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Barcelona als halluzinierte Topographie des Wahnsinns

Thomas Wörtche über Andreu Martín

 

Die besten Kriminalautoren sind die, für deren Texte es unerheblich ist, ob sie Kriminalromane sind oder nicht. Solche Autoren beiderlei Geschlechts haben seit George Simenon und Chester Himes dazu beigetragen, die Unterschiede zwischen Literatur und Kriminal-Literatur aufzuheben. Es gibt zwar noch legitimerweise "Krimis" als (manchmal) intelligenten Lesespaß, aber es lohnt sich eher, über "Kriminalromane" zu reden, die jegliche Kategorisierbarkeit verweigern. Bücher dieser merkwürdigen, faszinierenden Art schreibt Andreu Martín aus Barcelona.

Es kann höchstens mit der bekanntlich sehr selektiven Wahrnehmung spanischer Literatur zu tun haben, daß Andreu Martín, wenn es um die innovativen Impulse geht, die in den letzten zwanzig Jahre von der Kriminalliteratur auf andere Formen modernen Erzählens übergesprungen sind, nicht in einem Atemzug mit Jerome Charyn, Jean-Patrick Manchette, Paco Taibo oder Derek Raymond genannt wird.

Im franquistischen Spanien gab es zwar, ähnlich wie in der DDR, "Krimis"; belanglose, dumme Dinger (mit sehr wenigen Ausnahmen), die des Caudillos verlogenen Grundsatz nachbeteten, daß es "Verbrechen" im Heiligen Spanien nicht gibt. Aber anders als in der DDR, nach deren Auflösung es keinen nennenswerten Push für Kriminalliteratur gab, lagen die Konzepte für eine postfranquistische Novela Negra, deren Bezeichnung schon auf die Série Noir als Programm verweist, schon in den Schubladen. »Tatuaje« von Vázquez Montalbán war, ein Jahr vor Francos Tod, der Vorreiter, sein Roman »La soledad del manager« 1977 eine Art Gründungsdokument der Novela Negra. Ab da lief ein beachtlicher Teil der Auseinandersetzungen um alte und neue Zustände des Landes über Kriminalliteratur. Andreu Martín, 1949 geboren und gelernter Psychologe, hatte als Redakteur bei verschiedenen Magazinen überwintert, Kurzgeschichten, Rezensionen, Reportagen, Comics und Fotoromane geschrieben, aus dem Französischen übersetzt und dabei das Handwerk des Schreibens gelernt. Es war also nur logisch, daß seine ersten beiden "Kriminalromane" (»Aprende y calla« und »El señor Capone no está en casa« 1979) komische Verarbeitungen des geballten Wissens über die Funktionsstereotype populären Erzählens waren.

1980 schließlich löste er sich von jeglichen Mustern und entwarf eine eigene "ungebunde" Form des Kriminalromans. Mit »Prótesis« erschien das erste Buch einer langen Reihe, in dem er sein Thema gefunden hatte, das er später immer wieder variierte: Die offene und latente Gewalttätigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen, die konstitutiv für alle modernen Staaten ist und die er, jetzt nicht mehr von Zensur behindert, in ihrer ganzen Widerwärtigkeit bloßlegen konnte. Die Tröstungen, die in der klassischen Form des "Krimis" stecken, weil sie am Ende das Licht der Aufklärung wenigstens auf einen Fall zu werfen verspricht, hat Andreu Martín suspendiert bzw. für seine Jugendkrimi-Reihe um den pfiffigen Schüler-Detektiv Flanagan reserviert, die er seit 1987 zusammen mit Jaume Rivera schreibt. In seinen "ernsthaften" Romanen klärt sich gar nichts auf. Die Dinge werden, je gewaltätiger und blutiger sie sind, komplexer und undurchschaubarer. Und umgekehrt. Martíns leicht spöttische, kalt-distanzierte, aber eben deshalb zornige Prosa inszeniert sein Barcelona als Topographie des Wahnsinns, als penibel beschriebene Halluzination ohne Ende und Ausweg. Privates (»Bis dass der Mord euch scheidet«; »Isabels Clou«), der Kunstbetrieb (»Aus Liebe zur Kunst«), der Zusammenhang von Politik und Organisiertem Verbrechen (»Barcelona Connection«), die Neurosen und Veränderungen seiner Stadt (»Don Jesús in der Hölle«; »Hammerschläge«) - die diesen Bereichen jeweils innewohnende Gewalt präpariert Martín heraus und projiziert sie auf sein Publikum zurück.

"Das Hinstarren aufs Unheil hat etwas von Faszination. Damit aber etwas vom geheimen Einverständnis", heißt es in der Dialektik der Aufklärung. Andreu Martíns Romane zwingen uns zu diesem Hinstarren und damit zum Eingeständnis unserer eigenen düsteren Potentiale. Seine Inszenierungen laufen, hat man erst einmal das anscheinend Normale und Banale der Ausgangssituationen akzeptiert (etwa bei »Hammerschläge«: ein Penner gewinnt sehr viel Geld in der Lotterie), dann plötzlich mit grausam-zwingender Folgerichtigkeit ab. In seinem Meisterwerk, einer Art Summa seines bisherigen Schaffens, dessen deutscher Titel »Die Stadt, das Messer und der Tod« irreführende Assoziationen zu Faßbinder auslöst (im Original »El hombre de la navaja«, 1992), problematisiert Martín die verschiedenen Möglichkeiten, dem realen Horror mit literarischem zu begegnen. Am ausgelutschten Sujet "Serialkiller" rekapituliert er die kurze Geschichte der Novela Negra, und ätzt dabei mit Spott, Hohn und Komik den Anspruch von Literatur kaputt, mit Fiktionen gegen die Widerwärtigkeiten der Welt anrennen zu können. Spott und Hohn richten sich auch gegen ihn selbst, und wieder ist das Medium, in dem dieser Akt der Reflexion ästhetisch überzeugend passieren kann, ein "Kriminalroman", bzw. die verstörende Ableitung, die Martín für sich entworfen hat. Überraschend, bei soviel blutig-ernstem und gleichzeitig komischen Vexierspiel, daß Andreu Martín sich gerade mit dem Libretto zu einer Mata-Hari-Oper befaßt?

© Thomas Wörtche, 1996
(Süddeutsche Zeitung)

 

Die Romane von Andreu Martín sind als Hardcover bei Elster, als Taschenbücher im Fischer Taschenbuchverlag erschienen. Die Jugendbücher (mit Jaume Rivera) im Anrich Verlag

 

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