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Kriminalliteratur - was sonst?

Ein Vortrag über die politischen Kriminalromane von Petros Markaris

Von Thomas Wörtche

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Zeit der Unschuld der KL ist endgültig vorbei. Das liegt nicht nur an dem derzeitigen gigantischen Markterfolg des Genres, sondern vor allem an den genre-internen Dynamiken, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben. Die nur vermeintlich unschuldige Bezeichnung "Krimi" verdeckte lange Zeit ein virulentes Problem, das genau betrachtet spätestens seit 1929, also dem Erscheinungsjahr von Dashiell Hammetts "Red Harvest", das Genre in zwei Strömungen teilte: Auf der einen Seite die nur schwach in eine reale Welt eingefügten Narrative der Mördersuche, der verzwickten Rätsel, der Serialkiller, der genialen Detektive. Auf der anderen Seite ein zweiter Strang, dessen Thema eine direkte Auseinandersetzung mit den uns umgebenden Realitäten war und ist.

Natürlich hat auch der erste Strang seine Realitätsbezüge, die aber nicht sehr klar zu Tage liegen und eher erst interpretativ sichtbar gemacht werden müssen: So kann man die Kriminalliteratur des sogenannten Golden Ages mit guten Gründen verstehen als Abwehrhaltung nicht nur gegen die literarische Moderne, sondern auch als Reaktion auf das Massenschlachten des 1. Weltkriegs, das durch das Abheben auf den Skandal des einzelnen Mordes wieder "sinnhaft" eingehegt werden sollte.

Und die Serialkiller-Welle ab den 1980er, 90er Jahre kann man verstehen als literarischen Reflex auf die politischen Implikationen, die entstehen, wenn man das "Böse" versucht zu Entsoziologisieren und zu Individualisieren, ganz im Geiste des sich formierenden Neoliberalismus. Dieser erste Strang - die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen - besteht natürlich weiter fort, hat sich zu großen Teilen entsemantisiert und beherrscht, nebst anderen evasiven Ausformungen, immer noch große Marktsegmente, aber das ist ein anderes Thema.

 

Diese grobskizzierenden Bemerkungen verstehen Sie bitte lediglich als Kontrastfolie zum zweiten, interessanteren Strang. Dessen Realitätsbezug lag und liegt nicht textintern, sondern textextern. Die sozialen, politischen und ökonomischen Realitäten sind im Text Thema der Romane und nicht nur Hintergrund. Ihre Plots und Handlungen sind direkt auf diese Voraussetzungen bezogen, ohne sie würden die Romane nicht funktionieren. (Ich unterscheide übrigens nicht zwischen Kriminalroman und Thriller, das hat gattungstheoretische Gründe, die ich auf Nachfrage gerne erläutere, aber die hier nicht weiter stören sollen). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere im letzten Drittel bis heute, erstarkte dieser zweite Strang, vor allem global gesehen, zumal sich starke Stimmen aus Lateinamerika und vor allem der Frankophonie einmischten: die iberophone novela negra und der französische polar. Zudem lieferten die Schweden Maj Sjöwall und Per Wahlöö die vor allem im deutschen Sprachraum folgenreiche Blaupause für das, was man lange Zeit den "gesellschaftskritischen Kriminalroman" nannte, um darunter so ästhetisch unterschiedliche und disparate Konzepte und Texte wie den deutschen Soziokrimi, den französischen neo-polar à la Jean-Patrick Manchette, Henning Mankell, Jean-Claude Izzo und Manuel Vazquez-Montalban zu subsumieren. Der etwas verlegene Begriff "gesellschaftskritischer Kriminalroman", der bis zu der argumentativ-werblichen Formel verfolgt werden kann, der "Kriminalroman sei der Gesellschaftsroman unserer Zeit", gar "der letzte Hort für Moralisten", wird schnell unscharf und unpraktisch, wenn man die Frage stellt, auf welcher Ebene man "Kritik" ansiedeln soll: Systemkritik, Kapitalismuskritik, Symptomkritik? Von welcher Position aus? Zudem hat "Gesellschaftskritik" ein für mein Empfinden zu starken didaktischen respektive ideologischen Unterton. Zudem neigt dieser Begriff dazu, die ästhetische Organisation von literarischen Texten zu marginalisieren. "Gesinnung" wird so zum allzu dominanten Parameter und ermöglicht eine 1:1 Übersetzung von Literatur in eine These wie: Kapitalismus ist eklig, die Welt ist schlecht und homo sapiens eine zweifelhafte Spezies. Ja, zweifellos, vielleicht, aber das kann man dann auch anders sagen.

 

Ich will, um endlich zu dem Werk von Petros Markaris zu kommen, noch eine zweite Differenzierung für diesen zweiten Strang der Kriminalliteratur einziehen: Wenn die Sorte Kriminalliteratur, die ich meine, die Welt erzählt, gilt natürlich "Die Welt ist alles, was der Fall ist." Nun kann man erklären, "wie es zugeht auf der Welt", eine falsche, aber griffige Formel, die der deutsche Autor Jörg Fauser für das Werk von Eric Ambler geprägt hat, der ausgerechnet gerade nicht erklärt, wie es zugeht auf der Welt. Oder aber man kann sich sinnvollerweise anschauen, "was es mit dem, was ist, auf sich hat", um den französischen Soziologen Luc Boltanski zu zitieren. Tut man letzteres - ergebnisoffen, sozusagen -, schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Literarisch gesehen macht die Erzählkonvention "Kriminalroman" (ich spreche hier absichtlich nicht von "Form"), das eingeübte und bekannte Narrativ, Sinn, weil die "Enquete" sich dann tatsächlich um die "eigentlichen Geschehnisse" (nach Bertolt Brecht), um die "Realität hinter den Realitäten" (Luc Boltanski) kümmert, und die von Hegemonialstrukturen (wie z.B. dem Staat) absichtsvoll als transparent dargestellte Realität auf die meistens kriminellen und deswegen absichtsvoll verdeckten Realitäten hin untersucht. Wobei es dabei zunächst unerheblich erscheinen mag, ob man so "Kausalitäten", wie Brecht sich das wünschte, entdeckt, oder auf die psychosozial unbehagliche und unbequeme Kontingenz stößt.

 

Bis hierher könnte man den Eindruck haben, als skizzierte ich eher ein soziologisches als ein literarisches Projekt - und daran ist durchaus etwas Richtiges. Tatsächlich interessiert sich das Werk von Petros Markaris - ich beschränke mich aus Zeit und Platzgründen hier auf die "Krisen-Tetralogie", aber cum grano salis lassen sich alle Thesen auch auf die anderen Romane um Kostas Charitos beziehen -, wie die Soziologie auch, für den sozialen Wandel und dessen Deutungsmöglichkeiten. Die "Krise" hat die griechische Gesellschaft verändert. Zu was und in welche Richtung, kann im Moment noch kein Mensch sagen, aber die Tetralogie nimmt Echolotungen vor, die einige Symptome der "Krise" genauer untersuchen. Das griechische Kreditwesen ("Faule Kredite"), das Steuersystem ("Zahltag"), das Parteiensystem ("Abrechnung") und das Klientelwesen ("Zurück auf Start") sind, wie gesagt, "Thema" der jeweiligen Romane und ganz klar Protagonisten der aktuellen Krisen-Situation. Die Plots der Romane, ihre Handlungen, bestehen natürlich nicht aus analytisch-diskursiven Zergliederungen dieser Faktoren. Die schlimmen Umstände sind als "der Dreck, der ist, was er ist", um eine Formulierung von Lee Siegel aufzunehmen, für jeden erkennbar einfach vorhanden. Kostas Charitos und seine Leute müssen allerdings jeweils Morde und Mordserien aufklären, die ohne diesen "Dreck, der ist", nicht vorstellbar, gar nicht existent wären. Das Nicht-Fiktionale regiert deutlich ins Fiktionale. Die innerliterarisch organisierte Enquete und die außerliterarische Realität geraten so in ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis, das die kategorische Trennung von Fiktionalem und Nicht-Fiktionalem erschwert, wenn nicht gar verweigert.

 

Zum Beispiel "Zurück auf Start": Die Konventionen des Narrativs "Kriminalroman" verlangen eine "überraschende" Wendung, damit Thrill und Spannung überhaupt während der Lektüre virulent bleiben. In unserem Roman sorgt die Fokussierung auf die in Griechenland traditionell mehr oder weniger gut integrierte Gruppe der Albaner für diesen Überraschungsmoment, für diesen choc. Eine Gruppe, die sich hier als, wenn auch mörderische, Sachwalter der "guten, alten griechischen Werte" versteht, die von den Griechen selbst ihrer Ansicht nach diskreditiert worden sind. Dass die Albaner, die ihre Bekennerschreiben mit der Formel "Die Griechen der fünfziger Jahre" unterschreiben, aus ihrer moralischen Empörung heraus sozusagen systemstabilisierend morden, ist nicht nur wunderbar grimmig ironisch: galten und gelten doch die Albaner in der griechischen Gesellschaft als underdogs, Es ist auch rein fiktional. Nicht fiktional dagegen ist alles andere, minus der Mordlust. Die Albaner, und da vertraue ich auf Petros Markaris Einschätzung der Situation, sind tatsächlich eine wichtige Größe im sozialen Wandel Griechenlands, um den es ja in der Tetralogie explizit geht.

 

Das heißt für den Kriminalroman à la Petros Markaris: Das Verhältnis von fiktional und nicht nicht-fiktional ist permeabel geworden, die alte aristotelische Unterscheidung zwischen nicht-fiktionaler Rede (damals der Historiker, heute der Historiker und Soziologen, die an der Deutung sozialen Wandels beteiligt sind), die sich damit befasst, "was geschehen ist" und der fiktionalen Rede darüber, "was geschehen sein könnte" und "was geschehen könnte", ist brüchig geworden und damit auch Platons Verdikt, demzufolge alle Dichter lügen. Durch diese Permeabilität entsteht dann letztlich ein neues Groß-Narrativ, das nicht mehr dogmatisch eine Wahrheit behaupten muss, also sich nicht darauf kaprizieren muss, erklären zu können, wie es zugeht auf der Welt, sondern von der Welt erzählt, wie sie ist.

Die Kriminalliteratur wird dadurch von dem ihrer Erzählkonvention impliziten Zwang befreit, mit der Identifizierung eines Täters gleichzeitig eine Wahrheit oder eine gesicherte Erkenntnis darüber zu liefern, "wie es zugeht auf der Welt". Die Identifizierung des Täters ist dann nur noch eine spezifische Zeichenoperation, die der Wiedererkennbarkeit und damit der Glaubwürdigkeit innerhalb des fiktionalen Anteils des Großnarrativs dient - und damit der möglichst breiten Kommunizierbarkeit des gesamten Narrativs. Der Krimi-Leser wäre zurecht frustriert und enttäuscht, böte Kostas Charitos nicht einen Täter am Ende auf - auch wenn in "Faule Kredite" dieses Telos des Kriminalromans heftig ironisiert wird. Schließlich ist er dem Kommissar über hunderte von Seiten nicht nur auf der Suche nach dem Täter oder besser, den Tätern gefolgt, sondern hat sich dabei nolens volens der Deutung des sozialen Wandels angeschlossen. Der damit sozusagen in den Bereich der persönlichen Naherfahrung gerutscht ist - nicht nur der der Figuren, sondern auch der des partizipierenden Lesers qua Lektüre. Es ist schließlich eine Binse, dass "abstraktes Raisonnement bei weitem nicht dieselbe emotionale Wirkung hat" wie eine zwischen den beiden Polen fiktional/nicht-fiktional kohäsionsschaffende Plotstruktur, wie es der Narratologe Albrecht Koschorke formuliert hat.

Bei Petros Markaris' Kriminalromanen wird - so gesehen - damit noch ein weiterer undogmatischer, gar libertärer Wesenszug deutlich: Sein neues Groß-Narrativ namens "Die Griechenlandkrise", das er durch seine Methode, Kriminalliteratur zu schreiben, erzeugt, lässt alle interpretativen Optionen auf: Denn dass ein funktionierendes, also breit kommunizierbares und, wie man an der Verbreitung seiner Werke nicht nur in Deutschland ablesen kann, breit rezipiertes, neues Groß-Narrativ entstanden ist, heißt ja noch lange nicht, dass in diesem Großnarrativ alle Stimmen - im Sinne Michail M. Bachtins - gleichgerichtet sein müssen. Die üblichen Gegensatzpaare sinnvoll/sinnlos, offiziell/subversiv, hoch/tief, die der gerade zitierte Albrecht Koschorke als typische Zeichenoperationen "im Einzugsbereich hegemonialer Sinnsysteme" bezeichnet, werden aufgelöst, weil so ein hegemoniales Sinnsystem außer Kraft gesetzt wird. Auf unser Beispiel bezogen: Kostas Charitos ist ein Polizist alter Schule, der Polizist-Sein noch in der Diktatur gelernt hat. Als Repräsentant dieses Systems, das man insofern als hegemonial bezeichnen kann, weil es seine Sicht der Dinge gegebenenfalls mit Gewalt durchsetzen kann - die verdeckte, kriminelle Realität also, mit der der Staat seine nur schein-transparente, vordergründige Realität absichert und deckt, von der Luc Boltanski spricht -, scheint Charitos' persönliches Narrativ zunächst deckungsgleich mit dem offiziellen Narrativ zu sein. Aber Kostas muss sich gegen die Einwände seiner Gattin Adriani, die auf der grundsätzlichen Verderbtheit und Korruptheit des Polizeiapparats insistiert, mit witzigen Wortgefechten (und recht eigentlich contre cœur, weil Kostas es ja selbst längst besser weiß, es aber nicht zugeben mag) wehren. So geht schon innerliterarisch aus den Fugen, was außerliterarisch immer noch Bestand haben soll: Der Antagonismus Die Polizei ist gut vs die Polizei ist böse gerät in dem neuen Narrativ ins Schwimmen, ohne sich für eine bestimmte Gegenbildlichkeit jeweils entscheiden zu müssen. Deswegen sind die Perspektiven bei Markaris auch unhierarchisch orchestriert. Der innerfamiliäre Diskurs der Familie Charitos (mit Tochter, Schwiegersohn, Freunden und Trabanten, die das Charitos-Universum füllen) und der offizielle Diskurs des staatlich bestallten Kommissars (mit allen dessen Implikation) können nebeneinander stehen bleiben, ohne das vom "offiziellen" Narrativ abgelöste neue Narrativ von den "verdeckten" Realitäten kompromittieren zu lassen. Das wiederum markiert den Unterschied zu Erzählungen, die erklären, wie die Welt ist und denen, die davon erzählen, was ist.

Bleibt für heute noch ein vorerst letztes Problem zu klären: Hatte ich oben gesagt, dass Markaris' neues Narrativ namens "Griechenland-Krise" sich von hegemonialen Sinnsystemen, deren Wesen staatsraisonabel gedacht werden dürfen (oder in Deutschland einem bestimmten medial konstruierten Bild entsprechen, Sie wissen schon, die faulen, betrügerischen Griechen) entfernt haben, bedeutet das nicht, dass er dagegen ein rein privates, meinethalben obskures oder verschwörungstheoretisch arkanes Narrativ setzen kann (natürlich könnte er das, aber das wäre dann genau auf dieser obsessiven Ebene zu verhandeln) oder einen Relativismus lediglich von "Meinung" ausriefe, der dann allerdings keine oder nur schwache kommunikative Bindung mehr hätte. Natürlich wär so etwas legitim, aber bei der Krisen-Tetralogie geht es darum gerade nicht.

Oben habe ich gesagt, dass ich der Einschätzung der Lage und der Fakten, mit denen Petros Markaris arbeitet, vertraue. Das tue ich natürlich nicht, weil ich ein grundsätzlich nettes, vertrauensseliges Kerlchen bin, sondern weil es, wie es der Historiker Reinhart Koselleck formuliert hat, letzten Endes dann doch ein "Veto-Recht der Quellen" gibt, in diesem Fall analog also ein Vetorecht der mehr oder weniger deutlich zu Tage tretenden Kontexte, die zu ignorieren, ernstzunehmende Narrative der von uns besprochenen Art sich nicht leisten können - für andere Narrative wie die alternate history oder das what-if gelten andere Parameter, die aber auch nicht völlig losgelöst sind von dem, was der Fall ist und von dem sie zumindest ausgehen müssen, wenn sie nicht Fantasy sein wollen.

 

Es geht auch nicht um wahr oder falsch, sondern um "glaubwürdig" und "plausibel", wobei die realen Ereignisse den mehr oder weniger weiten Bezugsrahmen abgeben. Wie weit dieser Bezugsrahmen dehnbar ist, gibt die zweite Instanz mit Veto-Recht vor: Die literarische Glaubwürdigkeit und Plausibilität, die ihrerseits natürlich extrem dehnbar ist, aber eben doch einen Bezugsrahmen setzt, den zu verlassen bedeutete, das Genre zu verlassen. Auch das ist grundsätzlich legitim, wie man an den vielen Genre-Hybriden zwischen Kriminalliteratur und Horror oder Kriminalliteratur und Science Fiction sehen kann. Die abermals hier nicht zur Debatte stehen.

Zur Debatte jedoch steht eben der von Petros Markaris nachgerade protoptypisch repräsentierte Typus des "politischen Kriminalromans", des "Kriminalromans der Einmischung", der mit seinen spezifischen Narrativen die existierenden Groß-Narrative affektiert, verändert und moduliert. "Populäre Kultur, die den Realitätssinn nicht abstumpft, sondern ihn schärft", wie das Lee Siegel zwar für Die Sopranos, aber durchaus auf die Charitos-Romane übertragbar, formuliert hat. Angesichts der Natur der "verdeckten Realitäten" hinter den Realitäten können solche Romane nur Kriminalroman sein - was sonst?

 

© Thomas Wörtche, 2016
(Vortrag beim Symposium
"Hommage à Petros Markaris",
FU Berlin, am 24. April 2016.

 

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