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Spannende Gegenden plus spannende Zeiten

Von Thomas Wörtche

 

Städte waren schon immer suspekt. Mega-Cities erst recht. "Die Hure Babylon" gilt als moralisch anrüchig, sie ist der Alptraum aller Ordnungspolitik ("unregierbar") und ein prominentes Ziel von Aggression: 9/11, Tokioer U-Bahn, die Zerstörung von Kabul, Sarajewo, Grosny und so weiter - und das durchaus mit Wurzeln in der Geschichte, seit Städte geplündert und geschleift wurden.

Beliebt waren große Städte bei denen, die nicht in ihnen lebten, nie so recht. Istanbul etwa galt dem französischen Historiker Fernand Braudel seit Urzeiten als "urbanes Ungetüm", wenn er die Stadt am Goldenen Horn auch gleichzeitig, wie alle anderen großen Städte auch, zum "Laboratorium der Zivilisation" ernannte. Das gehört eben auch dazu: Mega-Cities sind Orte des Fortschritts und der Kultur. Wo Kultur ist, so hat es der Stadtmythomane Jerome Charyn auf den Punkt gebracht, da ist auch Verbrechen. Und wo es Verbrechen gibt, kann Kriminalliteratur nicht weit sein. Diesen Zusammenhang hat Gilbert Keith Chesterton 1901 endgültig festgeschrieben, als er der Kriminalliteratur ihren einzigartigen Sinn für die "Poesie des modernen Lebens" bescheinigte. Und dieses moderne Leben spielte sich in Greater London ab. Seitdem hat jede Großstadt ihre Kriminalliteratur - manche mehr, manche weniger…

Die Los-Angeles-Autoren sind seit Chandler Legion, dito diejenigen, die New York am Wickel haben, Chicago und London, Paris und Berlin, Madrid und Barcelona, Athen und Marseille. Aber alle diese Städte - Metropolis oder Gotham -, sind noch längst nicht alle Riesenkonglomerate, die zusammen metropole Regionen bzw. wirkliche Giga-Cities ausmachen. Die und deren permanente Verslummung, über die wir aus Mike Davis' Studie "Planet der Slums" gar nicht genug lernen können, sollte man auf ihre kriminalliterarische Kreativität hin checken. Natürlich nicht als lediglich "exotisches" Setting, wie es in tausenden von Trivalromanen von Barbara Nadel bis Barry Eisler passiert, sondern eben als "Protagonist", als konstitutive Bedingung von Literatur. Rubem Fonseca oder Paulo Lins für São Paulo und Rio de Janeiro gehören dahin, Ignacio Paco Taibo II für Mexico City, William Marshall für Manila, Christopher G. Moore für Bangkok, Celil Oker für Istanbul, Nury Vittachi für Hongkong und Shanghai, Natsuo Kirino und Arimasa Osawa für Tokio und, seit neuestem, Aravind Adiga mit seinem (auch Kriminal-) Roman "Der weisse Tiger" für Dehli.

Wenn wir uns allerdings die Listen der Mega-Cities und noch mehr, die Liste der metropolen Regionen anschauen, können wir vielleicht ahnen, welche Verschiebungen sich auch in der kriminalliterarischen Landschaft ergeben werden, und insofern in der literarischen Landschaft überhaupt - denn bei vielen der oben genannten Beispielen zeigt sich ja, dass in diesen Gegenden Kriminalliteratur die maßgebliche Literatur ohne Genre-Malus der enstprechenden topographischen und kulturellen Räume sein wird - wie das Yasmina Khadra für Algier oder Mike Nicols/Joanne Hichens für Johannesburg oder Jassy Mackenzie für Johannesburg demonstriert haben.

Und schauen wir noch genauer hin, dann wissen wir, worauf wir in den nächsten Jahren achten müssen: Auf Jakarta, Seoul, Mumbai, Greater Kairo, Dhaka, Lagos, Karatschi, Kuala Lumpur und auf die vielen "mittleren" Millionenstädte in China, die wir so gar nicht auf dem Schirm haben: Tianjin, Chongqing, Guangzhou und so weiter…

Spannende Gegenden plus spannende Zeiten ergibt, mit ein bisschen Glück und literarischer Alchemie, rasend spannende Kriminalliteratur.

 

© Thomas Wörtche, 2008
(Literaturnachrichten Nr 99 ("Megastädte"),
Winter 2008
)

 

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