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Von den Opfern bleiben nur Häppchen

Hannibal Lecter hat Schule gemacht - das "Böse" wird zum Faszinosum stilisiert

Von Thomas Wörtche

 

»Du Opfer!« Das ist zur Zeit unter vielen Jugendlichen jeglicher Couleur das schlimmste Schimpfwort. Ich möchte an dieser Stelle den diversen Fachleuten für gesellschaftliche Problemgruppen nicht ins Auslegungshandwerk pfuschen, also nicht darüber spekulieren, ob es sich dabei um einen Ausdruck »moralischer Verwahrlosung«, um kreischende Dummheit oder um einen perversen Reflex auf deutsche Geschichte handelt. Es springt aber ins Auge, dass spätestens mit dem Aufkommen der serial-killer-Welle im Kriminalroman und angeschlossenen Medien, vor allem im Film, die Täter/Opfer-Zuordnung neu sortiert worden ist.

Hannibal Lecter, der prototypische Täter, wird inszeniert als starke, gar charismatische Persönlichkeit, ausgestattet mit diabolischer Intelligenz, mit Bildung und Geschmack. Natürlich ist er »böse«, das aber ist er auf faszinierende Weise. Und dieses Faszinosum übersteigt bei weitem die Qualität, die den berühmten »guten Schurken« ausmacht, den man einer alten Filmemacher-Weisheit zufolge für einen guten Thriller braucht, um den positiven Helden nicht zum moralischen Langweiler werden zu lassen, der lediglich mittelmässige Strolche am Ende aus dem Verkehr zieht.

Lecter hat Schule gemacht und den serial killer salonfähig. Die Erfolgsrezepte von John Sandford, von Jill Hoffman, Karin Slaughter, Mo Hayder (usw.) ticken nach diesem Prinzip. Im klassischen Krimi, der bis Dashiell Hammett vornehmlich ein märchenhaftes, weil realitätsvermeidendes Genre war, musste der Mörder gefunden werden. Der war Funktion und, obwohl mit mehr der weniger sinnvollen Motiven ausgestattet, nicht weiter interessant. Er war die Folie, auf der die Miss Marples und Hercule Poirots glänzen konnten. Selbst Sherlock Holmes' permanenter Widersacher, Dr. Moriarty, war eine mehr oder weniger abstrakte Erscheinung, Norbert Jacques' Dr. Mabuse eine Allegorie in Zeiten des aufkommenden Totalitarismus.

Erst Patricia Highsmith stattete ihren notorisch mörderischen Tom Ripley mit allen Zügen aus, die bis dato dem Helden vorbehalten waren: Mit einem differenzierten Innenleben, Charme und Kultur. Ihn konnte man gerade noch als Schocktherapie gegen ein neurotisches Jahrhundert verstehen. Aber spätestens als der serial killer in Serienproduktion ging - nicht zufällig in Zeiten der new economy - und wahre Leichenberge aus mehr oder weniger anonymen Opfern produzierte, hatte er die Interessenhoheit gewonnen. Mit ihm konnte und kann man sich wohlig schaudernd - man ist ja auf der Gewinnerseite -, identifizieren. Auf jeden Fall mehr als mit den ewigen und finalen Verlierern, den Opfern.

Versteht man den Kriminalroman jedoch als irgendwie realitätsverarbeitende Literatur und betrachtet sich den realen Mehrfachtäter, dann sieht die Sache anders aus: Mehrfachtäter, die in der Kriminalitsstatistik sowieso kein Rolle links vom Komma spielen, sind meistens erbärmlich fahle Wichte, die uns nichts Neues über die »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt) zu sagen haben. Dagegen muß das literarische Monster liebevoll und detailreich geschilderte Scheusaligkeiten begehen, die, je absurder und widerlicher, umso direkter auf die ganz niederen Instinkte des Publikums zielen und die Tranchieranleitung auch noch als besonders »realistisches« Element ausgeben.

Von den Opfern bleiben da nur Häppchen, beraubt jeder Identität, jeder menschlichen Gestalt. Sie sind suspendabel, sie werden entsorgt. Anscheinend einvernehmlich mit dem pp. Publikum, das nach neuen Abenteuern aus Schlachthaus, nach neuen Opfern lechzt. Deswegen traue ich an der Stelle dem Publikumsgeschmack ganz und gar nicht und sehe in Zeiten der Krise eine panikhafte Identifikation mit dem Aggressor. Aggressoren aber mag ich nicht und deswegen auch keine Romane, die unser aller Ängste vor dem Opfer-Sein als kommerzielle Erfolgsformel ausschlachten.

 

© Thomas Wörtche, 2006
Neue Westfälische Zeitung, 24.05.2006

 

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