser Thesen durchaus auch für Alberto Breccia ihre Berechtigung. Denn seine Kunst orientiert sich ja in der Tat stark an europäischen, bzw. angloamerikanischen Mustern. Originär argentinisch ist in seinen Werken auf den ersten Blick gar nichts. Breccia fügt sich also durchaus ein in die "Tragikomödie Lateinamerika", wie Tulio Halperin Donghi (9) die soziokulturelle Gesamtdisposition des Subkontinents charakterisiert. Aber das ist nur eine mögliche Perspektive, und vielleicht eine folkloristisch-romantizistische zudem.

Denn Jorge Luis Borges, der extrem prononciert auf der abendländisch-antiken Kultur basiert, hat Authentisch-Innovatives geleistet, so wie Argentiniens erster weltweiter Kulturexport, der Tango (inwieweit die Rezeption bei uns damit etwas ganz anderes angestellt hat, tut nichts zur Sache), genauso wie die gesamte lateinamerikanische Musik, "the latin tinge", wie der Musikwissenschatler John Storm Roberts (10) sehr vorsichtig den Paradigmenwechsel genannt hat, den lateinamerikanische Musikformen nicht nur in der Musik der USA seit den 40er Jahren ausgelöst haben (der schon gar nicht mehr als solcher wahrgenommen wird) - und alle haben natürlich europäische Wurzeln, die aber mittlerweile derart transformiert sind, daß monokausale Zurückleitungen unsinnig wären. Deshalb ist es kein Zufall, daß Alberto Breccias opus magnum, "Perramus" (1986 - 1989) genau diese Paradigmen (Borges, Tango, Música Latina) zum Thema hat, und aus diesem Thema eines der polyvalentesten, komplexesten und gleichzeitig unterhaltsamsten Kunstwerke hervorzaubert.

"Perramus" erzählt die Geschichte von drei, bzw. vier Männern: Dem Titelhelden, der sich von der Hure Margarita das Vergessen hat schenken lassen, und sich nach einem Markenname der Herrenoberbekleidungsbranche nennt, dem uruaguayischen Metzger und Skeptiker Canelones, genannt El Negro, sowie dem einst bei einem Inseltyrannen fest als solcher angestellten Feind - El Enemigo. Die drei treffen bald auf den Vierten im Bunde: Jorge Luis Borges - und damit beginnt das hochartistische Vexierspiel, das Breccia und Sasturaín nachgerade schwindelerregend in Szene setzen: Borges gewinnt den Nobelpreis (den er in Wahrheit nicht erhalten hat) für sein bekanntes Werk "Ficciones", das in der Tat ein Schlüsselwerk der lateinamerikanischen und der modernen Literatur gleichermaßen ist. Die "Ficciones" jedoch, von denen in "Perramus" die Rede ist, handeln über Perramus, El Enemigo und El Negro.

Borges kennt auch Héctor Oesterheld gut, der mit Breccia nicht nur "Mort Cinder" geschaffen hat, sondern auch den äußerst enigmatischen, real existierenden Strip "El Eternauta", den der fiktive Borges beiläufig zu zitieren weiß.

Die ersten beiden Bände von "Perramus" entfesseln solchermaßen ein komisch-groteskes und absurdes Pandämonium über Lateinamerika, das in der Erzählung der Abenteuer der vier Freunde folgende Themen und Kontexte behandelt oder konnotiert: Vergangenheit und Zukunft (die Handlung in Buenos Aires, das hier Santa Maria heißt, springt mühelos von einem Bild zum anderen aus dem Jahr 1936 ins Jahr 1986), diverse südamerikanische Mythen und Popularismen (machismo, Revolutionsromantik, die "Kunst des Volkes"), die Verschiebung von Realität und massenmedialer Ver- und Bearbeitung von Realität, den US-amerikanischen Imperialismus (dessen komische, brutalen und selbstzerstörerischen Implikationen, die Breccia und Sasturaín maliziöserweise an der Produktion von Guano abhandeln, alles Scheiße sozusagen), Realpolitik und Ideologie, die Abscheulichkeiten der totalitären Regimes (da mischen die Verfasser virtuos Motive aus Chile, der mittelamerikanische Tragödie und Argentinien), die Dummheiten einer genauso bornierten Gegenideologie und vieles mehr.

Als Graphic Novel ist "Perramus" dergestalt organisiert, daß die Bilder den Fortschritt der narration organisieren, der Text von Sasturaín sich nur auf äußerst komprimierte Dialoge beschränkt, die mit einzelnen Signalwörtern wie "demasiado" (zuviel) oder "la clave" (Schlüssel) leitmotivisch dafür sorgen, daß immer dort, wo man meint, eine eindeutige Interpretation der Geschehnisse riskieren zu können, jeder "Sinn" sofort wieder hinfällig wird. Dergestalt kippen allegorische Lesarten sofort in "realistische" um, und vice versa, "realistische" Lesarten werden flugs "phantastisch" und wieder vice versa und über Kreuz außerdem. Die Bild-Textkombination ruft endlose Assoziationsketten auf, konnotiert die verschiedensten kulturellen Codes, und beinhaltet immer gleichzeitig die Möglichkeit zu deren Dementi, weil ja nie dergleichen gesagt oder behauptet wird. Sieht der Inseltyrann Mr. Whitesnow tatsächlich so aus, wie Henry Kissinger? Oder der weise (und feige) Altrevoltionär Tio Galapagos wie Marlon Brando als Colonel Kurtz in "Apocalypse Now"? Und hat das tatsächlich etwas mit dem Bild des Kolonialismus und Imperialismus zu tun, das Joseph Conrads Vorlage transportiert? Was hat es mit Mr. Plastico, dem Minister im Dienste des Inseltyrannen und dem Song "Plastico" von Ruben Bladés auf sich und warum paßt der Markenname "Perramus" so gut zu einem sehr ironischen Song des Salsa-Heroen Willie Chirino ("Los Diseñadores")?

Was ist von einem Jorge Luis Borges zu halten, den Breccia und Sasturaín eben nicht als Sympathisanten der Rechten darstellen, auch wenn die graphische Darstellung dem zu widersprechen scheint: Wenn der Borges aus "Perramus" über Alberto Breccias Freund Héctor Oesterheld spricht, der während eben der Militätdiktatur spurlos verschwunden ist, die der reale Borges emphatisch begrüßt hatte, dann ist sein Gesicht in Breccias Zeichnung symmetrisch in schwarz und weiß gespalten - auf die rechte Seite fällt Licht, die linke bleibt im Dunkeln . (11)

Im dritten Band von "Perramus" schließlich machen Breccia und Sasturaín den Aberwitz vollkommen. 1985 sind die mariscales, die Generäle, von der Macht verschwunden (12), aber Argentinien ist ein melancholisches Land geworden, denn das Lächeln von Carlos Gardel ist verschwunden, und Borges, Perramus, El Negro und El Enemigo sollen es wiederbeschaffen, im Auftrag von Gabriel García Márquez, dem kolumbianischen Echtnobelpreisträger, der mit den Mythen des Subkontinent einem neuen Bestseller zu Rekordverkaufszahlen verhelfen will. Diese Konstellation ist von groteskem Witz, weil Breccia und Sasturaín gleich drei, im Grunde antagonistische Ikonen der südamerikanischen Kultur miteinander in Bezug bringen: Borges, Gracía Márquez und Carlos Gardel. Warum Borges und García Márquez völlig unvereinbare Größen sind, muß nicht erklärt werden.

Carlos Gardel jedoch ist nicht nur der personifizierte Tango, sondern der "kollektive Traum" Argentiniens, ein Volksmythos, dessen Ausmaß und Bedeutung aus der Distanz kaum vorstellbar ist. Gardel ist nicht nur ein nationales Idol, sondern mehr: El Zorsal, die Amsel, el busto que sonrié, die Büste, die lächelt, nach seinem Tod einfach El mudo, der Stumme. Gardel hat Umgangssprache geprägt: ¡Anda a cantarle a Gardel! heißt soviel wie "Das kannst du deiner Großmutter erzählen" - kurz Gardel steht in universaler Absicht für Tango und für mehr als Tango (13). Der Tango ist deswegen hier von solchem Interesse, weil er immer noch für Argentiniens bedeutendsten Kulturexport steht - ein populärer Musizierstil von Weltrang, der sich aus der Musik der Bordelle und Kaschemmen entwickelt hat, mutiert ist, zwischen Melancholie und Obszönität schwankt, sublimiert wurde, zum Modetanz einerseits geworden, andererseits mit dem Nuevo Tango zu ganz neuer, aktueller Relevanz gefunden hat. Kurz: Ähnlich wie der Blues und afrokaribische und afrokubanische Volksmusik (deswegen immer wieder die Anspielungen auf "Salsa", ein ähnlich diffuser Begriff wie "Tango" heutzutage) ist der "Tango" als Weiterentwicklung "einfacher Formen" zu kultureller Souveränität und Autorität gediehen. Es würde nicht verwundern, wenn Breccia und Sasturaín im Comic eine paralleles Potential vermuteten, was der Dimension von "Perramus" noch ein weiteres Bedeutungsfeld hinzufügen würde (14). Das Grab von Gardel, der 1935 bei einem Flugzeugunglück in Medellín (of all places) ums Leben gekommen ist, ist geschändet worden, dem Schädel Gardels fehlen die Zähne, und ausgerechnet Gabo (Márquez) bittet seinen zur realen Zeit von "Perramus" (1985) schon todkranken ästhetischen und politischen Antipoden Borges, diese Zähne wiederzubeschaffen - denn das Lächeln Gardels war dessen Markenzeichen, auf unzähligen Fotos und Plakaten fest im kollektiven Gedächtnis Argentiniens einzementiert und es wurde bekanntlich von Perón ikonographisch zur eigenen Selbstdarstellung genutzt. Der "Linke" Márquez will also auch das Lächeln der Diktatur wieder rekonstruieren, der "Rechte" Borges läßt sich dafür mit viel Geld bezahlen - die böse-ironischen Dimensionen sind beinahe unauslotbar. Ausgerechnet der Borges zudem, der Gardel und den Tango nicht mochte und spöttisch am Tango eine ganze Kritik des argentinischen Nationalcharakters festgemacht hatte: "Vielleicht ist die Sendung des Tango folgende: den Agentiniern die Gewißheit zu geben, daß sie tapfer gewesen sind, daß sie die Forderungen des Muts und der Ehre schon erfüllt haben." (15) Solche Prüfungen des Muts und der Ehre müssen jetzt Perramus und seine Gefährten ablegen - vom Absurdesten. In Las Vegas zum Beispiel, wo sie von Frank Sinatra zu einem Wettstreit der genitalen Art herausgefordert werden, ein traurig-komisches Kapitel des Spiels "Wer hat den längsten?".

Ein letztes Beispiel für die Komplexionsaufladung, die Breccia und Sasturaín für die Graphic Novel möglich gemacht haben: Frankie-Boy wird vor einem riesigen Konterfei von Richard Nixon abgebildet, dem Mann also, der an der unglücklichen Lateinamerikapolitik der USA einen nicht geringen Anteil hatte. Sinatra wirkt souverän und originell, auch wenn er den Wettkampf erstens mit unfairen Mitteln führt und zweitens schmählich unterliegt: Perramus zitiert beim Hinausgehen eine Geschichte von Roberto Fontanarrosa "No sé si he sido claro", die das "Wer hat den längsten Spiel" schon längst mit genau der selben Pointe wie beim cleveren Mafioso Sinatra durchexerziert hatte.

Die absurde Hatz auf die Zähne eines fragwürdigen Idols, in deren Verlauf Breccia und Sasturaín in bewährter Verzahnung der Zeitebenen Phänomene wie den Falkland/Las Malvinas-Krieg, die französische Neue Rechte, den großen Nachfolger von Gardel, Osvaldo Pugliese und die Sängerin Maria Kodama integrieren, die antagonistischen Prinzipien und Poetiken Borges und García Márquez (den Breccia ebenfalls illlustriert hat) sich mit maliziösen Bemerkungen traktieren lassen, dies alles macht "Perramus" zu einem Beispiel für Konzept-Kunst in einem sehr eigenen Sinn.

Am 9. November 1993 ist Alberto Breccia in Buenos Aires gestorben. Er hat noch zwei Bände hinterlassen, die die konzeptuellen Möglichkeiten des Comics noch einmal nachdrücklich vorführen: "Informe sobre Ciegos", die Verarbeitung eines Fragmentes von Ernesto Sábato, die versucht, unsichtbare Obsessionen (des Protagonisten Fernando Olmos Vidal) in virtuosen, beklemmenden grau-schwarzen Bildern sichtbar zu machen, und der ironisch pop-bunte "Dracula", der höhnisch und hilflos die Militärjunta attackiert (16). Am Ende sinkt Dracula, nachdem er E.A. Poe ausgesaugt hat, besoffen zu Boden. "Dracula" kommt ohne Worte aus, nur die Episoden-Titel unterstreichen noch einmal die allumfassende Subversion von Breccias Witz. "Die letzte Nacht im Karneval" weist auf eine Welt hin, die das Unterste nach oben und das Oberste nach unten kehrt. Diese Verweigerung von Eindeutigkeit, die andauernde Verunsicherung dort, wo eine Position zu erwarten wäre, das freie Spiel der Kunst, das sich von Funktionalisierungen freihält, die Komik, die alle festen Werte, Konventionen, Überzeugungen produktiv zersetzt, und die Möglichkeiten des Comics, dies alles nicht als abstrakt-intellektuelle Ideenkunst betreiben zu müssen, sondern in der Sinlichkeit des Erzählens aufgehen zu lassen, macht das Konzept von Breccia so ungeheuer innovativ. Es klinkt sich dabei gleichzeitig wegen dieser Innovation aus allen parametergestützten Diskussionen um Kunst oder Nicht-Kunst, Trivial-Kunst oder Hochkunst und ähnlicher Korsettierungen mehr aus. Die Randlage Argentiniens, bzw. Lateinamerikas und deren historische Verflechtung mit der europäischen Hochkunst und -literatur, schafft Freiräume, die über eine postmoderne Zitatkunst hinausgehen. Das Verfügen über die gesicherten, kanonischen Werte des Abendlandes ist nur ein Spielstein unter anderen, das eine neue Souveränität ermöglicht.

Nicht nur die großen demographischen Umwälzungen der Welt kommen von den "Rändern", sondern die allmähliche Korrosion der Kunstkonventionen hat sich dort schon längst in neue Kreativität verwandelt.

© Thomas Wörtche, 1996
Der Text entstand für eine Anthologie über Comics und Graphic Novels, die allerdings nicht erschienen ist.

 

(1) Enrique Breccia/Juan Sasturaín: "Humo". In: Imagenes de la Historia: Norte y Sur. Vitoria-Gasteiz, 1989: Ikusager Ediciones. S. 71 - 80. Das Project Norte y Sur hat eine deutlich multimediale Komponente: Zu allen "Bild-Text"- Geschichten wird Musik angegeben. Im Falle Humo ist es: "Huellas del Mar del Sur" von Sixto Ramos.
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(2) Alberto Breccia/Héctor Oesterheld: Mort Cinder. Aus dem Italienischen von Harald Sachse. 2 Bände, Hamburg 1991 und 1992: Carlsen.
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(3) Alberto Breccia/Juan Sasturaín: "Perramus". Aus dem Spanischen von Harald Sachse. 3 Bände, Hamburg 1993 und 1994: Carlsen Imago.
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(4) Ernesto Sábato/Alberto Breccia: "Informe sobre Ciegos." Mit einem Vorwort von Carlos Sampayo. Barcelona, 1993: Ediciones B.
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(5) Alberto Breccia: "Dracula" Mit einem Vorwort von Carlos Sampayo und einem anonymen Nachwort. Aus dem Franzöischen von Harald Sachse. Hamburg, 1994: Carlsen Lux, Bd. 36.
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(6) Ilán Stavans: Wer hat Angst vor dem lateinamerikanischen Detektiv? In: Underground 4, Hrsg. von Manfred Drews und Thomas Wörtche. Berlin, 1991: Reiher Verlag. S. 51 - 62.
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(7) Carlos Fuentes: Der vergrabene Spiegel. Die Geschichte der hispanischen Welt. Hamburg, 1992: Hoffmann und Campe.
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(8) zit. nach Fuentes, S. 348.
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(9) Tulio Halperin Donghi: Geschichte Lateinamerikas von der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main, 1991: Suhrkamp.
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(10) John Storm Roberts: The Latin Tinge. Oxford, 1979: Oxford University Press.
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(11) Eine einläßlichere, aber längst nicht erschöpfende Analyse der Kontexte von Perramus siehe Thomas Wörtche: Schuh oder Stiefel. In: FREITAG vom. 27. August 1993, S. 11.
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(12) Besoffen gröhlen die Generäle und Obristen ihr "¡Volveremos!" - "Wir werden zurückkommen!" - aber wenn man ihnen was in den Drink schüttet, bekommen sie Durchfall. Vgl. die Episode "Kleine Gefälligkeiten" in Perramus III.
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(13) Zu Carlos Gardel sei wärmstens empfohlen: Jorge Aravena: El Tango. Die Geschichte von Carlos Gardel. Berlin 1989: Transit; Zum Tango allgemein: Dieter Reichardt (Hrsg): Tango. Verweigerung und Trauer. Kontexte und Texte. Frankfurt am Main 1984: Suhrkamp Taschenbuch 1087
Gabriela Hanna: Así bailaban el tango. Berlin, 1993: Metro Verlag
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(14) Der Zusammenhang von Musik und Comic, von Jazz, Tango und Graphic Novel ist auch das Konzept von José Muñoz und Carlos Sampayo: Billie Holiday, Joe's Bar und Alack Sinner (alle in der Edition Moderne erschienen) sind kapitale Beispiele. Man darf also durchaus parallele Intentionen beim avancierten argentinischen Comic vermuten.
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(15) Jorge Luis Borges: Der Krakeeler-Tango. In: Evaristo Carriego, S. 105 - 107 (= Jorge Luis Borges, Werke in 20 Bänden, Hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 2. München und Frankfurt am Main, 1991: Hanser und Fischer Taschenbuch Verlag).
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(16) Die Episode "Ich bin nicht länger eine Legende" zeigt einen angesichts des realexistierenden Grauens eines folternden und mordenden Totalitarismus erschütterten Dracula: Er geht ins Kloster und trägt ein Kreuz vor sich her, wozu der gekreuzigte Jesus die Augen nach oben rollt.
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