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Genre? Wozu? - Überlegungen zum Begriff

Druckfassung eines Vortrags von Thomas Wörtche

 

»Genre? Wozu?« habe ich diese sehr vorläufigen und skizzenhaften Überlegungen genannt, mit denen ich auf ein vielleicht nicht mehr brandneues, aber dennoch weiterhin akutes Problem aufmerksam machen möchte.
      Denn schon alleine die Rede von »Genre« ist problematisch. Sie hängt von ihren Kontexten ab, und die sind bekanntlich fast unendlich. Reduzieren wir sie aber pragmatischerweise auf zwei:
      Die zuständige Fachwissenschaft bewegt sich, das unterstelle ich zumindest mal heuristisch, innerhalb der literaturwissenschaftlichen Diskussion über literarische Gattungen. In diesem Rahmen ist »Genre« eine Sub-Kategorie, angesiedelt eine Ebene unterhalb der Gattung - je nach vorgeschlagenem gattungstheoretischem Modell. Auf jeden Fall eine Rubrifizierung, die man mit Kriterien ausstatten und beschreiben kann. Ob es da im Einzelnen einen Konsens gibt oder nicht, ist für unsere Zwecke erstmal egal. Der Begriff »Genre« erscheint so gesehen deskriptiv und zunächst wertneutral.
      Wenn ich (in meiner Eigenschaft als Herausgeber einer Buchreihe, als Literaturkritiker oder sonstiges Rädchen im sogenannten Literaturbetrieb oder in meiner privaten Eigenschaft als Leser) mit dem Begriff »Genre« konfrontiert bin, meint er eine Orientierung über literarische Texte. Dies hier ist »ein Krimi«, das ist »Science Fiction«, hier haben wir es mit Elementen des »Westerns« zu tun und dort mit einem »fantastischen Roman«.
      Und »Genre« meint ausserhalb der Fachwissenschaft immer ein manchmal verdecktes, manchmal offenes Werturteil: »Krimis lese ich nicht« (Elke Heidenreich); »Krimis liest man, aber man redet nicht darüber« (Ulrich Greiner) - um zwei von unendlich vielen gleichlautenden Äußerungen sinngemäß zu paraphrasieren.
      »Genre« also, in meinem Alltags-Gebrauch, als ob es ein prä-modernes Überbleibsel wäre, schwankt irgendwo zwischen Marketing-Label und unbegründetem, subjektiven Werturteil. Das ist auf der Ebene der Begriffe oder der Bezeichnungen der Fall.

 

Komplizierter wird es, wenn wir uns einzelne Sortierungen anschauen, die wir gewohnheitsmässig »Genre« nennen: Zum Beispiel »die Fantastik«. Da ist plötzlich gar nicht mehr klar, ob es sich überhaupt um ein »Genre« handelt. Wenn ich es im Abstand von 15 Jahren - da habe ich mich das letzte Mal einläßlich mit der Fantastik beschäftigt (1) - noch richtig sehe, gibt es dazu immer noch mindestens zwei Positionen: .
      Die eine nennen wir »Todorov und die Folgen« (2), die letztendlich sagen würde: Fantastik ist ein Genre mit bestimmten Merkmalen und bestimmten Voraussetzungen und ist deswegen auch historisch begrenzt.
      Die andere wollen wir die »maximalistische« Position nennen, die am pointiertesten in Renate Lachmanns »Erzählte Phantastik« (3) ausgefaltet ist: Da erscheint Fantastik als spezifische Qualität, die in allen möglichen Textmilieus (und, wenn ich Lachmann richtig verstanden habe, nicht nur in narrativen) stattfinden kann. Fantastik ist also eine Schreibweise und insofern Bachtinschen Kategorien verwandter als formalen gattungstheoretischen Kriterien (4).
      Ein anderes Genre: Der Kriminalroman, nur im deutschen Sprachraum vulgo Krimi. Da sieht es noch düsterer aus: »Einen konsensfähigen Begriff des Kriminalromans gibt es nicht«, sagt das Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft (5) - und in der Tat ist es bei diesem Beispiel sogar unmöglich, Forschungspositionen wenigstens auf zwei Extreme zu reduzieren. Selbst die gibt es nicht. Allerdings ist beim Kriminalroman das Ausweichen auf eine Schreibweise kein Ausweg - das »Kriminale« oder »Kriminelle« wären absurde Konstruktionen.
      Fantastik und Kriminalroman, diese beiden Genre-Namen sind durchaus keine Einzelfälle. Wir könnten alle »Genres« durchdeklinieren, sofern sie literarhistorisch gesehen überlebt haben: »Science Fiction«, kaum konsensfähig, wenn auch ein wenig schärfer umrissen. »Western«, formal völlig diffus; »Abenteuer«, beliebiges Textkorpus. »Porno«, dito. »Liebesroman/Berg/Arzt/Adel«: A priori soziologisiert. »Kolportage«: Verlegensheitsbezeichung mit stark literaturpolitisch resp. politisch pejorativem Charakter, wie die Diskussionen z.B. um Zola oder Balzac noch immer zeigen..
      Die fachwissenschaftlichen Aporien haben also durchaus einen Berührungspunkt mit den umgangssprachlichen oder schlicht pragmatischen Prädikationen: Man redet notfalls in beiden Diskurs-Typen aneinander vorbei.
      Deswegen ist es vermutlich nicht ganz überflüssig, zu fragen: .
      Was bringt die Rede von Genres heute eigentlich wirklich? An Erkenntnisfortschritt über Gruppierungen von Texten? Über die Machart von Texten? Über die Einordenbarkeit von Texten? Über deren Sinn und Bedeutung? Im wissenschaftlichen Diskurs? In anderen Redeweisen über Literatur? Was kann sie erklären? Was nicht?

 

Der Akzent auf dem »Heute« ist dabei nicht ganz unerheblich..
      Alle »Genres« und alle Rede von »Genre« haben nämlich mindestens zwei prinzipielle Grundprobleme: .
      (A) Es gibt keine irgendwie als normativ gesicherten Werke, die sich literaturhistorisch derart durchgesetzt hätten, dass man von ihnen aus gesehen eine Reihe beschreiben könnte. .
      (B) Alle Rede von »Genre« hat die Tendenz, Werke derart unterschiedlicher Qualität, Machart und Epochen und, wichtiger, Entstehungs- und Distributionsbedingungen zu meinen, so dass man sich nur auf ein paar allergröbste Plot-Elemente zur Beschreibung verständigen kann:.
      »Science Fiction« spielt in der Zukunft; »Fantastik« hat etwas mit Übernatürlichem o.ä. zu tun; »Krimi« erzählt von Mord und Aufklärung; »Western« spielt im Wilden Westen. Und so weiter. So kommen wir also nicht weiter, weil zudem sogar schon diese Groborientierungen ächzen und knirschen: Science Fiction spielt seit der New Wave der späten 60s (oder bei Philip K.Dick schon in den 50s) nicht mehr unbedingt in der Zukunft, sondern auch im »Inner Space«; es gibt Zigtausende von Krimis, die nicht mit Mord und Aufklärung zu tun haben; und etwas Übernatürliches reicht nicht, um einen Text der Fantastik zuzuordnen..
      Und erst recht ungemütlich wird es, wenn man schon rein begrifflich vermuten muss, daß ein Roman aus dem Harlem Cycle von Chester Himes irgendetwas mit einem Jerry-Cotton-Heftchen zu tun haben soll. Die inhaltlichen Groborientierungen liegen dann auf der Prägnanzskala von Aussagen wie: Bei den Romanen Mario Vargas Llosa und den Gedichten von Erich Fried kommt es zu sexuellen Interaktionen. Oder fairer: Im Ulysses von Joyce und in Flauberts Madame Bovary geht es um Beziehungskonstellationen. Man könnte jetzt natürlich zu Recht einwenden: Der Unterschied zwischen Chester Himes und Jerry Cotton ist schlicht der zwischen einem guten und einem schlechten Kriminalroman. Dann wäre man also hier bereit, die Qualitätsfrage von der Definitionsfrage abzukoppeln. Warum? Weil es in beiden Texten um Mord und Verbrechen geht und beide unter »Krimi-Verdacht« stehen. Aber die Analogisierung von Handlungselementen bleibt leer: Ja, es geht beim Ulysses und bei Madame Bovary immer noch um Beziehungen. Na und? Da kommt die Wertungsfrage nicht ins Spiel. Ein isoliertes Handlungselement taugt nie und nimmer als tertium comparationis - nur, bei »Genre«-Verdacht anscheinend schon..
      Die vorbegriffliche, intuitive und so gut wie nie mit-diskutierte Wertungsfrage, die dennoch sehr mächtig ist, spielt also auch auf dieser Ebene mit - und gefährdet damit eine »Genre«-Diskussion radikal..
      Folgt der nächste Einwand: Bei Joyce und Flaubert sind aber andere Kategorien dominant. Bei aller Beziehungsproblematik ist Flauberts Roman u.a. ein Angriff auf die Moral seiner Zeit, aber auch ein Exerzitium einer neuen Poetik des Erzählens; bei Joyce geht es um Möglichkeiten dichterischen Umgangs mit Welt überhaupt oder um neue Verfahren des Narrativen oder was immer. Aber: Bei aller Mord & Totschlag-Problematik geht es bei Jerry Cotton dominant um die Erfüllung des Leserbedürfnisses nach Unterhaltung, deswegen muß es viel Thrill und Action geben, was deren Daseinsgrund ist. Bei Chester Himes geht es primär um die erzählerischen Möglichkeiten (oder um neue Verfahren), wie mit einer Welt aus Gewalt und Rassismus umzugehen ist. Also müsste man Chester Himes in Relation zu James Joyce diskutieren. Man tut es aber nicht.
      Aus Platzgründen will ich es bei diesem Beispiel belassen, könnte es aber an Dutzenden anderer Fälle durchspielen - zum Beispiel am Topos der Grosssstadt und deren literarischer Verarbeitung bei G.K. Chesterton bis Jerome Charyn. »Genre« kann also als Blockade funktionieren - als Rezeptionsblockade, mindestens, und auch als intertextuelle Barriere. Das beschädigt notfalls weniger den Erkenntnisgewinn über das jeweilige »Genre«, sondern eher den Erkenntnisgewinn über literarische Evolutionen, über Bezugssysteme, über intertextuelle Vernetzungen. Solche Blockaden finden sowohl im wissenschaftlichen wie im lebensweltlich-literarischen Diskurs gleichermassen statt. (Exkurs I)

 

Aber treiben wir die Verwirrung noch ein bißchen weiter:
      In Hongkong geht ein besonders übler Mörder um, er richtet seine Opfer schauderhaft zu, verstümmelt sie und reißt sie in Fetzen. Die Mordkommission wird in Gang gesetzt, mit allen Schikanen lege artis. Am Ende wird der Mörder auch gefaßt. Ein klassisches police procedural also, wie die gängige Bezeichnung dieses Typs von Kriminalroman heißt (also eine Unterkategorie des Polizeiromans). Mit einem kleinen feinen Unterschied: Der Mörder hier ist ein waschechter Vampir. Das ist übrigens nicht die Pointe des Romans, weil für den Leser (nicht für die Polizei) von Anfang an klar ist, welche Sorte Unhold da sein dito Wesen treibt. Romane mit Vampiren drin aber, so lautet die Groborientierung, sind fantastische Romane. Ist also notfalls das kriminalliterarische Element der Mörderjagd unbeschadet unter »Fantastik« zu subsumieren, oder ist die »Struktur« police procedural souverän genug, um auch ihre implizite Negation (Polizei jagt nach allem, was wir wissen, höchstens metaphorische Vampire, aber keine echten) zu tragen? Oder mit anderen Worten: Welche »meaning of structure« ist stärker? Die des Genres Kriminalroman oder die des Genres fantastischer Roman? Oder keine von beiden? Oder spielt das überhaupt eine Rolle?
      Und auf welche »meaning of structure« könnte man sich eigentlich mit einiger Erwartung von Explikationskraft beziehen?
      Fein raus bei diesem einen Beispiel ist die Position, die sagt: Das Fantastische ist eine Schreibweise, die sich natürlich auch innerhalb eines police procedurals (oder eines Gedichts oder eines SF-Romans) realisieren läßt und es, ganz im Sinne von Renate Lachmann, auch noch subvertiert, ambiguisiert und am Ende mit dem ludistischen Sinnüberschuß ausstattet, den sie per definitionem für eine Funktion des fantastischen Erzählens hält (6). So weit, so plausibel. Und so theorie-immanent. Denn dagegen könnte man auch folgende Position beziehen: Bei unserem Beispiel wird gar nichts subvertiert oder mit ludistischem Überschuß ausgestattet. Ein police procedural impliziert als »Sub-Genre« die möglichst realistische Darstellung von Polizeiarbeit. Und in der kommen keine Vampire vor. Also ist der fragliche Roman - er heisst übrigens »Temutma« und stammt von dem Hongkong-kanadischen Autoren-Duo Rebecca Bradley & John Stewart Sloan (7) - ein klassischer Horror- oder Vampir-Roman.

 

Treiben wir die Verwirrung noch ein bißchen weiter: Es mag an dieser Stelle leicht irritierend auffallen, dass ich mich auf etwas namens police procedural bezogen und es gar »Sub-Genre« genannt habe, obwohl ich doch bis jetzt von »Genre« als tauglichem Begriff wenig zu halten schien. Ich folge aber mit der Verwendung von »Sub-Genre« lediglich einer Redekonvention, die abseits einer irgendwie elaborierten Gattungstheorie Romane mit dem beschriebenen Thema (».... handelt von Polizeiarbeit...«) zusammenfasst. Police procedural sagt noch nichts über die literarische Struktur aus: Ein police procedural kann monoperspektivisch erzählt sein oder polyphon, es kann linear erzählt sein oder auch nicht, es kann nicht-narrative Elemente enthalten, es kann als Montage daherkommen, whatever. »Temutma« ist also strukturell gesehen ein police procedural. Und damit hat der Roman keine schärfer konturierte »meaning of structure« als paradoxerweise die, die sich möglicherweise aus dem Vorhandensein eines Vampirs im Text ergibt. Denn wenn »Fantastik« wirklich eine Schreibweise sein sollte, die sich zum Beispiel und unter anderem über die Figur »Vampir« als Indikator definiert, dann spendet vielleicht dieser eine Vampir diesem einen police procedural ein ludistisches Surplus. Den klassischen Vampir-Roman aber erfüllt er lediglich voll und ganz. Und nicht mehr und nicht unbedingt ludistisch - und fällt damit als Genre-Merkmal wegen Insignifikanz aus.

 

Lassen wir mal dieses Knäuel aus verwirrenden Umständen ein wenig ruhen und kommen noch einmal auf das Fehlen von normativen Werken zurück - wobei die Rede von normativen Werken eher auf ein enges, historisch begrenztes Gattungs- resp. Genre-Konzept angewiesen ist. Und selbst dann erweist sich der Begriff »Genre« ironischerweise als viel zu grobmaschig, um zum Beispiel literarische Reihen auf ihm aufbauen zu können. Dazu müssten wir noch eine Ebene tiefer, auf die der »Sub-Genres«. Wir können z.B. die literarische Reihe der Vampir-Romane seit Bram Stoker bauen und Abweichungen, Modifikationen, Varianten beschreiben - haben dann aber das Problem, Bram Stoker weniger als »normativen« Vampir-Roman zu begründen, denn als »prototypischen«. Wir können auch das Werk von Agatha Christie als normativ für den kriminalliterarischen Typus des »Whodunnit« setzen und dann diachron die Veränderungen dieses Typs registrieren. Dabei gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, daß wir für das Genre »Kriminalroman« gar nichts gewonnen haben, denn recht bald und zu Hochzeiten von Frau Christie traten Autoren wie Dashiell Hammett auf den Plan, die mit dem »Whodunnit« wenig oder überhaupt nichts mehr zu tun hatten - und noch nicht einmal auf eine etwaige »Norm« Agatha Christie reagiert haben. Eine solche Unterstellung ist erst ein späterer Rezeptionsbefund von Raymond Chandler, der damit die Rolle von Dashiell Hammett innerhalb der Kriminalliteratur begründen wollte. »Prototypisch« wurde Agatha Christie erst, nachdem sie scheinbar literarhistorisch abgesichert war - und dies wurde sie vornehmlich aus Gründen der Persistenz.
      Oder: Zwischen Villiers de L´Isle-Adams Eve Future und E.T.A. Hoffmanns Die Automate gibt es zwar eine inhaltlich-motivische Verbindung, aber keine text-strukturelle. Und wenn wir eine solche motivische Kette dann mit Mühen und Knarzen doch konstruieren möchten, dann haben wir für das fantastische Sub-Genre »Automaten-Texte« vielleicht die eine oder andere Einsicht gewonnen, aber nicht für ein Genre namens Fantastik.
      Auch das könnte man an Dutzenden anderer Beispielen demonstrieren.

 

Ich will aber darauf hinaus, dass es durchaus möglich ist, Textgruppen auf einem gewissen Level zu konstruieren: Dann und nur dann nämlich, wenn man sich darüber klar ist, dass diese Gruppierungen ausschließlich auf der Handlungs- resp. Plot- resp. Figurenkonstellationsebene funktionieren (abgesehen davon, dass einige Evidenzen nicht zur Disposition stehen: Es muss sich um narrative Texte handeln, die ihrerseits begründet sein müssen im vormodernem Konsens über die Erzählbarkeit der Welt und dem daraus abgeleiteten Realismus-Verständnis). Über die ästhetische Organisation solcher Elemente im Text sagen uns diese solchermassen konstruierten Texgruppen gar nichts; noch nicht einmal zwingend darüber, was in diesen Texten weiterhin erfüllt oder nicht erfüllt sein muß. Solche Textgruppen geben auch keinen einzigen brauchbaren Hinweis auf die literarischen und ausserliterarischen Funktionen der einzelnen Texte. Solche Sortierungen dienen zu nicht mehr als einer schnellen Verständigung. Dazu allerdings taugen sie; sie sind aber von jeder theoretischen, interpretativen, wertenden oder analytischen Anschlußhandlung fernzuhalten.
      Und eine irgendwie verbindliche »meaning of structure«, die dann erfüllt oder nicht erfüllt sein kann, darf man auch nicht reklamieren. Ein sehr, sehr bescheidenes und karges Konzept also.

 

Das alles gilt, wie gesagt, nur für »Sub-Genres« als Redekonvention. Und wir kommen damit zum nächsten Problem. Wenn ich oben gesagt habe, dass die literaturwissenschaftliche und die lebensweltliche Rede von »Genre« zu unterscheiden sind, heisst das nicht, dass ich damit zufrieden bin. Es gibt schließlich die wissenschaftstheoretisch sehr sinnvolle Forderung, Terminologien nicht allzu weit entfernt von der Umgangssprache anzusiedeln - es sei denn, die scientific community möchte sich in die Kommunikationslosigkeit mit dem Rest der Welt begeben. .
      Was aber tun bei unserem Thema, wo nicht einmal die Wissenschaft akzeptierte und, schlimmer, operable Kriterien für »Genre« hat - und die Umgangssprache lediglich überholte, petrifizierte und unklare Vorstellungen?.
      Im Fall »Fantastik« versagt die Umgangssprache eklatant - da greift man zu womöglich noch kleinteiligeren und noch unbestimmteren Vokabeln: »Horror-Roman« (fast alles ohne Vampir, aber mit anderem Viehzeug), »Vampir-Roman«, »Science Fiction« (alles mit Weltall und Zukunft), »Social Fiction« (alles mit Zukunft, aber ohne Weltall) usw. usw..
      Im Fall »Krimi« ist die Umgangssprache sogar richtig störrisch: Alles, was nicht ins Agatha-Christie-Muster paßt, ist nicht Krimi, sondern Thriller, noir oder schlimmer tertiär und quartär: Psycho-Thriller, Frauenkrimi. Katzenkrimi, Regionalkrimi. .
      Und was dann immer noch nicht hineinpasst, ist vor allem in der Breitenrezeption schlimmstenfalls ein schlechter Krimi oder kein »richtiger« Krimi. Zum Beispiel die von Chester Himes, weil sie nicht so sind wie die von Agatha Christie. Gegen diese Trägheit eines Pseudo-Begriffs ist kaum anzuargumentieren. Genausowenig, wie ein brauchbarer aktueller Begriff von Fantastik herbeizuargumentieren sein wird.

 

Als ich 1987 selbst über die Fantastik nachgedacht habe, habe ich mich zu einem engen Begriff entschlossen und gesagt: Um genügend Kriterien für eine Genre-Definition zusammen zu bekommen, muß ich Ausgliederungen vornehmen. Ich mußte die Voraussetzungen klären (»...basiert auf einem bestimmten Realismus-Verständnis«) und habe dann ein literaturgeschichtliches Zeitfenster benannt, innerhalb dessen diese eng definierte Fantastik stattfinden konnte (8). Mit dem Aufkommen moderner und postmoderner Verfahren (und deren begründenden Philosophien) erlosch diese literarische Option - auch wenn noch eine Menge Texte nach diesem Muster (realistisches Text- und Weltbild, »hésitation« als Hauptmerkmal etc. etc.) produziert werden. Die Engführung, würde ich heute sagen, war zwar theoretisch nicht ganz unsinnig und hat einige Vorteile - aber der Begriff taugt nur noch zu literaturhistorischen Exerzitien. Mit anderen Worten: Ich muß zu viele Texte von heute aus dem Begriff ausgliedern. (Exkurs II)
      Bei »Krimi« liegt die Sache ähnlich, wenn auch apart verdreht: Da hat sich ein sehr limitierter und zeitlich gebundener Begriff gehalten, und entfaltet eine quasi-normative begriffliche Macht, die sich praktisch auf Nichts gründet, bzw. reine Begriffsnostalgie ist.
      Was ein Krimi ist, weiß angeblich jeder (außer mir). Ob allerdings ein Buch ein Krimi ist oder nicht, entscheidet wesentlich auch das, was auf dem Umschlag steht. Wenn ich den Begriff ernstnehme, muß ich neunzig Prozent der Produktion ausgliedern. Paradoxerweise wird der Begriff dabei nicht beschädigt.
      Es ist klar: Die Lage ist absurd. Auf dem Gebiet der Fantastik ist man immerhin noch gerne bereit, Texte von Kafka, Apuleius und Stephen King unter einem Begriff zu subsumieren. Auch wenn der dann gleichermassen leer ist.

 

Wie kommen wir raus aus diesen Dilemmata? Begriffshygiene wäre nett, ist aber nicht durchzusetzen und wird ab einem gewissen Zeitpunkt inoperabel.
      Begriffsanarchie wäre, auf der anderen Seite, nicht wünschenswert. Das Operieren mit allzu großzügigen Kategorien ohne Rückkoppelung an Texte, führt zwar eventuell zu brillanten Exkursionen,aber die müßten sich aber letztendlich auf die Sprecherautorität berufen, um verhandelbar zu sein. Und das geht aus evidenten, sogar aus demokratischen Gründen nicht.
      Meine Hauptsorge ist also: Die Bezeichnung »Genre« sagt hier und heute über die Struktur von Texten vermutlich gar nichts. Sie sagt noch nicht einmal etwas Objektivierbares über ihre jeweilige Stellung auf dem »literarischen Feld« (9). Oder nur sehr wenig: »Genre« ist vermutlich ein prä-modernes Konzept. In dieser opaken Hülle sind allerdings mittlerweile sämtliche literarischen Verfahren festzustellen.

 

Bleibt höchstens, die Welt der Begriffe aus ihrem theoretischen »Contre Sainte Beuve« herauszuholen und explizit und dynamisch literaturexterne Faktoren in die Theoriebildung mit hineinzuholen. Ich sehe durchaus die Gefahr, eine gewisse Soziologisierung zu betreiben, wenn ich den Aufruf wage: Literatur-externe Faktoren müssen vermutlich wesentlich hinzugezogen werden zum Beschreibungsinventar von Texten. Für die Interpretation haben sie schon immer klammheimlich eine große Rolle gespielt, womöglich eine bedeutendere, als die literaturinternen je.
      Denn welcher Text zu welchem Genre gehört oder nicht, das obliegt Steuerungsmechanismen, die nur sehr vermittelt auf den Text selbst bezogen sind. Das aber ist nicht nur ein Akt (post-)productionis, sondern gehört zu den Existenzbedingungen von Texten, ohne die sie gar nicht entstehen bzw. nicht öffentlich werden könnten.
      Dazu kommt übrigens noch, dass auch »Non-Genre« so gesehen ein eigenes Genre bildet: Roman, Erzählung etc., weil die Inhaltsparaphrase ohne ein Set von Standard-Situationen auskommen muß - bzw. diese Standardsituationen noch grobmaschiger sind als bei »Genre«: »Mann liebt Frau« - bzw. gar nicht mehr funktioniert. Finnegans Wake läßt sich nicht "nacherzählen".
      Aber auch das »Non-Genre« ist keineswegs unabhängig von seinen ökonomischen Bedingungen, die ebenfalls in die Machart einfliessen (Exkurs III).

 

Die Diskussion über, die Zuordnung zu oder die Ausklammerung von einzelnen Texten aus Genres werden zunehmend intuitiv und vorbegrifflich. Definitionsmacht hängt ab vom öffentlichen Ort der Definition resp. vom Status des Sprechers in seiner community. (Exkurs IV) Die Diskurse überlappen sich kaum - das gilt nicht nur für die Bereiche Akademe vs. Nicht-Akademe, sondern auch die Nicht-Akademe differenziert sich in verschiedene Hierarchie-Muster aus. Der gesamte Kontext »Genre« ist zu einem sehr bourdieuschen Spielfeld (10) geworden.
      Mit anderen Worten: Der berühmte Kalauer: »Warum muss Emilia Galotti sterben? - Weil Lessings Stück eine Tragödie ist!« - funktioniert nicht mehr. Alles, was wir immer noch als genre-verbindlich im Hinterkopf haben mögen, stimmt nicht mehr oder hat noch nie gestimmt oder nur für kurze Zeit: Dass am Ende des Krimis der Mörder feststeht, das hat schon E.A. Poe mit seinem mörderischen Gorilla ganz am Anfang der Reihe "Krimi" persifliert. Und Poe gilt als prototypischer Autor des Fantastischen.
      Deswegen zum Schluß nur noch ein Zitat:
      »Beim derzeitigen Stand der Forschung kann von der Theorie nicht mehr erwartet werden, als dass es ihr allmählich gelingt, die relevanten Fragen zu stellen ...« Es stammt aus Klaus W. Hempfers Gattungstheorie (11), die allerdings stammt schon aus dem Jahr 1973.

 

 

 

© Thomas Wörtche, 2004

Druckfassung eines Vortrags,
gehalten bei der Konferenz
Phantastik - Okkultismus - (Neo-) Mystik
an der Palack-Universität in Olmütz
vom 19. - 23. November 2003

 

Exkurs I:
Als, zum Beispiel, Georg Klein mit seinem Roman »Barba Rosa« (Berlin, 2001) Furore machte, war, ganz im Sinne des Autors, oft zu lesen, er habe den Detektivroman meisterhaft dekonstruiert bzw. modifiziert. Tatsächlich hatte Georg Klein, wie er mir auf einer Podiumsdiskussion in Köln (im September 2001) versicherte, einen bestimmten Typus des Detektivromans im Auge gehabt, der allerdings, ohne dass Klein dies bewusst war, genrehistorisch seit ca. 50 Jahren obsolet ist. Dass dieser Typus von eine ganzen Reihe von Autoren zwischen Chester Himes bis zu Jerry Oster oder Jerome Charyn schon längst »genreintern« dekonstruiert, demontiert, nachgerade kompostiert worden war, wussten weder Klein noch seine Exegeten. Hier macht sich die werturteilsbasierte Blockade in beide Richtungen bemerkbar: Produktiv und rezeptiv.
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Exkurs II
Genre, so könnte eine sinnvolle Differenzierung lauten, die Ingeborg Fiala-Fürst in der Diskussion des diesem Text als Grundlage dienenden Vortrags vorgeschlagen hat, hat als genetisches Prinzip in der Geschichte aller Künste immer eine große Rolle gespielt. Das ist richtig. Ein »Küchenstück« in der flämischen Malerei des 17. Jahrhunderts (als Sub-Genre des Genres »Stillleben«) hatte eine bestimmte Intention, und diese Intention präfigurierte auch die Produktion. Eine Qualitätsdiskussion (wie ist es dem Künstler gelungen, das von Genre vorgegebene aptum in ein Bild umzusetzen?) war anhand fester Kriterien ohne weiteres möglich. Der Vorsatz, ein »Küchenstück« zu malen, setzte die Beherrschung der Norm mit allen ihren Implikationen der Auslegbarkeit voraus. Das »Genre« war das Generierungsprinzip, selbst dort, wo die Normen absichtsvoll nicht erfüllt oder durchbrochen wurden. Gleiches gilt für ein »Seestück« innerhalb der Landschaftsmalerei und so weiter.
Vergessen wollen wir aber auch nicht, dass alle kunstgeschichtlichen Genres gemäß der kanonisierten Hierarchie der Gegenstände - die Diskussion hallt weit ins 18. Jahrhundert, bis Burke und Schiller fort - schon a priori das Siegel des minor tragen - dieser Grundverdacht des Pejorativen oder zumindest nicht Superioren hat sich bis heute erstaunlich hartnäckig prolongiert.
Beim Kriminalroman oder in der Fantastik fehlt diese geistesgeschichtliche Rahmung - sie sind sehr späte Formen.
Und sehr früh mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen versehen. Wer im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einen Kriminalroman schreiben wollte, konnte sich keineswegs auf ein verbindliches Set von Regeln für Kriminalromane festlegen, ein aptum war schon jeweils nicht mehr formulierbar. Die genreinterne Qualitätsdiskussion (z.B. Christie vs Hammett) konnte sich nicht auf einen common sense berufen.
Wer im 21. Jahrhundert unternimmt, einen Krimalroman zu schreiben, kann dies mit beliebigen literarischen Verfahren und Mitteln tun, die kaum noch per se irgendwelche Signifikanzen haben - er kann bedenkliche ordnungspolitische Positionen orchestrieren, aber genau so subversive. Eine irgendwie geartete Normativität der Form ist nicht mehr beschreibbar.
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Exkurs III:
Fast alle Genre-Literatur ist nicht-subventionierte Literatur. Sie kann nur in direkter Interaktion mit dem Markt existieren. Dieser Umstand beeinfluß ihre Strukturen.
Grosse Teile der »Non-Genre«-Literatur werden durch Stipendien, Alimentationen, Preisverteilungssysteme etc. subventioniert. Deswegen zielt ihre Interaktion vornehmlich auf die Mechanismen des Literaturbetriebs und nicht auf den Markt. Dieser Umstand beeinflußt ihre Strukturen.
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Exkurs IV:
Natürlich gibt es den Unterschied zwischen exzentrischen und kanonischen Themen im Wissenschaftsbetrieb immer noch. Exzentrische Themen wie die Fantastik oder der Kriminalroman sind nur dann forschung- resp. karrierestrategisch toleriert, wenn sie zur Applikation möglichst avancierter Theorieansätze dienen. Gerade hinsichtlich der Genres läßt sich das zeigen: Während der soziologisch dominierten Phase der Literaturwissenschaft in den 1970ern und 1980ern wurden sie gerne Gegenstand lesersoziologischer Untersuchungen, womit die Wertungsfrage a priori schon als entschieden galt. Im Zuge der »postmodernen« Theorieansätze vermischte man gerne high and low, wobei man ironischerweise diese beiden Extrempositionen für quasi naturgesetztlich definiert hielt.
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Anmerkungen:

(1) Thomas Wörtche: Phantastik und Unschlüssigkeit. Zum strukturellen Kriteriums eines Genres. Untersuchungen an Texten von Hanns Heinz Ewers und Gustav Meyrink. Meitingen, 1987 (= Studien zur phantastischen Literatur Bd. 4)
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(2) Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. München, 1972. In der jüngsten Zeit hat den Todorov`schen Ansatz am weitesten fortgeschrieben: Uwe Dürst: Theorie der Phantastischen Literatur. Tübingen & Basel, 2001
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(3) Renate Lachmann: Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt am Main, 2002
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(4) Vgl. z.B. Lachmann, S. 13
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(5) Thomas Wörtche: Artikel »Kriminalroman«. In: Realexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Harald Fricke. Berlin & New York, 2000, Bd. II, S. 342-345
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(6) Lachmann, S. 26
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(7) Rebecca Bradley/John Stewart Sloan: Temutma. Deutsche Ausgabe Zürich, 2000
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(8) Wörtche, 1987, S.242f
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(9) Im Sinne von Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main, 1999
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(10) Im Sinne von Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main, 1982
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(11) Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. München, 1973
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