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Chronist des Weltalltags

Der englische Journalist Misha Glenny porträtiert in seinem glänzend recherchierten neuen Buch Der König der Favelas einen der bekanntesten Drogenbosse Brasiliens.

Von Thomas Wörtche

 

Der König der Favelas

Antônio Francisco Bonfim Lopes, genannt Nem, war jahrelang der informelle Herrscher von Rocinha, einer Favela in Rio de Janeiro. Die Favela hat ungefähr hunderttausend Einwohner, sie galt zu Nems Zeiten als eine - in schon fast perversem Sinn - der schicksten und angesagtesten Gegenden von Rio, war Location für Pop-Events, Shopping Center für mittelständige Drogenkonsumenten, hatte eine für einen Slum niedrige Kleinkriminalitätsrate und eine blühende Kultur kleiner Shops, Lädchen und Straßenverkäufern. Schon beinahe eine Mustersiedlung auf dem "Planet of Slums", wie ein berühmtes Buch des Stadtsoziologen Mike Davis heißt. Aber dennoch eine Favela, ein prototypisches Territorium der Gewaltökonomie - vom Staat einerseits infrastrukturell alleine gelassen, andererseits als Ort permanenten Verbrechens ständig staatlicher Gewalt ausgesetzt.

Nem war ein möglicherweise zwar benevolenter Tyrann, ein "bandido bonzinho", ein guter Bandit, aber eben ein Gangsterboss, dessen Macht sich auf bewaffnete Gewalt stützte und dessen Ökonomie auf dem Drogen- und Waffenhandel basierte. Er regierte über seine Leute, allesamt in bitterer Armut oder am unteren Rande des Existenzminimums lebend, auch weil er sich mit Kleinkrediten, der Garantie für wenigstens rudimentäre Ansätze von Ordnung - kaum Vergewaltigungen, kaum Schusswaffen für Jugendliche unter 16 Jahren -, und anderen sozialen Aktivitäten auch politischen Einfluss verschaffte. Weil unter seinem Regime auch die Mordrate signifikant fiel, war Nem bei "seinem" Volk einigermaßen beliebt, zumindest nicht allzu sehr verhasst.

Aufstieg und Fall dieses komplexen und cleveren Gangsters schildert der englische Journalist Misha Glenny als fast episches Narrativ, »Der König der Favelas«, wobei der Plural im deutschen Titel irreführend ist, denn Nems Macht beschränkte sich ausschließlich auf Rocinha, die "kleine Farm".

Und genau das ist der entscheidende Punkt: Misha Glenny, bekannt geworden mit Reportagen und Studien zum Zerfall Jugoslawiens und den daraus entstandenen Konflikten, ist Spezialist für Großstrukturen des Organisierten Verbrechens. Er interessiert sich dezidiert für die internationalen Geldflüsse, für die Verschränkungen von kriminellen Dienstleistungen, Geldwäsche, Finanzwirtschaft und politischer Einflussnahme. Seine Bücher »McMafia« (2008) und »Cybercrime« (2012) sind deswegen kapitale Standardwerke zum Thema, weil er all diese globale Vernetzungen der ehemals eher als lokale, nationale oder kulturtypische Phänomene - Mafia, Yakuza, Triaden, Kartelle etc - betrachteten Strukturen des organisierten Verbrechens analysiert und damit jegliche "folklorisierenden" Sicht auf das OK naiv erscheinen lässt.

Hier nimmt sich hier einen begrenzten Mikrokosmos vor. Anhand der Biografie von Nem, der als Kreditnehmer bei einem früheren "drono", einem Boss, den Einstieg ins lukrative Drogengeschäft eher zufällig und auf Grund seines organisatorischen Talents und seiner sozialen Kompetenz geschafft hat, dröselt Glenny geschickt die ganze Komplexität dieser Welt auf. Er hat lange Interviews mit dem inzwischen inhaftierten Nem geführt, hat monatelang selbst in Rocinha gewohnt und mit allen möglichen Beteiligten gesprochen: Mit Polizisten, Politikern, mit Nems Familie, mit Staatsanwälten und Anwälten und vor allem mit den Menschen aus der Favela.

Wie verlässlich diese sehr unterschiedlichen Quellen und auch Nem selbst ist, kann auch Glenny manchmal nicht korrekt einschätzen, aber das Mosaik aus Stimmen und Positionen, wie interessengeleitet sie auch sein mögen, zeigen doch die Problemlagen sehr gut auf: Der "Verrat des Staats" (Mike Davis), der keine vernünftigen sozialpolitischen Lösungen anbietet und damit ein Vakuum schafft, und die extreme soziale Ungerechtigkeit zwingen die Favela in eine drogenbasierte "undergound economy", die wiederum mit dem verheerenden War on Drugs kollidiert, der sich gerade am Beispiel Rocinha in seinem ganze Irrsinn offenbart.

Glenny unterstreicht mehrfach, dass es besonders der extrem korrupten Polizei keinesfalls darum geht, den Drogenhandel zu unterbinden. Schlicht, weil sie selbst viel Geld damit verdient und weil damit politischer Einfluss zu kaufen ist. Polizei-Aktionen, die angesichts der komplizierten Struktur der verschiedenen Polizeien (mindestens drei Corps auf verschiedenen Ebenen, plus undurchsichtige geheimdienstliche und andere politische Strukturen) sowieso schwer zu koordinieren sind, zielen vornehmlich auf die Entwaffnung und politische Enthauptung der Favelas, weil man vor allem vor politischen Unruhen Angst hat, die von den Favelas ausgehen könnten und auch schon ausgegangen waren. Wobei auch da die Gemengelage zwischen oppositionellen politischen Aktivitäten und schierem Marodieren nicht immer trennscharf zu analysieren ist.

Nem als Mann mit politischen Einfluss wurde im Zuge der apart zynisch so genannten "Pazifikation" der Favelas abgeräumt. Was nichts anderes heißt, dass Polizeieinheiten mit Gewalt die Kontrolle über die Favela übernehmen, die danach unsicherer als je wird, weil keine moderierende Instanz mehr da ist. Natürlich fanden und finden diese "Pazifikationen" im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2014 und der Olympische Spiele 2016 statt, weil Favelas und ihr sozialer Sprengstoff das Sonne-und-Samba-Image von Rio stören könnten. Insofern greift Glennys kleinteilige Fallstudie eines charismatischen und machiavellistisch begabten Gangsters dann doch in zwei große Diskurslinien unseres Planeten ein: In die Kritik des massiv menschenlebenvernichtenden, hochideologischen War on Drugs und in die für alle urbanen Metropolen essentielle Debatten, wem die Stadt, wem die Straßen gehören. So gesehen sind Nem und Rocinha Teil des Weltalltags und Glenny sein brillanter Chronist.

 

Misha Glenny: Der König der Favelas. (Nemesis. One Man and the Battle for Rio, 2015). Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption. Aus dem Englischen von Dieter Fuchs. Deutsche Erstausgabe. Stuttgart: Tropen 2016, gebunden mit Schutzumschlag, 409 S., 22.95 Euro (D), eBook 17.99 Euro (D).

 

© Thomas Wörtche, 2015
(Freitag, Nr. 9,
3. März 2016
)

 

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