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Rätsel Ripley oder Ripley, revisited

Von Thomas Wörtche

 

Das Höchste, wozu sich ein schwacher Kopf von Erfahrung erheben kann,
ist die Fertigkeit, die Schwächen besserer Menschen auszufinden
(Georg Christoph Lichtenberg)

 

Tom Ripley ist ein Rätsel. Und bleibt es.
      Die Rätselhaftigkeit der Figur Ripley ist topisch: Der charmante junge Mann aus schlechtem Haus, der sich en passant zu Wohlstand, Haus und Weib mordet, ohne dabei nennenswerte Skrupel zu haben. Sagt der Topos und begründet damit den Ruhm der Figur und seiner Erfinderin, Patricia Highsmith. In fünf Romanen, von »Der talentierte Mr. Ripley« 1955 bis »Ripley Under Water« 1991, begleitet er die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, ohne von dessen Zeitläuften sonderlich tangiert zu werden.

Aber ist die Figur wirklich so rätselhaft? Ripleys erster Mord ist an Plausibilität kaum zu übertreffen: Dickie Greenleaf muss verschwinden, damit Ripley dessen Identität annehmen kann und an Geld kommt. Aus diesem Ur-Mord leiten sich weitere ab: Um seinen neuen Status als reicher Müßiggänger zu sichern, muss Ripley in die Fälschungsgeschichte um dem Maler Derwatt einstiegen und muss den mißtrauischen Mr. Murchinson mit einer Flasche gutem Rotwein erschlagen (»Ripley Under Ground«, 1970), dabei verpflichtet er sich der Hamburger Unterweltsgestalt Reeves Minot, dem er den einen oder anderen Gefallen schuldet, was wiederum zu dem Gemetzel in »Ripleys Game«, 1974, führt. Derwatt und die Folgen, die immer auch noch Folgen der Greenleaf-Affäre sind, bescheren ihm noch 1991 das unangenehme Ehepaar Pritchard, das den Fall Murchinson wieder auszugraben droht (»Ripley Under Water«). Und »Der Junge, der Ripley folgte« (1981) hat ihn sich zum Beichtvater auserkoren, weil er Ripleys Aura des Tödlichen erliegt. Eine klassische Saga in fünf Bänden also, die aus fünf klassischen Kriminalromanen um einen Psychopathen bestehen. Ein man-on-the-run-Muster, mit leichter Drehung. Ripley ist nicht auf der räumlichen Flucht vor seinen Untaten, sondern entzieht sich der Entdeckung von Verdeckungsmord zu Verdeckungsmord.

Als rätselhaft gelten kann dabei Etliches. Warum hilft Ripley, der amerikanische Freund, so begeistert dem leukämiekranken Jonathan Trevanny beim Morden? Schließlich hatte er doch aus Bosheit und um Minot gefällig zu sein, eben diesen Trevanny als Auftragskiller empfohlen. Warum bringt er völlig sinnloserweise einen der stockdummen Entführer des jungen Frank Pierce um, der sich wie eine Klette an Ripley geklebt hatte?

Liegt alles das im Charakter der Figur Ripley? Oder reicht einfach die Erklärung »Psychopath« aus, weil Psychopathen eben deswegen so heissen, weil sie anscheinend grundlos töten? Zweierlei überblendet sich in der Figur: Ripley gehört zu den Leuten, die laut Chandler »mit Gründen morden«, in diesem Fall aus Habgier. Er ist ein lupenreiner Krimineller. Und hin und wieder mordet er aus einem unklaren, selbst klinisch unbegründbaren Antrieb zu töten. Literarisch, also genretypologisch kann man die Ripley-Serie als Amalgam aus Gangster- und Psychopathenroman verstehen.

Man kann aber auch einer Spur folgen, die Patricia Highsmith selbst gelegt hat. Paul Ingendaay zitiert in einem der Nachworte zur Gesamte-Romane-und-Storys-Ausgabe, die der Diogenes Verlag jüngst abgeschlossen hat, eine Tagebuchnotiz von Patricia Highsmith vom 6. April 1955 - »Der talentierte Mr. Ripley« war gerade fertig -:

»Ich habe weder das Gespür für Gut und Böse noch das Wissen darum, und nicht nur habe ich das Gefühl für Gut und Böse verloren, sondern Gut und Böse existieren nicht (und das gefiel mir) und sind lediglich ein Vorurteil; ich kann von allen Vorurteilen frei sein, doch genau in diesem Augenblick, da ich diese Freiheit erlange, werde ich zugrunde gehen.«

Ingendaay plädiert zurecht dafür, mit diesem Zitat vorsichtig umzugehen. Klar, Tagebuchnotizen kann man nicht einfach Eins zu Eins Artefakten wie Romanen zuordnen. Zumal dieses Zitat auch noch in der Nähe zu einem Hinweis auf Dostojewskis »Dämonen« steht - zu einem Autor also, mit dem sich Highsmith immer wieder einläßlich beschäftigt hat. Dennoch, Gut und Böse sind Zentralbegriffe für ihr gesamtes ‘uvre, wie die sträflich unterschätzte Biografie von Andrew Wilson mit unzähligen Beispielen belegt. Die Frage nach Gut und Böse ist auch eine moralische Frage. Einer ihrer wichtigsten künstlerischen Austragungsorte ist der Kriminalroman. Eine »Theologie des Kriminalromans«, wie Paul Ingendaay andeutet, muss man deswegen noch lange nicht aufrufen, weil moralische Fragen erst sekundär ins Gebiet der Theologie fallen. Das sei aber nur deswegen erwähnt, weil Ingendaay vorschlägt, Highsmith habe die »Werteskala der Suspense-Gattung auf den Kopf gestellt« und deswegen die »ðTheologie des KriminalromansÐ zertrümmert am Boden hinterlassen«.

Das ist natürlich, Ingendaay weiss das, eine argumentative Sackgasse. Eine solche »Werteskala« existierte im Genre schon längst nicht mehr. Wenn sie denn je - sehen wir von ordnungspolitisch eher lächerlichen Beschwörungen wie im Werk von Agatha Christie ab - existiert haben sollte: Mit der Aufklärung war auch ein gewisser moralischer Relativismus nicht mehr in die Flasche des »Weltordnungsgedankens« zurückzustopfen. Das 19. Jahrhundert hat damit endgültig aufgeräumt, wobei Baudelaire und Poe zentrale Rollen gespielt haben, die ihrerseits wieder auf das Genre »Kriminalroman« nicht zu unterschätzenden, gar massiven Einfluß hatten. Das 20. Jahrhundert schließlich hat mit seiner Ur-Sünde, dem 1. Weltkrieg, den grausam lebenspraktischen Beweis dafür geliefert, wo »Werteskalen« geendet haben. Dass Highsmith ihre mörderische Hauptfigur davonkommen lässt, das ist allerspätestens seit Hammetts Continental Op kein kühner Schritt mehr. Literarisch gesehen.

Die Tatsache indes, dass der Mörder Ripley »sympathisch« gezeichnet wird, kann ebenfalls kaum sensationell sein. Hannah Arendts »Origins of Totalitarism« war 1951 in New York erschienen und eines der meistdiskutierten Bücher der Zeit, ihre Beobachtungen zur »Banalität des Bösen« später in aller Munde. Wie überhaupt die ganzen Nachwehen des 2. Weltkriegs in den 1950ern überdeutlich belegen konnten, was man im Grunde schon immer geahnt hatte: Die Täter sind ganz normale Menschen, notfalls sogar nett und sympathisch, keinesfalls aber durchweg sabbernde Irre.

Auch die Ausstattung, mit der Highsmith Ripleys Sympathiekonto füllt, ist merkwürdig ambivalent: Er liebt Bilder und Musik, spielt gar Cembalo und kann, nachdem er in »Ripleys Game« gerade zwei eigenhändig getötete Menschen verbrannt hat, dahinparlieren: »Wissen Sie, Bach vergeistigt - sofort. Ein einziger Akkord...«.

Kultur, wir wissen es längst, dämpft kein bisschen. Und sollte Patricia Highsmith diesen Dialog-Teil als höhnische Bestätigung dieser Erkenntnis gemeint und damit Ripley in die Reihe der Hösse und Heydriche gerückt haben - so hätte sie die Figur im dritten Roman mit einer ungeheuren Pointe final demontiert. Aber in Nummer vier und fünf wird weiter Cembalo gespielt und sich an schönen Dingen ergötzt. Und gemordet, in aller Unschuld sozusagen, und somit auch der Boden bereitet für bedeutend gröber geschnitzte Unholde wie Hannibal Lecter, der - interessanterweise - auch mit allen Attributen der Kulturiertheit ausgestattet ist. Wie überhaupt der Serialkiller seit den 1980ern gerne anti-naturalistisch (denn in der Realität ist er meistens ein elender Wicht) als »Künstler« inszeniert ist und damit Teile der Kriminalliteratur erkenntnistheoretisch und ästhetisch nach der Maßgabe eines obsoleten Psychologischen Realismus des späten 19. Jahrhunderts in die zopfigste Genie-Ästhetik eines Klippschul-Nietzscheanismus zurückbombt. Aber das nur nebenbei.

Zurück zu Gut und Böse, zu Ripley und der Moral. Ebenfalls 1959, am 14. November, notiert Highsmith im Tagebuch: »Wir müssen bezweifeln, dass es einen Lohn der Tugend gibt...«. Wir befinden uns in den USA von Eisenhower, der McCarthyismus steckt den Menschen noch in den Knochen, Bigotterie, Hysterie allenthalben. In dieser Zeit ist die 1921 geborene Patricia Highsmith aufgewachsen, in dieser Zeit hat sie ihre Prägungen erfahren. Mit allen Problemen, die eine lesbische Frau im WASP-Amerika hatte, einschließlich eines »Therapie«-Versuchs, um diese vermeintliche »A-Normalität« loszuwerden. »Es stimmt, ich verstehe verdrehte, verrückte, abartige Menschen. Normale Menschen verstehe ich nicht. Hausfrauen. Vielleicht, weil ich selbst nicht ganz normal bin!«, gab sie, vermutlich leicht kokettierend, 1968 in einem Interview preis. Und sie hatte alle biographischen Gründe für sich, gegen den zunehmend massenmedial flankierten »moralischen Mainstream« zu pöbeln und zu polemisieren. Sie war evidentermassen traumatisiert. Ihre Hemmungen sind beredt, den 1952 erschienenen Roman einer lesbischen Liebe mit Happy-End, »Carol«, unter ihrem eigenen Namen statt unter dem Pseudonym Claire Morgan erscheinen zu lassen. Erst 1990 stimmt sie einer Veröffentlichung unter Klarnamen zu. Ironischerweise dürfte »Carol« von allen ihren Bücher das mit der höchsten Auflage gewesen sein, schon in den 1950ern übrigens, und nicht erst in den Boomjahren der Frauenbewegung seit den späten 1960ern. Noch 1983 stellte Barbara Grier, die Chefin von Naiad Press, lapidar fest: »Sie litt unter internalisierter Homophobie«.

Bedenkt man zudem, dass zu McCarthys Zeiten Schwule und Lesben explizit als »Sicherheitsrisiko« für das moralisch saubere Amerika galten und folglich potentiell des Verbrechens geziehen wurden, wird der Kurzschluss von der Aussenseiterin zum »Verbrecher« plausibel. In dem oben unterbrochenen Zitat aus dem Jahr 1968 heisst es nämlich weiter: »Ich habe selbst einen Hang zum Kriminellen. Ich habe eine klammheimliche Sympathie für Missetäter, und ich weiss, dass das abscheulich von mir ist.«

So gesehen entscheiden die Kontexte einmal mehr über die Valenz von Kategorien. Wenn Patricia Highsmith von Moral und Amoral, von Gut und Böse redet, schimmert das Konkrete überdeutlich hervor: Die psychopolitischen Zustände in den USA der 1940er und 1950er Jahre.

Fast wie eine Ironie des Schicksals mutet in diesem Zusammenhang ein Zusammentreffen im Jahr 1948 an: Die mit ihrer sexuellen Identität verzweifelt ringende weisse Texanerin Patricia Highsmith, die in Greenwich Village hockte und von Truman Capote gefördert wurde, wird Stipendiatin der Yaddo-Stiftung in Upstate New York und wohnt für einige Zeit in der dortigen Künstlerkolonie. Im Zimmer gegenüber: Chester Himes, der schwarze, bisexuelle, kriminell gewordene Bürgersohn aus Jefferson City, Missouri, konstitutioneller Aussenseiter wie Highsmith, mit ebenso problematischer Position zu anderen »Minderheiten«, notfalls internalisiert homophob, antisemitisch wie Highsmith (die zudem noch blank rassistische Ansichten von sich gibt) und sexistisch. Beide wichtige Entgrenzer von Kriminalliteratur, beide zur Solidarität unter Aussenseitern klassischerweise (according to Hans Mayer) nicht fähig und beide, zu dieser Zeit jedenfalls, im Dauersuff. Aber auch das nur nebenbei.

Aussenseitertum und Verbrechen gehen bei Highsmith in diesem ganz konkreten Kontext zusammen. Alle ihre Ripley-Romane (und fast alle ihrer anderen auch, besonders der Erstling »Zwei Fremde im Zug«, 1954) haben, das ist oft kommentiert worden, sehr deutliche homoerotische Subtexte: Ripley und Dickie Greenleaf - deutlicher geht's nicht. Ripley und Frank Pierson - die selbe Geschichte, sogar im Fummel; Ripley und Jonathan Trevanny - was sonst? Ripley und der Fälscher Bernard Tuft in »Ripley Under Ground« - emotionaler, aber deutlich; Ripley und das S/M-Pärchen Pritchard - klar! Das, was Patricia Highsmith in ihren prägenden Jahren erfahren und erleiden musste, setzte sie in Literatur um, in Kriminalliteratur. Was von einer gewissenlosen, tendenziell existenzvernichtenden Gesellschaft als schwerster Angriff auf die »Moral« aufgerufen wurde, konterte sie mit einem Tabu-Bruch: Mord ist - damit verglichen und aus dieser Perspektive - das geringere Übel. So sitzen die Ripley-Romane ganz fest und tief im zeitgeschichtlichen Bezug. Sogar hochplausibel.
      Und damit beginnt das wirkliche Rätsel um Tom Ripley.

Ripley ist in einem gewissen Sinn eine statische Figur. Nachdem er in dem kleinen Boot vor Genua Dickie Greenleaf mit dem Ruder erschlagen und erfolgreich versenkt hat, hat er sozusagen den Höhepunkt in der Dynamik seiner Charakterzeichnung erreicht. Alle weiteren Morde sind mehr oder weniger scharf akzentuierte Ableitungen, Konsequenzen, Folgen, selbst da noch, wo er am Morden Freude verspürt - in »Ripleys Game« und »Der Junge, der Ripley folgte« etwa. Die Wechselbeziehung zwischen verdrängter Homoerotik und Mord, wurzelt, wir haben es gesehen, in einem spezifischen Kontext. Kontexte aber ändern sich, bedenkt man die über dreißig Jahre, in denen Ripley (als literarische Figur legitimerweise nur milde alternd) tätig ist. Die Figur Ripley dagegen ändert sich nicht.

Ebenso diffus bleibt ihr »Sitz im Leben«. Schon gleich im ersten Band funktioniert die Figur nur, weil sie in einer Art lebensweltlichem Vakuum agiert. Kein Polizist der Welt ist so blöde wie der Tenente Roverini, keine Rivalin um eines Mannes Gunst wie Dickie Greenleafs Seelenfreundin Marge Sherwood, die Ripley eifersüchtig hasst, ist so brotdumm, wie Higshsmith uns glauben machen will, keine Bank so vertrottelt, dass Ripleys Fälschungen je durchgegangen wären. Mundus vult decipi, da hat Patricia Highsmith schon recht, aber das Unbehagen bleibt: Ripley ist der ideale Verbrecher (und keineswegs der »kompetente Kriminelle«, wie ihn Eric Ambler in seinen Romanen geschildert hat), aber als Gegenspieler einer so nicht-existierenden Welt.

Besonders kraß tritt das Problem in »Ripley´s Game« auf: Dort beschliessen irgendwelche Hamburger Lokalgrössen der mehr oder weniger kriminellen Sorte, »die Mafia« aus dem Spielhöllengeschäft herauszuhalten, die gerade, wir schreiben die 1970er Jahre, dort versucht Fuß zu fassen. Das ist schon kreuzkomisch genug. Um das zu bewerkstelligen, lässt man über Reeves Minot (Hehlerei, Spionage und weitere diffuse Geschäftsbereiche) einen blutigen Amateur als Killer anheuern. Der soll unter irgendwelchen Mafia-Familien mit Stammsitz in Mailand Zwietracht säen, indem er mal einen von denen, mal einen von den anderen umbringt. Und als diese putzige Mafia dann zurückschlägt, überlebt Minot einen »Bombenanschlag« samt peinlicher Befragung. Mindestens vier bis sechs Profikiller werden nicht mit Ripley und dem schüchternen, todkranken Bilderrahmer Trevanny fertig, sondern lassen sich lammfromm erwürgen oder mit einem Hammer totschlagen. Hurz! würde H.P. Kerkeling sagen.

Wie sich Patricia Highsmith La Mafia so vorstellt, kommt in einer autoreflexiven Passage zum Vorschein:

»Tom haßte die Mafia. Er haßte ihre Drohungen und Erpressungen, ihre Kirchenfrömmigkeit, die Feigheit, mit der sie die Drecksarbeit stets von den kleinen Leuten ausführen ließen, so daß das Gesetz die Großen niemals fassen konnte, weil ihnen nie etwas anderes als Steuerhinterziehung oder ähnlicher Kleinkram nachzuweisen war. Verglichen mit der Mafia kam sich Tom geradezu hochmoralisch vor. Bei diesem Gedanken mußte er laut auflachen.«

Vielleicht musste er aber auch deswegen so lachen, weil eine solche Vorstellung von Mafia schon 1930 niedlich gewesen wäre, 1970 aber nur noch abstrus war. Die Stelle sagt uns nichts Neues über Ripley: Mafia = Gesellschaft (»die Großen lässt man laufen« ist ein eiserner Topos der Gesellschaftskritik, keine irgendwie spezifische Mafia-Kritik), und letztere begeht schlimmere Verbrechen. Sie sagt aber viel über Patricia Highsmith: Mit irgendeiner Wirklichkeit nach und jenseits McCarthy haben ihre Romane nichts zu tun, auch wenn sie in den 1960ern, 1970ern oder 1990ern spielen.

Es geht nicht darum, Highsmith bei Verstössen gegen ein eh problematisches Gebot about circumstantial realism ertappt zu haben - alle ihre Romane sind wahre Goldminen für derlei -, sondern um deren Signifikanz und Implikationen. »Die Kunst ist dadurch Kunst, dass sie die Wirklichkeit zu ihrem Moment macht: wäre in der Kunst alles Wirklichkeit, wäre sie eben Wirklichkeit und keine Kunst; und wäre in der Kunst gar nichts Wirklichkeit, wäre sie aber gar nichts, und dann eben auch keine Kunst«, heisst es bei Odo Marquard. Bei Highsmith, so scheint es, ist die sehr reale Erfahrung ihrer Prägejahre das »Moment der Kunst« - und Ripley ihre aggressive Fleischwerdung.

Weil aber die Wirklichkeit dieser Prägejahre historisch begrenzt ist, läßt sie sich nicht beliebig verlängern. Die Sensibilität für neue Erfahrungen aber bleibt aussen vor - auch wenn Highsmith hin und wieder empört und manchmal sehr dumm auf Probleme der Zeitgeschichte reagierte. Natürlich war sie »gegen« amerikanischen Imperialismus, gegen Reagan, gegen Bush sen. (aber für Maggie Thatcher), gegen Israel und gegen Schwarze an amerikanischen Unis. Solche irgendwie zeitgeistigen Gefühligkeiten kennt man von Schrifststellern aller Couleur und Ausrichtungen. Niemand, ausser dem Feuilleton, nimmt so etwas ernst. Als Belege für irgendeine Realitätstüchtigkeit taugen sie nichts.

Die Journalistin Bettina Berch, die Patricia Highsmith 1983 interviewte, machte eine kleine, banale, aber eminent wichtige Beobachtung:

»Es war, als hätte sie im stillen Kämmerlein entschieden, was es mit der Frauenbewegung auf sich hat, und das war symptomatisch für die in sich geschlossene, selbst geschaffene Welt, in der sie lebte. Ich erinnere mich, dass ich ungefähr eine Stunde damit verbrachte, ihr zu erklären, wie ein Geldautomat funktioniert... Ich glaube, das letzte Mal, dass sie wirklich in der Welt gelebt hat, waren die fünfziger Jahre.«

Wenn also Highsmiths Grundkonflikt ein Konflikt der 1950er war, sie ihn aber über fast vierzig Jahre künstlerisch fortgeschrieben hat, dann löst er sich - notwendigerweise - von seiner Wirklichkeit, die dann auch irgendwann aufhört, »Moment von Kunst« zu sein. Schlimmer noch, Texte, die nach einem solchen Generierungsprinzip entstehen, rücken zumindest potentiell in die Nähe von Ideologie-Produktion. Denn ideologisches Denken, so Hannah Arendt, entsteht dort, wo »es unabhängig von aller Erfahrung (wird), die ihm selbst dann nichts Neues mitteilen kann, wenn das Mitzuteilende soeben erst entstanden ist. Es emanzipiert sich also von der Wirklichkeit (...) und besteht ihr gegenüber auf einer ðeigentlicherenÐ Realität.«

Die freundliche Rezeption des ersten Ripley-Romanes (Special Award der Mystery Writers of America, vulgo »Edgar«; Grand Prix de Littérature Policière) wich einer gewissen Ratlosigkeit. Selbst in Peter Handkes vielzitierter Eloge aus dem Jahr 1975, sozusagen der Ritterschlag unter deutschen Intellektuellen, kommen die Ripley-Romane ungünstig weg. Handke nennt sie schlichtweg »wohl ihre schlechtesten« Bücher.

Dennoch ist man sich einig, dass die Ripley-Romane zu den Meilensteinen der Kriminalliteratur gehören. Oder?
      Patricia Highsmiths eigenes Selbstverständnis ist da ein wenig zwiespältig. Sie präsentierte sich immer als Schriftstellerin, die »unterhalten« möchte, die expressis verbis »für den Markt« schreibt. Das besagt bei einer amerikanischen Autorin wenig, denn die meisten amerikanischen Autoren und Autorinnen haben sehr pragmatische Züge. Der Markt ist keine a priori als feindlich empfundene Grösse. Einen deutlicheren Hinweis gibt da schon ihr Bändchen »Suspense oder wie man einen Thriller schreibt« (eine eigenständige Veröffentlichung aus dem Jahr 1966), in dem sie über plotting and writing suspense fiction nachdenkt. Nicht dass man aus diesem Text allgemeingültige Regeln herleiten könnte oder sollte, sympathischerweise. Interessant ist aber, dass sie sich von allerlei Thrillern abgrenzt, in denen man »keine profunden Gedankengänge, keine langen Absätze ohne Action« erwarte. Das hat mit dem tatsächlichen Status quo der Kriminalliteratur in den 1960ern wenig zu tun. Es zementiert aber das uralte, immer noch herumgeisternde Vorurteil, profunde Gedankengänge und längere Passagen ohne Action seien per se Ausweis irgendeiner überlegenen Qualität. Und impliziert zudem, dass sie, Patricia Highsmith dennoch Thriller schreibe, wenn auch solche der anderen Art. Allmählich schlich sich auch der Begriff »Psycho-Thriller« ein, unter den man getrost ihre Bücher subsumieren konnte. Auch die von Margaret Millar, von Cuy Collingford, als deren vornehmste Vertreterin aber fürderhin Patricia Highsmith gehandelt wurde.

Übrigens haben wir gerade heutzutage die Tendenz, das Marketing Label »Psychothriller« für solche Werke zu benutzen, in denen sich irgendwelche Kriminalpsychologen, Profiler und ähnliche Berufsgruppen tummeln. Aber nur, weil sie irre Serialkiller fangen müssen, die deutlich als Leute mit Macke dargestellt werden. »Psycho« hört sich, da weht Patricia Highsmith nach, halt immer noch feiner an als Irrer-mit-exquisiter-Foltermethode-und-schlimmen-Kindheitstrauma-Thriller. Aber auch das nur nebenbei.

Psychothriller, im Highsmith'schen Sinne, waren dann eben wegen der Abwesenheit von allzuviel Action und der vermeintlichen Anwesenheit von profunden Gedanken die gepflegtere Spielart von Thriller oder Krimi oder wie auch immer. Sie hatten zudem den Vorteil, sich mit seelischen Dispositionen zu beschäftigen, vornehmlich mit denen von Tätern. Mit Opfern möchte man sich, vermutlich einem alten Sebtschutzreflex folgend, nicht so unterhaltsam einlassen, sie sind die de-facto-Loser der erfolgsfixierten Wohlstandsgesellschaften; und sind nicht Täter auch immer Opfer?

Diese seelischen Dispositionen haben, ich habe es gerade am Beispiel Highsmith versucht zu zeigen, mit den äusseren Realitäten nur noch wenig zu tun. Sie sind der conditio humana zuzuschlagen und insofern eher pragmatischen Sujets (Steuervermeidung, ubiquitäre Kriminalität etc.) überlegen. Die Chancen, dass ein Psycho-Thriller zur Literatur ernannt wird, sind höher als die eines Romans über Wahlkampfmanipulation. Die Qualität der Prosa ist bei diesem Echo der Kanon-Diskussion des 17. und 18.Jahrhundert völlig egal - so wie eine fade Arbeit über Goethe immer höher eingeschätzt werden wird als eine brillante über space operas.

Genau auf dieser seltsamen, meist unthematisierten Hierarchie-Ebene siedelt Patricia Highsmith. Die Ripley-Romane sind als Kriminalromane eher mittelmässig bis schlecht, sie sind aber deutlich welche und sonst gar nichts. Das wiederum dürfte auch der Grund sein, warum Filmemacher von René Clement bis zu Wim Wenders und Anthony Minghella immer wieder Ripley-Stoffe benutzt haben. Gute Filme basieren selten auf guten Büchern, weil die wegen ihrer literarischen Eigenständigkeit, ihrer spezifisch literarischen Organisation für Verfilmungen viel zu unpraktisch sind. Aber es funktioniert im Fall der Ripley-Romane der Persistenz-Faktor: Wenn soviele erlauchte Filmgeister sich an Ripley-Stoffen bedienen, dann müssen diese Stoffe per se vorzüglich sein. Und deswegen auch die Romane. Das ist das wirkliche Ripley-Rätsel.

Wie kann eine Serie von Romanen, über die die Geschichte längst hinweggegangen ist und die nur ermüdend ein Thema immer wieder aufnimmt, zum Mythos geraten? Ist der historisch bedingte Tom Ripley zu einer Art Jedermann des 20. Jahrhunderts geworden? Ohne realen Unterboden?

Sicher in der Inszenierung und der Intention von Patricia Highsmith. Sicher auch in den handfesten Interessen ihres weltrechtehaltenden Verlags Diogenes. Denn die große, schöne Ausgabe hat eine klare Strategie, die kritische Töne ausschließt (deswegen ist Andrew Wilsons Biographie wohl auch nicht bei Diogenes erschienen, sie ist keine Hagiographie). Die Strategie ist, Patricia Highsmith vom Image der Kriminal- oder Thrillerautorin zu befreien und zur »seriösen«, zentralen Schriftstellerin der Gegenwart zu machen. Eine solche Strategie darf gar nicht darauf setzen, dass Patricia Highsmith eine bedeutende Kriminalschriftstellerin und eben genau deswegen eine zentrale Schriftstellerin des Jahrhunderts war. Das ist, die begeisterte Aufnahme des Projekts belegt es, blendend gelungen. Dass die meisten Hymnen von Rezensenten kamen, die der Diogenes-Taktik freudig gefolgt sind, weil sie mit der Geschichte der Kriminalliteratur und den daran gerade besonders gut anschließbaren Kontextfragen so überhaupt nicht vertraut sind, kann diese faktische Rezeption nicht bremsen.

Man könnte, wie der amerikanische Fachmann Otto Penzler, Verleger von Mysterious Press, mit guten Gründen Patricia Highsmith für eine der genialsten Autorinnen von Kurzgeschichten über Gewalt, Verbrechen, Wahnsinn, Chaos, Mord und Totschlag halten. Man könnte Romane wie »Das Zittern des Fälschers«, 1969, oder »Ediths Tagebuch«, 1978 als grandiose Kriminalromane ohne formale Korsettage verstehen. Man sollte es sogar tun - aber dann müssten sich ihre Werke an den eminentesten Produkten anderer Genre-Autoren messen lassen. Und da waren Leute wie Chester Himes, Ross Thomas, Jean-Patrick Manchette ... (und Dutzende weitere Namen) schon längst weiter. Das schmälert das Werk von Patricia Highsmith nicht, es relativiert es lediglich.

Wegen alledem werden mir die Ripley-Romane immer sehr rätselhaft bleiben.

© Thomas Wörtche, 2006
(Krimijahrbuch, 2006)

 

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