legal stuff Impressum Datenschutz kaliber .38 - krimis im internet

 

Was hilft, viele Bücher zu verkaufen?

Das Verlagsmarketing hat einen neuen Fetisch entdeckt - die Zielgruppe. In der Vielzahl von "Kriminalromanen", die speziell für "Zielgruppen" platziert werden, lässt sich kaum noch ausmachen, was echte Kriminalliteratur und was irgendein Surrogatprodukt ist. Auch kennt das Gerede von Zielgruppen keine Qualitätsunterschiede mehr: Ein Krimi, der nicht gefällt, ist deswegen kein schlechter Krimi, sondern hat seine Zielgruppe verfehlt.

Von Thomas Wörtche

 

Sie, liebe Leserin, sind um die dreißig, leben in einer Kleinstadt, haben Ihr Studium wegen der Kinder abgebrochen, Ihr Gatte ist viel unterwegs, Sie lieben Ihren Garten und haben ein wenig Übergewicht. Sie lesen einen Kriminalroman von Joe R. Lansdale. Er ist brutal, sexistisch, nicht schön, vulgär. Kein gutes Buch, finden Sie.

Sie, lieber Leser, sind Mitte fünfzig. Sie leben schick in einer schicken Großstadt. Sie haben Probleme mit der Sehkraft und fangen an, Viagra zu schätzen. Ihre Rotweinrechnungen werden allmählich bizarr. Sie lesen einen Kriminalroman von Agatha Christie. Er ist bieder, schlicht geschrieben, noch schlichter erdacht, langweilig. Kein gutes Buch, finden Sie.

Und jetzt, liebe Leserin, lieber Leser, denken Sie, Sie hätten ein Geschmacksurteil gefällt oder, wenn Sie noch ein paar Argumente herbeigeschleppt haben, ein literaturkritisches Urteil. Zumindest meinen Sie, Sie seien ein kritischer Geist, ein aufgeklärter Verbraucher, ein mündiger Kunde.

Sie glauben auch, Sie könnten sich, liebe Leserin, lieber Leser, weil Sie all das ja wirklich gerne sein möchten, ein wenig informieren. Über Kriminalliteratur, z.B., über deren Geschichte, Ästhetik, Formen und so weiter und so fort. Sie suchen nach der passenden Literatur, auf deutsch. Kompetent, faktensicher, auf einem gewissen Niveau, mit Horizont. Sie finden nichts. Sie sind verunsichert.

Das muss nicht sein. Denn jetzt sind Sie reif für eine Maßnahme des um Ihr Wohl besorgten Marketings. Kriminalromane nämlich, die Sie für gut oder schlecht halten, sind gar nicht gut oder schlecht. Überhaupt keine Kriminalromane sind gut oder schlecht und deswegen gibt es auch keine Bücher, in denen drin steht, was gute und schlechte Kriminalromane sein könnten.

Sie, liebe Leserin, hätten nämlich den Roman von Joe R. Lansdale gar nicht lesen dürfen, und Sie, lieber Leser, den von Agatha Christie auch nicht. Das war ein Versehen. Da ist irgendwas durcheinander gekommen. Irgendwas mit der Zielgruppen-Zuordnung. Aber glauben Sie mir, allüberall sind Marketingexperten emsig dabei zu verhindern, dass so etwas noch mal vorkommt.

Die Zielgruppe ist nämlich das neueste Schätzchen im Buchmarketing. Es fing schon vor Jahren damit an, dass in den Vorschauen und Katalogen Hinweise auftauchten wie: "Für alle Freunde von Elizabeth George". Beworben wurden mit solchen Vergleichen Quadrillionen von kriminalliteraturanalogen Büchlein, an die sich zu Recht kein Mensch mehr erinnert. Toller Hecht, sensibel, charmant und verwundbar, in der Hauptrolle, möglichst realitätsferne Handlung und märchenhaftes Setting, schönes Gruseln und alles so vorgetragen, dass die Freundinnen des 19. Jahrhunderts nicht verstört werden.

"Für alle Freunde von Mo Hayder" hieß: Quadrillionen von irgendwelchen kriminalliteraturanalogen Büchlein mit ganz, ganz vielen Serialkillern, Nekrophilen und sonstwie Devianten - erbarmungslos, grausam, blutspritzend und gedärmwickelnd. Dito "Für alle Freunde von Kay Scarpetta", Sie wissen schon, Quadrillionen ... mit an toten Körpern schnitzenden Gerichtspathologieforensikmedizinern. In diesem Fall taugt die Autorin schon nicht mehr für die Zielgruppen-Definition. Da muss die viel populärere Hauptfigur her.

Anyway, diese Art der vergleichenden Werbung griff so allmählich um sich. Die Peinlichkeiten auch. Spätestens als Magdalen Nabb, der Donna Leon nicht nur literarhistorisch alles zu verdanken hat, dann als Autorin angepriesen wurde, die im Geschmack der Donna-Leon-Freunde liege, drehte sich bei manchem Beobachter allmählich der Magen um. Ja klar, jeder siebtklassige Kriminalautor aus Kuba war der "neue" Leonardo Padura und jeder noch so schauderhafte Franzose, in dessen Büchern das Wort "Marseille" auftauchte und in dem Leute Nahrungsmittel verzehren, stand "in der Tradition von Jean-Claude Izzo." Aber, so hieß es immer beruhigend, das sei ja nicht wirklich ernst gemeint, es diene nur der ersten, schnellen Orientierung der Kundschaft/des Buchhandels/des Publikums/der Kritik. So was nimmt an der Hand, lässt nicht allein und holt ab. Jaja...

Nun wollen wir uns natürlich nicht über alles lustig machen, was hilft, viele Bücher zu verkaufen. Eine Qualität von Kriminalliteratur war schon immer, dass sie direkt mit "dem Markt" zu tun hatte. Sie musste sich, anders als die mäzenierte oder subventionierte "Hochliteratur", darüber Gedanken machen, wie sie das, was sie will, so ästhetisch organisiert, dass es ankommt bei den Leut'.

Kriminalliteratur kommt von unten und das ist ihre Stärke. Denn wenn sie dran will, an die Leut, dann muss sie sich überlegen, wie ihre Kommunikationsstrategien aussehen sollen. Denn Literatur ist eine bestimmte Art der Kommunikation und zwar eine ästhetisch organisierte. So ist das. Deswegen sind Überlegungen dazu, wie man sein Publikum erreicht, grundsätzlich sinnvolle Überlegungen. Nur damit das mal klar ist, an dieser Stelle.

Autoren wie Dashiell Hammett, Agatha Christie oder Georges Simenon (und viele andere auch) haben sich durchaus Gedanken über ihre "Zielgruppen" gemacht - sie kamen auch aus wenig sentimentalen Segmenten ihrer Gesellschaften. Als Originalgenie hat sich von ihnen niemand verstanden. Es gehört zum ganz normalen Handwerkszeug von Schriftstellern, sich ein Bild von den Menschen zu machen, bei denen sie mit ihren Texten ankommen wollen. Der reichlich eitlen Aussage, das Publikum interessiere nicht, die man hin und wieder aus dem Kulturbetrieb hört, misstraue ich sowieso. Wer "nur für sich" schreiben will, hat vermutlich selbsttherapeutische Absichten, und da wollen wir auch nicht weiter stören.

Des Weiteren ist es völlig ok, wenn sich Verlage darum kümmern, dass ihre Investitionen viel Gewinn abwerfen. Vornehmer formuliert: Das sie mit den von ihnen vorfinanzierten Kunstwerken ein wenig Geld zurückbekommen können, damit für alle ein Auskommen gesichert ist: Für den Kreativen und den Verleger und den Buchhändler und den Praktikanten auch. Das ist alles schön und gut und sinnvoll auch und nichts, über das man sich mokieren will.

Das mit dem Mokieren geht dann los, wenn plötzlich alle sinnvollen, demokratischen und anderweitig erfreulichen Parameter umgedreht werden: Es überlegen plötzlich keine kreativen und klugen Schriftsteller mehr, wie sie mit ihrer Literatur möglichst viele Leute erreichen können. Jetzt wird stramm überlegt, wie man möglichst viele Leute dazu bringen kann, buchartige Produkte zu kaufen. Weil "Krimi" zur Zeit die multimedial beliebteste Produkt-Formel ist, wird folgerichtig "Krimi" für alle möglichen Zielgruppen hergestellt: Krimis für Steuerberater, zum Beispiel, die von Steuerberater-Fachverlagen vertrieben werden, mit Steuerberater-Detektiven und Steuerberater-Morden. Pharmakonzerne bieten Apotheker-Krimis an, in die dann der Name des zu bespaßenden, äääh, sorry, des zu bewerbenden Apothekers eingesetzt werden. Apotheker Müller als Held eines Krimis, das ist toll!

Und übrigens so originell doch wieder nicht, weil es ja bei Tchibo schon Bücher gibt, in denen dank der Textverarbeitungstechnik die ganze Familie mitspielen darf. Darunter auch in einem Krimi-Modul. Aber das sind vermutlich Bizarrien, und man sollte sich sogar freuen, dass Krimi ein solch tragfähiges kommunikatives Muster geworden ist.

Und sich deswegen aus dem Kreis der ernstzunehmenden Literatur verabschiedet hat? Die erschreckend hohe Zahl von "Kriminalromanen", die allesamt für "Zielgruppen" kalkuliert sind, legen zumindest die Gefahr nahe, dass man bald nicht mehr auf den ersten Blick unterscheiden kann, was nun was ist - echte Kriminalliteratur oder irgendein Surrogatprodukt? Denn die hunderten von "neuen" deutschen Autorinnen und Autoren aus dem Regionalsektor, die Retro-Manie, die Kombi-Manie (Rioja-Krimis, Käse-Krimis, Wander-Krimis etc.), die ganze wahnsinnige Überproduktion funktioniert ja u.a. auch, weil die qualitativen Warnsysteme außer Kraft sind.

Die Rede von Zielgruppen kennt keine Qualitätsunterschiede mehr: Ein Krimi, der nicht gefällt, ist deswegen kein schlechter Krimi, sondern hat seine Zielgruppe verfehlt oder ist bei der falschen Zielgruppe gelandet oder was auch immer. So einen Irrtum kann man marketingmäßig re-kalibrieren, neu justieren und korrigieren. Und ein guter Krimi ist völlig kriterienfrei ein guter Krimi dann, wenn er seine Zielgruppe trifft.

"Krimileser" ist so gesehen eine völlig ungeeignete Zielgruppenansprache. Eine korrekte Zielgruppenansprache müsste heißen: "Frauen, die Fortsetzungskrimis mit einer wiederkehrenden Hauptfigur und psychologischen Aspekten lesen", wie ich in einem Autorenhandbuch gefunden habe. Aber ich finde, auch die ist noch viel zu weit gefasst. Wir wissen nämlich inzwischen, dass viele Frauen die Romane von Liza Cody oder Katy Munger, auf die eine solche Beschreibung zutrifft, nicht "mögen". Weil nämlich die Zusatzkriterien, die Hauptfiguren mögen bitte nicht sexuell autonom sein und irgendwie knuddelig und knuffelig, nicht erfüllt sind.

Wir können solche Kriterienkataloge natürlich bis in die kleinsten Details diskutieren. Dann hätten wir so etwas wie den Normalfall einer zielgruppengerechten Textblaupause. Und nach solchen mehr oder weniger absurden Blaupausen werden dann Kriminalromane, die Verlagen angeboten werden, gescannt. Oder die Texte werden gleich nach solchen Maßgaben in Auftrag gegeben. Agenturen, die solche Produktionen initiieren und abwickeln, stehen in den Startlöchern. Die großen Buchhandelsketten sind entzückt, weil man endlich in Verlagskreisen auf sie hört.

Und um das ganze auch noch mit der schönen Illusion des qualitativ Gediegenen abzusichern, stehen Dienstleister wie etwa das Internet-Portal "Krimi-Couch.de" bereit, die ihren Werbekunden "barrierefreie" (= reflexionsfreie) Multiplikation versprechen und mit Pseudokritiken die Illusion von Kompetenz verbreiten.

Wenn es denn keine guten oder schlechten Bücher mehr gibt, sondern nur noch gelungene oder misslungene Zielgruppengenauigkeit, dann sollte es günstigerweise auch die kompetente "Rezension" oder den Diskurs über Kriminalliteratur nur noch als Show-Veranstaltung geben, die gewohnte Rituale beibehält. So wie auf Tiefkühlfraß "Gourmet" drauf steht.

Und siehe, diverse Blogger liefern leere Seriositäts-Posen schon frei Haus: Der sich als abgebrühter Profi ausgebende unbedarfte Krimiliebhaber, der seine Pseudokritiken grammatisch unsicher aus fremden Text- und Denkmilieus verständnislos zusammenstückelt, oder der feingeistige Mediziner, der Wortfolgen, die er vermutlich in einschlägigen Werken zur Genretheorie aufgeschnappt hat, mit großer Geste und keiner Ahnung reproduziert und sich so literaturwissenschaftlich zu argumentieren wähnt... und so gaga weiter und so zum Heulen peinlich fort.

Sie alle profitieren letztendlich von der gnadenlosen Planierung (und befördern sie gleichzeitig) jeder Qualitätserwägung, die nicht irgendwie mit dem neuen Fetisch namens "Zielgruppe" in Zusammenhang zu bringen ist.

Ach ja, was bin ich wieder schön dystopisch heute - aber auch irgendwie heiter gelassen: Denn ich weiß ja wenig, aber eines gewiss: Früher oder später kracht der ganze Hype in sich zusammen. Und weil ich mit meinen Prognosen meistens 10 Jahre zu früh liege, können wir uns noch auf absurde und komische Zeiten freuen - vorausgesetzt, wir sind in der richtigen Zielgruppe.

 

© Thomas Wörtche, 2008
(Buchkultur
Krimi Spezial
Sommer 2008
)

 

Thomas Wörtche Neuerscheinungen Vorschau Krimi-Navigator Hörbücher Krimi-Auslese
Features Preisträger Autoren-Infos Asservatenkammer Forum Registrieren Links & Adressen