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Rekonstruktion fremden Lebens

Nach sechs Jahren Pause kehrt Friedrich Anis Figur Tabor Süden zurück auf die literarische Bühne. In den Süden-Romanen geht nicht um die vordergründige Aufklärung eines Verbrechens, sondern um die Suche nach Verschwundenen oder Vermissten. Als Tabor Süden, der sich die letzten Jahre als Kellner in Kölln verdingte, einen telefonischen Hinweis auf den Verbleib seines vermissten Vaters bekommt, zieht es in zurück nach München, und folgt den verlorenen Spuren.

Von Thomas Wörtche

 

Süden

Mit den Romanen um Tabor Süden, Hauptkommissar im Münchner Vermisstendezernat, hat Friedrich Ani im letzten Jahrzehnt die deutsche Kriminalliteratur um den Beweis bereichert, dass "Krimis" nicht unbedingt Mord & Aufklärung brauchen, um zu funktionieren. Und dass ohne Sozialkitsch auch die Unsichtbaren und Marginalisierten dieser Gesellschaft literaturfähig sind, dass ein Kriminalroman selbstverständlich ein Sprachkunstwerk sein und dass man mit einem solchen Konzept sogar nachhaltig Erfolg haben kann. 2005 hatte Süden seinen letzten Auftritt, hatte den Polizeidienst quittiert und wurde Kellner in Köln.

Jetzt, in »Süden«, belebt Ani ihn wieder neu und lässt ihn nach München zurückkehren. Auslöser ist ein Anruf von Südens verschwundenem Vater, den er schon in seiner Polizei-Zeit als eine Art tragischer running-gag nie finden konnte. Süden nimmt einen Job in einer Privatdetektei an und macht da weiter, wo er weiland als Polizist aufgehört hatte. Bei der Rekonstruktion von fremdem Leben, um verschwundene Personen zu finden. Es geht um einen netten, unscheinbaren Wirt, der eines Tages aufhört, mit seiner Umwelt zu kommunizieren, einfach auf einem Stuhl sitzt und nach weiteren zwei Jahren sich spurlos in Luft aufgelöst zu haben scheint. Südens Suche, beinahe die schräge Variante einer klassischen Queste, führt ihn durch die unschicken Gegenden unserer Republik, auch wenn das letzte Drittel des Romans auf der In-Insel Sylt spielt, die man allerdings selten so wie bei Ani beschrieben findet. Süden trifft auf gescheiterte, auf müde, auf ausgelaugte, versteinerte und festgefahrene Menschen, und oft hat man den Eindruck, auch er sei einer davon. Wenn man aber genauer hinschaut, haben manche dieser "Verlierer" nur andere Lebensentwürfe als die der "bürgerlichen Mehrheit". Und die bürgerliche Mehrheit wiederum ist als das gezeichnet, was sie ja nicht sein möchte: Eine zutiefst verunsicherte, fragile und deswegen auch zu Extremen fähige Gesellschaft.

Aber keine Angst, Ani liefert keinen sozialpsychologischen Diskurs, sondern erzählt poetisch, manchmal sehr komisch, und durchgehend melancholisch viele kleine, unscheinbare Geschichten. Geschichten, die alle verbunden und verschlungen sind mit dem Hauptstrang des Romans und mit der großen Suche des Tabor Südens: Die nach seinem Vater und damit, natürlich, nach sich selbst. Vergangenheit und Gegenwart sind dabei auf derselben Wichtigkeitsebene angesiedelt wie Visionen und Realitäten. Ein kleiner, von seinen Eltern im Stich gelassener Junge im Roman unterhält sich genauso selbstverständlich mit den Helden seiner Fantasie, wie Tabor Süden mit seinem toten Kollegen Martin Heuer redet, der sich vor langer Zeit in einem Müllcontainer erschossen hatte.

Am Ende ist der "Fall" des verschwundenen Wirtes so gelöst, wie ihn niemand hat voraussehen können. Kriminell und verbrecherisch in diesem außergewöhnlichen Kriminalroman aber sind ganz andere Dinge, die nicht einfach zu benennen sind. Um sie sichtbar zu machen, braucht man schon Literatur von der ästhetischen Qualität, die »Süden« hat.

 

Friedrich Ani: Süden. Roman. Originalausgabe. München: Droemer, 2011, gebunden mit Schutzumschlag, 363 S., 19.99 Euro (D).

© Thomas Wörtche, 2011
(Deutschlandradio Kultur,
18.03.2011
)

 

Ein Gespräch mit Thomas Wörtche über Friedrich Ani' Roman finden Sie auf der Internetseite von Deutschlandradio Kultur unter http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1362141/ oder gleich hier zum Reinhören (.mp3).

 

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