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Publikumsliebling und Forschungslücke

Kriminalliteratur in der Literaturwissenschaft

Ein Vortrag von Thomas Wörtche

 

Sehr geehrte Damen und Herren,
welchen Status, so lautet unser Thema, hat die Kriminalliteratur im "Feld" der Literaturwissenschaft? Oder anders: Was hat die Literaturwissenschaft mit der Kriminalliteratur am Hut? Das hört sich erst einmal nach einer einfachen und plausiblen Frage an, die man mittels emsiger Durchmusterung der literaturwissenschaftlichen Forschung zur Kriminalliteratur beantworten können sollte. Aber, wenn ich schon so anfange, können Sie sich denken: So einfach ist die Sache nicht!

Denn was, so darf man fragen, hätte die Literaturwissenschaft, zumal die deutsche Literaturwissenschaft (die ja nur partiell mit der guten alten Philologie "Germanistik" deckungsgleich ist) zur Erhellung eines Genres beizutragen, von dem sie selbst bis vor noch nicht allzu langer Zeit der Meinung war, "noch nicht einmal Einzelwerke hervorgebracht (zu haben), die zu den großen Romanen des 20. Jahrhunderts gerechnet würden". Noch 1984 dekretierte der selbe Forscher, es handelt sich um den Anglisten Ulrich Suerbaum, in dessen philologische Zuständigkeit immerhin Autoren vom Kaliber eines Dashiell Hammett oder eines Avantgardisten wie Jerome Charyn fielen, genauso wie die dezidiert politischen Kriminalroman der Sara Paretsky, Thomas Adock & Co, dass der "Kriminalroman (…) kaum einen Anteil an der Bewältigung der Wirklichkeit (was recht eigentlich das Geschäft der Gesamtgattung Roman in unsere Ära)" sei, habe und sogar noch nicht einmal "zu einer immanenten Betrachtung einlade". Wenn man weiß, wie langsam tiempo acedemico ticken kann, also die Zeit, in der Forschungsergebnisse und Positionen brauchen, um überhaupt in den akademischen Diskurs einzusickern und diskutiert zu werden, darf man durchaus davon ausgehen, dass Akademia von solchen und ähnlichen Positionen auch heute noch nicht allzu weit entfernt ist. Direkt gesagt: Kriminalliteratur wird immer noch - oder schon wieder - in weiten Kreisen von Akademia als per se minderwertig eingeschätzt.

Wir wollen das überprüfen, denn der Anfangsverdacht, der in der Überschrift dieses Vortrags "Publikumsliebling und Forschungslücke" mitschwingt, muss ja seine Nahrung in irgendwelchen Realitäten haben.

Oberflächlich gesehen ist Kriminalliteratur angekommen im seriösen "literarischen" Feld. Seit ungefähr 15 Jahren muss sich niemand mehr mit Sprüchen wie "Kriminalliteratur liest man, aber man redet nicht darüber" (der ist von Ulrich Greiner) oder: "Kriminalliteratur lese ich nicht" (der von Elke Heidenreich) blamieren, um die Exzellenz des eigenen literarischen Geschmacks und damit die eigene Kultiviertheit nachzuweisen. Die ZEIT macht Krimi-Spezials, die Krimi-Zeit-Bestenliste finden Sie bei den feinsten Adressen ausgehängt und wahrgenommen, das Internet brummt vor lauter Kriminalliteratur, es gibt Tagungen in evangelischen und sonstigen Akademien, in Radiosendern wie DeutschlandradioKultur wird Kriminalliteratur wie jede andere Literatur außerhalb aller Reservate mitverhandelt, ein paar der größten literarischen Events dieses Landes sind inzwischen kriminalliterarische Events wie das "Krimifestival München" oder der "Mord am Hellweg". Und vor allem ist fast jedes zweite oder dritte verkaufte Buch krimi-affin. Soweit zunächst zum "Publikumsliebling".

Das hat im akademischen Bereich logischerweise einen gewissen Niederschlag gefunden. Ich kann mich furchtbar irren, aber was ich aus der Flut von Magisterarbeiten oder Dissertationen kenne, ist bis auf ganz rare Ausnahmen unbedarft bis bequem: Ein Modethema, besonders dankbar in der Skandinavistik, abgenommen und zensiert von überforderten Professoren ohne dazu - naja, - darstellbar ausgewiesen zu sein.

Und damit kommen wir zur Forschungslücke und zu einem elementaren Befund über das Verhältnis von Literaturwissenschaft und Kriminalliteratur. Wobei ich an der Stelle anmerken möchte, dass ich mich hauptsächlich, aber nicht nur, auf die deutsche Literaturwissenschaft beziehe, nebst einem Blick in die Nachbardisziplinen wie die Allgemeine Kulturwissenschaften, die Soziologie und so weiter...

Hier also der elementare Befund - in drei Teilen:
1) Es gibt weder auf Deutsch noch in irgendeiner anderen mir bekannten Sprache (also weder anglophon, noch in der Romania) ein literaturgeschichtliches, literaturwissenschaftlich fundiertes Standardwerk à la: "Die Geschichte der Kriminalliteratur von den Ursprüngen bis heute" von allgemeiner Akzeptanz.
2) Es gibt kein Standardwerk zur Theorie der Kriminalliteratur. Es gibt Einzelstudien zu einzelnen Aspekten und Teilbereichen von Kriminalliteratur. Zum Detektivroman oder zum Polit-Thriller oder zu anderen Sortierungen unterhalb des "Genres".
3) Es gibt keinen belastbaren, konsensfähigen literaturwissenschaftlichen Begriff von "Kriminalliteratur" (oder -"roman), es gibt nur schnelle Kennzeichnungen, kommunikative Abkürzungen, Redekonventionen: Krimi, Regionalkrimi, Thriller etc.

Würde man diese doch erstaunliche Beobachtung wissenschaftsgeschichtlich zu analysieren versuchen, müsste man über Wertung und Kanon nachdenken, über wissenschaftsbetriebliche Interna wie kanonische und exzentrische Themen. Kriminalliteratur ist immer noch, wie alle Genre-Literatur, ein exzentrisches Thema. Das heißt: innerakademisch zählt jede schlechte Arbeit über Goethe mehr als eine noch so brillante Arbeit über Krimis. Man kann das an Wissenschaftskarrieren nachzeichnen. Außerdem müsste man die Kriminalliteratur auf ihre jeweils verschiedene Brauchbarkeit in den verschiedenen turns, also den wechselnden Methodenpräferenzen der Literaturwissenschaft, während der letzten Dekaden hin abklopfen. Damit wären wir aber bei einer Vorlesung in mindestens zehn Lektionen angekommen.

Beschränken wir uns auf die drei genannten Punkte: Dass es kein Standardwerk über Kriminalliteratur gibt, keine "Geschichte der Kriminalliteratur" hängt unter anderem damit zusammen, dass unser Genre eine sehr junge Sortierung von Literatur ist, bei der noch nicht einmal als ausgemacht gilt, wann und wo sie überhaupt angefangen hat.
Rechnen wir alle Texte mit kriminalliterarischen Elementen (was auch die wieder sein mögen?) seit Homer, Shakespeare und Schiller (politische Intrigen, Verrat und Mord) zum Textbestand?
Setzen wir mit der Romantik ein, bei E. T.A. Hoffmann oder doch eher bei Edgar Allan Poe? Oder argumentieren wir strikt formal und beginnen bei Sir Arthur Conan Doyle?
Streichen wir die Homer/Bibel/Nibelungen-Lied-Lösung, schlicht weil Mord & Totschlag Stoff aller narrativen Kultur ist und wir damit nicht weiterkommen, so bleiben lediglich knapp zweihundert Jahre, deren erstes Hundert wir mit Vorläufern, gescheiterten Ansätzen und anderen musealen Phänomen ohne große produktionsästhetische Konsequenzen getrost vernachlässigen können.

Damit haben wir es mit hundert Jahre plus zu tun, in denen sich die Produktion von Kriminalliteratur exponentiell beschleunigt hat. Und auch global um sich greifend. Allerspätestens seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts entsteht Kriminalliteratur nicht nur im UK, den USA, Frankreich, Deutschland, Italien und Skandinavien, sondern je näher wir ans und je mehr wir ins 21. Jahrhundert kommen, weltweit. Kriminalliteratur blüht in Südamerika, in Afrika, in Australien, allmählich auch in Asien - und dies keineswegs peripher, sondern mit gewichtigen Stimmen - denken Sie an die große lateinamerikanische Tradition ab Jorge Luis Borges, denken Sie an Deon Meyer aus Südafrika oder Garry Disher und Peter Temple aus Australien.

Und erschrecken Sie auch bitte gerne vor der schieren Menge von Kriminalliteratur, die aus einer solchen Konstellation entsteht. Alleine in Deutschland erscheinen inzwischen pro Monat beinahe 200 Titel, übersetzt und aus eigener Produktion. Weltweit ein Vielfaches.

Womit wir bei einem zentralen Problem unserer Fragestellung wären: Wie soll bei dieser stündlich wachsenden Quantität von Texten unterschiedlichster Qualität, Herkunft und formaler Ausdifferenzierung ein gesichertes Textkorpus für literaturwissenschaftliche Exerzitien gebildet werden? Wie sollte man der Dynamik einer solchen Menge Herr werden? Ein Sonett ist über die Jahrhunderte formal zu definieren. Ein Kriminalroman ist dies nicht, zumindest nicht, wenn man nicht von vornherein zu Reduktionen greift - also zum Beispiel nur den Detektivroman behandelt, gesetzt den Fall, das wäre überhaupt eine sinnvolle Kategorie.

Tatsächlich überfordert die Fruchtbarkeit der Produktion die Wissenssicherung über den Gegenstandsbereich. Zumal es auch keine zentralen oder sonst wie ausgestatteten Forschungseinrichtungen zur Kriminalliteratur gibt (de facto soll es in Südkorea etwas in der Art geben, nur ist internationaler Austausch mit dieser Institution leider nicht bekannt), kein umfassendes Archiv, weder global noch national. Zumindest soweit es die Akademe angeht. Ausnahmen wie die semi-akademische Bibliothèque des Littératures Policières (BILIPO), die sich allerdings nur um die Frankophonie kümmert, bestätigen die Regel. Natürlich gibt es weltweit private Archive, gibt es Sammler und Sammlungen - allerdings - soweit es sich nicht um einschlägige Verlagsarchive handelt -, sind sie alle nicht in den universitären Forschungszusammenhang eingebunden. Sammler erstellen Bibliographien, organisieren Ausstellungen, kümmern sich um Nachlässe und Korrespondenzen - kommunizieren aber untereinander eher spärlich und mit universitären Forschungseinrichtungen so gut wie gar nicht. Qualifiziertes und spezialisiertes Wissen (oft auch der verschrobenen Art), aber isoliert, in keinen Zusammenhang gebracht. All diese Aktivitäten ergeben, um den Begriff zu verwenden, den die Literaturwissenschaftlerin Nele Hoffmann für den kriminalliterarischen Bereich eingeführt hat, "disparate Archive". Mit anderen Worten - die Wissensbestände über Kriminalliteratur sind ungesichert, unsystematisiert, verstreut und schon gar nicht jederzeit abrufbar.

Wo aber kein gesichertes Wissen, kein definierter Textkorpus ist - da kann es auch keinen befriedigenden theoretischen Zugriff geben. Auch hier gilt: Es gibt weltweit keine einzige literaturwissenschaftliche "Theorie der Kriminalliteratur", die wenigstens "verhandelbar" wäre, die diskutiert würde, und die den Namen "Theorie" (nach allen wissenschaftstheoretischen Standards) verdiente. Man müsste, um genau zu sein, sagen: Es gibt keine Theorie in umfassender Absicht, keine "Poetik" und "Poetologie", außer der jeweils autoren-spezifischen.

Es gibt jedoch erzähltheoretische Ansätze zur Beschreibung dessen, was Kriminalliteratur sein könnte, es gibt jede Menge "Funktionszuweisungen" von Kriminalliteratur. Es gibt auch jede Menge lesersoziologische Vermutungen, die allerdings wenig über Kriminalliteratur an sich, weniger über deren Leser, aber meistens eine Menge mehr über das Erkenntnisinteresse der einschlägigen Studien sagen.

Auch im Bereich der Theoriebildung bedeutet die enorme Extension des Gegenstandsbereiches Kriminalliteratur ein nicht zu unterschätzendes Problem: Im Russischen Formalismus hatten sich insbesondere Viktor Sklovsky und Jury M. Lotmaniv um regel-geleitetes Erzählen gekümmert. Erzähltheoretische Arbeiten in den deren Gefolge wie die von Umberto Ecov erprobten ihre Methoden (u.a. eben auch die der Semiotik und der späteren Kultursemiotik) an "populären" Erzählformen, die - in der Sicht dieser Theoretiker - nach bestimmten Mustern und Variationen fabriziert sind. Das funktionierte prächtig an narratologisch gesehen schlichten Fällen, also bei Autoren, die in der Tat mit einfachen ästhetischen Mitteln arbeiten - Conan Doyle etwa und Ian Fleming.

Es liegt aber genauso auf der Hand, dass diese Methode keinerlei Rückschlüsse mehr erlaubt, wenn komplexere Erzähloptionen am Werk sind - schon bei Eric Ambler oder Dashiell Hammett funktioniert diese Art der Analyse nicht mehr. Und je näher wir in die Gegenwart kommen, desto weniger operabel werden solche Modelle. Selbst bei Autoren, die pro forma seriell schreiben, wie z.B. Chester Himes in seinem Harlem Cycle aus den 1960er Jahren, setzen Zugriffe, die über "formelhaftes" Erzählen versuchen, zu Erkenntnissen zu kommen, zu kurz an.

Stichwort "formelhaftes" Erzählen, das ja als Merkmal von "Trivialliteratur" galt, bis der französische nouveau roman ähnlich wie Roy Lichtenstein und Andy Warhol in der PopArt solche Kategorisierungen ihrer ästhetischen (Minder-)Wertigkeit entkleidet haben: Ausgerechnet an solchem Erzählen wollte man Homologien zwischen Texten und Publikum herstellen. Ernstgemeinte Leserschichtsmodelle begegnen uns selbst noch 2003 in der 3. Auflage von Peter Nussers fatal-einflussreichem Metzler-Bändchen »Der Kriminalroman«, das wie kaum eine andere Publikation durch schiere Persistenz - kein Oberstufenunterricht, kein Proseminar, keine Magisterarbeit ohne Nusser - und wissenschaftsbetriebliche Positionierung, an so ziemlich allen Verspätungen und Fehlentwicklungen des Diskurses in Deutschland mit beteiligt ist.

Peter Nusser ordnet den "Detektivroman" den oberen Schichten der Leserschaft (dass er nicht "Klassen" sagt, ist alles), den "Thriller" den unteren Schichten zu - eine durch nichts zu beweisende Setzung ex cathedra, die allerdings selbst in einem gattungstheoretische-poststrukturalistisch argumentierenden Entwurf wie dem von Margit Schnur-Wellpott als "systematisch unbestreitbar" behandelt wird: Kriminalliteratur ist die natürliche Lektüre des unteren Mittelstandes und muss deshalb - deswegen zitiere ich diese Positionen beispielhaft - nicht substantiell, also nicht auf ihre ästhetische Machart hin untersucht werden. Sie ist kein Gegenstand genuin textwissenschaftlicher Untersuchung.

Natürlich geht es mir hier und heute nicht darum, die Evidenz zu belegen, dass Wissenschaft zuweilen genauso unbedarft mit bestimmten Gegenstandsbereichen umgeht wie es das Lesepublikum auch tut. Interessant sind solche wissenschaftstheoretischen/wissenssoziologisch/bzw. ideologischen Positionen nur vor dem Hintergrund der Tatsache, dass jede Art von wertungsanalytischer Sicht auf Literatur immer auch "ein Aspekt kultureller Selbstreflexion einer Gesellschaft ist", um noch einmal Nele Hoffmann zu zitieren. Oder bescheidener gesagt: Einer immerhin steuergeldfinanzierten wissenschaftlichen Disziplin. Es ist somit ein eminenter Akt der Wertung, literarischen Gebilden begründungslos die Literarizität abzusprechen. Ein Akt, der sich selbst nach seinen Voraussetzungen fragen lassen muss, womit wir bei Pierre Bourdieus grundsätzlicher Wissenschaftskritik der scholé (in seinen "Meditationen") wären, wo solche Erkenntnishindernisse analysiert werden, die zur verzweifelten Selbstbehauptung überkommener "Eliten" dienen. Verdeckter Klassenkampf von oben in der Kriminalliteraturforschung, wenn Sie so wollen...

Wenn es keine wissenschaftlich diskursfähige Theorie, keine Poetik und keine Ästhetik der Kriminalliteratur gibt, wenn also unsere Punkte (2) - keine Theorie - und (3) - kein Begriff - unmittelbar zusammenhängen, dann lässt eine solche Konstellation allmählich ahnen, dass es auch mit den letzten übriggeblieben Optionen einer Korpus-Bildung mau aussehen mag. Wie steht es mit Prototypen? Wie mit normativen Texten? Wie mit allgemein akzeptierten Mustern, über die eine Korpus-Bildung zumindest denkbar wäre?

Tatsächlich gibt es eine Menge "prototypischer" Autoren - deren Relevanz sich allerdings eher an ihrer Popularität festmacht, denn an irgendwelchen literaturwissenschaftlich beschreibbaren Strukturen oder an ihrer Wirkungsgeschichte. Es gibt natürlich Berge von Sekundärliteratur zu Sherlock Holmes, zu Agatha Christie, zu Edgar Wallace, zu Kurt Wallander, zu Commissaire Maigret, zu Raymond Chandler und zu Patricia Highsmith, zu Stieg Larssons Millenium-Trilogie, zu Donna Leon. Es gibt Studien zur Rezeption von Edgar Allan Poe, zum Fortwirken Hannibal Lecters, zur Publikationsgeschichte von Jerry Cotton und vieles mehr. Aber ob Autor oder Figur (meine Mischung von Autoren, Figuren und Texten ist nicht absichtslos): ein jegliches deckt nur einen Teilbereich seines Subgenres ab und ist keineswegs per se durch literarische Qualität und Substanz gesichert.

Auffälligerweise gibt es kaum "prototypische" Einzel-Bücher - »Der Malteser Falke« von Dashiell Hammett zum Beispiel ist sicher eines des berühmtesten Bücher der Kriminalliteratur (oder doch eher einer der berühmtesten Filme?), aber sicher das untypischste Buch im Gesamtwerk von Hammett, während der »Falke« resp. Sam Spade als Prototypenspender Raymond Chandlers Philip Marlowe eher nachgeordnet ist. Bei allen oben genannten Namen fällt auch auf, dass keiner davon irgendwie als normativ gelten sein kann. Wenn auch ihre niemand ihre Relevanz bestreiten würde. "Prototypisch" sind sie eher - aber für was? Donna Leon ist sicher prototypisch für eine bestimmte formale und intellektuelle Regression der Kriminalliteratur in den 1990er Jahren und prototypisch auch für den kommerziellen Erfolg solcher regressiven Spielarten von Krimi. Aber das hilft nicht wirklich...
Also wird auch die Orientierungsmöglichkeit anhand fester Größen für den Forscher im unendlichen Meer der Kriminalliteratur und ihrer prekären Wissensstände letztendlich skeptisch zu betrachten sein.

 

Was also, werden Sie jetzt vermutlich ungeduldig fragen, bleibt nach diesem Scherbengericht? In der Tat scheint die Kriminalliteratur für die Literaturwissenschaft ein harter Brocken. Bei ihr kann man nicht auf einen gesicherten Textkorpus zurückgreifen. Es gibt keine autoritativen Größen. Der Gegenstandsbereich expandiert immer mehr, zu Teilen lebt er noch, das mag man in der Literaturwissenschaft gar nicht gern. Zudem - den Punkt hatten wir noch nicht angesprochen - scheint Kriminalliteratur nur innerhalb eines sehr breiten inter- und transmedialen Feldes zu funktionieren. Und zwar von Anfang an, als spätestens mit Projekten wie Fantomâs Literatur und Film in gegenseitigen Bedingungsverhältnissen stehen. Allerdings ist die Forschung von der literaturwissenschaftlichen Seite dazu eher bescheiden, während von Seiten der Filmwissenschaftler und -historiker die Beiträge der Literaturwissenschaft so ziemlich als qualité und quantité négligeable eingeschätzt werden.

Hinzu kommt, dass die Erforschung von Kriminalliteratur nationalliterarisch kaum funktionieren kann. Zwar gibt es gerade in der letzten Zeit sehr materialreiche Studien zur frühen Kriminalliteratur (besonders der deutschen und italienischen), die aber noch in keinem erkennbaren systematischen Zusammenhang stehen. Anyway, die Einzelphilologien kommen nicht viel weiter - auch da vernetzen und vervielfältigen sich die internationalen Kriminalliteraturen rasanter denn ja, zumal sich allmählich auch die traditionell nicht sehr weltoffenen angelsächsischen Szenen für Übersetzungen aus aller Welt öffnen.

Immerhin auch für den deutschen Wissenschaftsbetrieb ein Anlaß, vorsichtige Erkundungen zur Erweiterung des Gegenstandsbereichs zu betreiben. Es sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Arbeiten entstanden, deren fleißig zusammengetragenes Material noch der systematischen Erschließung harrt. Ich denke da an den Sammelband von Hubert Pöppel zu (Kriminal)Romania, an die Studien von Katja Meintl zur Kriminalliteratur zur Subsahara, von Beate Burtscher-Bechter zum frankophonen Maghreb und demnächst, im Unterschied zu den genannten Studien, auch theoretisch satisfaktionsfähig, von Doris Wieser zur lateinamerikanischen Krimimalliteratur.

Aber ich will Sie nicht mit Namen bombardieren, sondern nur zeigen, wo es Forschung gibt und zu welchen Gebieten. Denn wenn wir kurz durch die Forschungsgeschichte gehen, werden wir feststellen, dass man lange Zeit die Kriminalliteratur nur im Kontext der Trivialliteraturforschung behandelt hat. Also im Gefolge der "Räuberromane" à la "Rinaldo Rinaldini" und in dem Graubereich zwischen Volkskunde und Leser-Soziologie, was sich besonders an den ungeheuren Materialmengen zeigt, die zum Beispiel Hans-Otto Hügel oder Knut Hickethierxi zu einer Phänomenologie der "Populären Kulturen" häuften, die sich aber darüber hinaus zu keinerlei Theoriebildung formieren wollen. Diese Forschungstradition, die eine Menge vergessener und verschütteter Autoren und weiland populäre Lesestoffe aus Leihbibliotheken und versunkener Heftchenkultur zu Tage gefördert hat, hat viel zur Erhellung des deutschen Leseverhaltens im 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts und in Ost und West beigetragen. Im besten Sinne empirisch-sozialgeschichtlich, allerdings ohne die kulturgeschichtlichen Vektoren, die man an Pierre Bourdieus Theorie um "Genese und Struktur des literarischen Feldes" etwa anschließen könnte. Kriminalliteratur war und ist unter diesen Auspizien ein Fall für soziologische Fragestellungen und dezidiert nicht für ästhetik-theoretische Erörterungen und auch kein Ort der literarischen Unterschiede. Was man als "Krimi" rubriziert, steht immer symptomatisch für eine Menge von Texten, ist nie Gegenstand genuin literaturwissenschaftlicher Einzel-Analyse.

Aus dieser Tradition leiten sich die Sorte von Arbeiten ab, die qualitative Unterschiede nicht machen, sondern meistens nach Themen oder anderen Plot-Elementen kategorisieren: Deswegen finden wir viele nach Themen strukturierte Studien - wie zum Beispiel zum Polit-Thriller, in dem, ungeachtet der jeweiligen meaning of structure der Texte, z.B. Dinge wie "Der Kalte Krieg im Spiegel des US-amerikanischen Spionageromans" verhandelt werden. Das sagte eine Menge über die politischen Position der Autoren - und die hätte in diesem Fall von Tom Clancy, rechtsaußen, bis Ross Thomas, links eine gewaltige Spannbreite -, aber nichts über die Texte. Die Gefahr liegt bei dieser Art der Text-Interpretation und -sortierung darin, dass literarische Texte auf ihre "messages" abgeklopft werden, die vermutlich transportiert sollen. Und so kann man die krachledernen, ultrapatriotischen Militärschwarten von Tom Clancy und die eleganten Romane von Ross Thomas auf einer Ebene behandeln, als ob sie der gleichen ästhetischen Klassifikation zuordenbar wären. Ein Verfahren, das man zum Beispiel nicht anwenden würde, wenn man Franz Kafka und Hanns Heinz Ewers als Vertreter der deutschsprachigen Phantastik am Anfang des 20. Jahrhunderts unter gleicher Validität als Paradigmen für literatur-externe Themen gebrauchen würde.

Studien wie die von Eva Horn und Hans-Peter Schwarz zum Thema "Polit-Thriller" etwaxiii behandeln Romane, also fiktive Texte wie Materialien der Zeitgeschichte, als zu Narrativen geronnene politische Statements. So als ob die spezifische Organisationsform, also ihr Status als literarische, ästhetische Texte keine eigene Semantik hätte, die zu Sinn und Bedeutung konstitutiv beitrüge. Solchermaßen wird Kriminalliteratur zum sozialwissenschaftlichen Dokument reduziert.

Gespiegelt im hochliterarischen Feld wird eine solche Reduktion der Kriminalliteratur durch die Emphase der "Verbrechungsdichtung". In dieser Tradition muss die Literaturwissenschaft ihr angestammtes Gebiet gar nicht groß verlassen, sie muss nur die kontextuelle Verortung einiger Autoren und Bücher modifizieren. So entstehen literarischen Reihen von Schiller über E.T.A. Hoffmann, Anette von Droste Hülshoff, Jakob Wassermann, Heimito von Doderer und Friedrich Dürrenmatt bis hin zu heutigen "Hochliteraten" wie Silvia Bovenschen oder Eva Demski. Reduziert wird dabei die ungeheure Komplexität und Ausdifferenziertheit der Kriminalliteratur sui generis, wenn einzelne Partikel des Sujet-Fügung (paradigmatisch: Ein Mord findet angeblich statt, bei Heimito von Doderers "Ein Mord, den jeder begeht") schon ausreicht, um "kriminalliterarische" Strukturen festzustellen und insofern den Autoren zu unterstellen, sie bedienten sich Elemente der Kriminalliteratur zu höheren literarischen Zwecken, zu Meta-Kriminalromanen oder dergleichen. Das gilt gerade auch für die "Traditionsbildung" deutschsprachiger Kriminalliteratur, die eher eine Traditionsstiftung ist: E.T.A. Hoffmanns armes "Frl. von Scuderi" muss dabei immer als Mutter aller deutschsprachigen Kriminalliteratur herhalten, obwohl der Text doch deutlich eine klassische Künstlernovelle ist, mit einer "aufklärenden" Hobby-Detektivin avant la lettre und auch ohne produktions- und rezeptionsästhetische Konsequenz für die Produktion von Kriminalerzählungen. Erst als die Kriminalliteratur eine literaturgeschichtlich abgesicherte Komponente brauchte, um den Umgang mit ihr überhaupt zu legitimieren, kam diese Art von Vereinnahmung auch in der Germanistik auf.

Ich möchte an dieser Stelle ein weiteres Mal innehalten und betonen, dass ich mich bis jetzt ausschließlich mit dem Umgang der Literaturwissenschaft mit der Kriminalliteratur beschäftige und nicht mit anderen Formen der Reflexion. Betrachtet man sich nämlich genauer die Mehrzahl der Beiträge in Jochen Vogts epochenmachendem Sammelband "Der Kriminalroman" (1971 noch in 2 Bänden, 1998 neu zusammengestellt in einem Band) oder die zunächst sehr ausführlich und breit erscheinende Bibliographie in Peter Nussers schon erwähntem Metzler-Bändchen, dann sieht man, dass eine Menge der dort versammelten Texte und Titel weniger einer "harten" Wissenschaft zugeordnet werden können, sondern zu größeren Teilen essayistischer und publizistischer Natur sind.

Auch das Referat der Forschungspositionen, das Nusser in der 4. Auflage seines Lehrbändchens anbietet, vermischt die Wertigkeiten und Kontexte: Da stehen dann eher auto-poetologische Schriften wie die der beiden französischen Kriminalautoren Pierre Boileau und Thomas Narcejac neben Julian Symons' charmanten Causerien und Plaudereien über den guten alten angelsächsischen Krimi (Krimiautor Symons war auch Kritiker der London Times); das wegen seiner ahnungslosen und faktisch wackeligen Beiträge berüchtige »Große Mordsbuch« einer begeisterten Krimi-Leserin namens Nina Schindler neben Gabriele Dietzes gender-study-induziertem Werk über feministische Kriminalautorinnen. Selbst publizistische Bizarrien finden sich dort in schöner Eintracht: Das notorisch gewordenen »Reclams Krimi-Lexikon« von 2002 etwa, das der Verlag vom Markt nehmen musste, nachdem bekannt wurde, dass sein Autor noch nicht einmal rudimentärste Grundkenntnisse des Genres hatte. Oder Jochen Schmidt tragisches Debakel, die total mißglückte Neuauflage des veralteten, aber populären und programmatisch un-wissenschaftlichen Übersichtswerks "Gangster, Opfer, Detektive (von 2008) finden sich neben seriösen wissenschaftlichen Arbeiten.

Man könnte sogar meinen, sie alle stünden, wenn so angeordnet wie bei Nusser oder anderen, durchaus im Verdacht, zusammengenommen einen "Diskurs" über Kriminalliteratur zu ergeben. Insofern wäre dies sogar ein Paradebeispiel dafür, dass sich Akademia und die "disparaten Archive" (siehe oben) in einem Dialog über die jeweiligen Grenzen der Felder hinaus bewegen könnten. Aber das wäre lediglich ein Euphemismus.

Tatsächlich kommen die intellektuellen Anstöße, die die Kriminalliteratur aus den wissenschaftstheoretisch und erkenntnistheoretisch zwar notwendigen, aber doch auch limitierten Disziplinen der Literaturgeschichte und der Lesersoziologie herausholten und herausholen, eher aus dem essayistisch-publizistischen Bereich.

Zwar ging es den oft und gern zitierten einschlägigen Aufsätzen von Bertolt Brecht, Siegfried Kracauer, Ernst Bloch und anderen nicht in erster Linie um Erkenntnisgewinn über den Kriminalroman an und für sich. Waren auch ihre Materialbasis und ihre Kenntnisse eher sehr schmal, so versuchten sie doch, Kriminalliteratur in neuen Kontexten zu sehen und zu interpretieren. So bekommen Brechts Stücke (insbesondere natürlich die einschlägigen: Dreigroschenoper, Mahagonny, Arturo Ui etc.) durch seine Beschäftigung mit englischen Mysteries plötzlich noch Dimensionen, die ohne Brechts Krimi-Affinität so nicht denkbar gewesen wären. Wie umgekehrt, Kriminalliteratur, die bisher nur im Wesentlichen als Prosaveranstaltung denkbar war, in Assoziation mit Brechts Stücken aus ihrem engen Feld heraustritt.

Siegfried Kracauer brauchte die Kriminalliteratur für sein ehrgeiziges und grandios gedachtes Projekt, die populären Kulturen seiner Zeit - die dann wie das Kino und der Krimi auch die unseren wurden - von den pejorativen Parametern eines elitären Kulturverständnisses zu emanzipieren.

Ähnlich funktional der Umgang mit Kriminalliteratur bei Ernst Bloch, dem es um die Rolle von Verbrechen und dessen literarische Verarbeitung für die Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ging. Ein eher (geschichts-)philosophischer Ansatz, der später in der berühmten ideologiekritischen Schrift »Ein schöner Mord: Sozialgeschichte des Kriminalromans« des trotzkistischen Ökonomen und Krimiliebhabers Ernest Mandel 1987 wiederkehrte. Auch dieses Buch, man darf es nicht vergessen, hat mit Literaturwissenschaft, Faktentreue, Systematik oder ähnlichen propädeutisch ordentlichen Dingen nichts zu tun - es ist aber ein bemerkenswert engagierter Ansatz, der ungemein anregend war (und verblüffenderweise noch ist), weil das genialisch-wirre Pamphlet (man könnte es auch als Musterbeispiel des "Wilden Denkens" bezeichnen) Kriminalliteratur in gesellschaftskritische Bezüge setzt, mit denen eine genuine Literaturwissenschaft nicht viel anfangen kann.

Und es war ausgerechnet ein Literat, nämlich Helmut Heißenbüttel, der 1966 in einem immer noch vielbeachteten und -zitierten Aufsatz mit dem Titel »Spielregeln des Kriminalromans« genau dieses bestritt: Dass Kriminalliteratur als Schema-Literatur, als Trivialliteratur, als nach dem Muster des Ewiggleichen geradezu mechanisch tickend wahrgenommen werden muss. Dass man, wenn man strikt formalisiertes Erzählen in der Kriminalliteratur wahrnimmt, wie es der auf Sprache und weniger auf Themen fixierte Lyriker Heissenbüttel zurecht tut, dieses nicht mit Schema und Trivialität in Zusammenhang bringen muss, sondern an Phänomene wie PopArt und nouveau roman anschließen kann.

Das war für das Nachdenken über Kriminalliteratur in dieser Zeit eine neue Perspektive. Zumindest im deutschsprachigen Raum, hatte doch der nouveau roman selbst, vor allem in Gestalt von Alain Robbe-Grillet, in der Tat "kriminalliterarisches" Erzählen übernommen oder umgeformt oder wie immer man diesen Austausch von vermeintlich high & low beschreiben mag. Heissenbüttel geht sogar so weit anzudeuten, der Kriminalroman habe in gewissen Aspekten den nouveau roman präfiguriert. Ein Gedanke, der außerakademisch und deutlich auf Diskurse bezogen möglich war, die die universitäre Bearbeitung von Kriminalroman im deutschsprachigen Raum noch nicht zuließ. Dort waren Konzepte wie die von Leslie Fiedlerxiv oder Tzvetan Todorovsxv »Typologie des Kriminalromans« noch kaum in die universitäre Forschung eingegangen. Genausowenig wie überhaupt Theoriebildung zur Moderne (oder dem Keim dessen, was man später Postmoderne nannte) oder zur Pop-Kultur (die darunter nicht nur populäre Unterhaltungsstoffe subsumierte, au contraire). Exzentrische Forschungsgegenstände bedurften noch lange der Legitimation in kanonischen Wertungszusammenhängen. Und die aufkeimende 68er Bewegung interessierte sich, wenn sie sich überhaupt für "Genre" interessierte, eher für Science Fiction, Comics oder den (Italo-) Western. Aber auch da war die Theoriebildung noch lange nicht auf internationalem Niveau.

Der nächste spannende Schritt kam aber durchaus aus der Literaturwissenschaft, aus der Germanistik. Und er war folgenreich. Ich meine den vielleicht nicht nur in Kreisen von Literaturwissenschaftlern berühmten Aufsatz »Anatomie des Detektivromans« von Richard Alewyn aus dem, Jahr 1968. Es war das erste Mal, dass sich ein veritabler big shot unter den bestallten Germanisten (auch wenn Alewyn in der universitären Landschaft der wirtschaftswundernden Bundesrepublik durchaus nicht everybody's darling war, aber das gehört nur am Rande hier her) dem Kriminalroman von keiner anderen Seite als eben der literaturwissenschaftlichen näherte und mit einer für die Zeit ungewöhnlichen Radikalität gegen die Strategien der Abwertung und Ausgrenzung der Kriminalliteratur aus dem Reich der gesicherten Kulturgüter an-argumentierte.

Auch dass Kriminalliteratur sich möglicherweise nur sehr schwer überhaupt abgrenzen ließe von anderer Literatur war eine sehr weitsichtige Vermutung von Alewyn. Sogar eine Polemik gegen einen "Kausalnexus", der die Welt im Gefolge der Aufklärung einschließlich des letzten geheimnisvollen Restes transparent erscheinen lässt und in der Kriminalliteratur die berühmte, durch das Verbrechen gestörte Ordnung wiederherstellt, finden wir bei Alewyn. Auch da literarisch argumentierend, dass Texte, die diesem Postulat folgen, am Ende tadellos aufgeräumt sein müssen und keine ungeklärten Reste hinterlassen wollen. Kurz, um nicht allzu ausschweifend zu werden: Richard Alewyn hatte für die deutsche Literaturwissenschaft den state of the art geschaffen, wie man mit dem exzentrischen Gegenstandsbereich umgehen könnte.

Umso interessanter bei der Beschäftigung mit ihm, dass dieser Aufsatz auch in einem ganz anderen, sehr fatalen Sinn den wissenschaftlichen Diskurs bis heute geprägt hat. Richard Alewyn mochte nämlich dringend einen Unterschied zwischen Kriminalroman und Detektivroman machen, und zwar einen kategorialen. Statt beide Sub-Sortierungen unter "Kriminalliteratur" zu fassen, ist er der Meinung, der Detektivroman sei eine "Form" sui generis und deswegen gattungstheoretisch grundsätzlich anders angesiedelt als "Thriller", "Kriminalroman" etc.

Ich möchte an dieser Stelle keine Gattungsdiskussion führen, aber was Richard Alewyn da versucht, zu distinguieren, lässt sich schlichtweg nicht distinguieren: "Der Kriminalroman erzählt die Geschichte eines Verbrechens, der Detektivroman die Geschichte der Aufklärung eines Verbrechens". Diese Unterscheidung ist eine unhaltbare gattungstheoretische Naivität - es handelt sich in Wirklichkeit lediglich um zwei unterschiedliche Arten der Sujetfügung, die aber auf "die Form" (gattungstheoretisch tiefer liegend als "Sujet") keinerlei Einfluss hat, wenn es überhaupt gattungstheoretische Gründe gäbe, von "Form" zu sprechen.

Aber gleichzeitig ist die Unterscheidung unschlagbar praktisch für den alltäglichen, vorbegrifflichen Umgang mit Kriminalliteratur, weil sie so plausibel erscheint. Sie kann zur schnellen Verständigung über Texte dienen: - der neue Roman von Fred Vargas ist demnach ein Detektivroman, der neue "Parker" von Richard Stark ein Kriminalroman. So kann, was wissenschaftlich nicht haltbar ist, außerwissenschaftlich die Diskussion prägen - denn dass die Unterscheidung zwischen Kriminalroman und Detektivroman sinnvoll sein könnte, wird man kaum bestreiten wollen. Oder doch? Ich neige dazu, es zu bestreiten, aber das gehört nicht hierher...

Tatsächlich hat sich die Literaturwissenschaft seitdem systematisch nicht mehr sehr viel weiter bewegt. Aber ist ihr das vorzuwerfen? Jeder Versuch einer Gruppenbildung, die irgendwie operationabel wäre, wird durch die Masse der unterschiedlichsten Texte, die man ausschließen müsste, torpediert.

Umgangssprachliche Subsortierungen, die auch durchaus buchmarkttechnisch bedingt und paratextuell beeinflussbar sind, machen sich auf der terminologischen Ebene breit. Cop novel, Psycho-Thriller, Regionalkrimi, Soziokrimi, Frauenkrimi etc. beschreiben manchmal brauchbar, manchmal weniger brauchbar grob den Gegenstand, um den es jeweils geht. Die Para- und -kontexte jedoch entscheiden oft über die Schicksale von Büchern und Rezeptionen. Erscheint derselbe Autor erst bei einem Publikumsverlag wie Bastei-Lübbe, dann in einem "literarischen" Verlag wie Suhrkamp, werden auch die Rezeptionen unterschiedlich verlaufen. Und auch als was man einen solchen Text klassifiziert, wird para- und kontextuell beeinflußt. Dass es praktisch noch keine monographische Studie zur Funktion der Paratexte (nach Gerard Genette) für die Einschätzung von Kriminalliteratur gibt, ist eine bemerkenswerte Forschungslücke.

Aber - man darf sich diese Frage stellen - was könnte die Literaturwissenschaft überhaupt zur Kriminalliteratur sagen. Wenn wir "Literaturwissenschaft" oder "Literaturtheorie" mit den Worten von Jonathan Culler verstehen als "die systematische Untersuchung des Wesens der Literatur und der Methoden ihrer Analyse", dann stoßen wir genau auf das Phänomen, dass den Germanisten Wolfgang Preisendanz schon 1972 am Ende seiner vielbeachteten Thesen zum Realismus zu dem Seufzer getrieben hat, dass das Verhältnis von wissenschaftlicher Bearbeitung und der ganz normalen Lektüre von Texten extrem unbehaglich geworden sei.

Die Kriminalliteratur ist längst ihren formalen, schematischen, artistischen und intellektuellen Gehegen entflohen. Ich würde diesen Zeitpunkt allerspätestens 1929, mit Dashiell Hammetts epochalem Roman »Red Harvest« ansetzen, weil er keinerlei "Konvention" oder "Formel" gehorcht. Seitdem ist sie, pointiert gesagt, zur Herausforderung für die argumentierende Literaturwissenschaft geworden. Für die Literaturwissenschaft also, die das wissenschaftstheoretische Postulat beherzigt, sich mit ihrer Terminologie nicht allzu weit von alltags- resp. umgangssprachlichen Begrifflichkeiten zu entfernen, um überhaupt einen "Sitz im Leben" außerhalb einer - auf Grund hoher Spezialisierung - immer verschwindend kleiner werdenden scientific community zu haben.

Insofern hat es schon etwas von "List der Vernunft", wenn ausgerechnet am Beispiel der Kriminalliteratur (oder der Genre-Literatur überhaupt) die scholé (also die traditionellen Denkmuster) gezwungen wird, sich von liebgewordenen Usancen zu trennen.

Dazu gehört für die Literaturwissenschaft, nicht mehr auf isolierbaren Textkorpora zu bestehen, die notfalls so gar nicht existieren, und statt dessen auf die konstitutive Transmedialität, gerade von crime fiction zu reagieren. Ins Spiel käme dann auch eine eher pragmatisch orientierte Gattungstheorie, die nicht danach fragt, was ein Text "ist". Sondern danach, welche verschiedenen Lektüren in verschiedenen Kontexten und auf verschiedenen Hintergründen welche Bedeutungzuweisen, welche Interpretations-Routinen, welche Sinnstiftungsverfahren resp. Kontingenz-Annahmen generieren. Weniger kompliziert: Das offene Konzept der Kriminalliteratur, das die üblichen Klassifikationen der Literaturwissenschaft ständig unterläuft und als unbefriedigend dastehen lässt, erzwingt dadurch offenere literaturwissenschaftliche Analyse-Konzepte, und damit auch neue Möglichkeiten der Wertungen, Einschätzungen, Rollen und Funktionszuweisungen.

Dass der normale Leser und Käufer von Kriminalromanen, der sich schließlich intelligent unterhalten will, von solchen Bemühungen, die ihm "nichts bringen" von denen er "nichts hat" und die ihn auch zu recht herzlich wenig interessieren, eher unbeeindruckt ist, ist völlig okay so.

Wenn aber peu à peu die Schwellenängste gegenüber Literatur an und für sich via entspannterer Leseerfahrungen abgebaut sind, wenn gedachte Leser mittels Kriminalliteratur ohne Didaxe neue Erkenntnisse über das Wesen der Welt bekommen, wenn sich Skepsis gegenüber anderen Versuchen der medialen Welterklärung einstellt, ohne dass diese Skepsis sich als das Resultat von Schundlektüre leicht diskreditieren ließe - dann kann auch eine sich verändernde literaturwissenschaftliche Umgangsweise mit "populären" Kunstformen einen gewissen Anteil für diesen Umschwung für sich reklamieren.

Vielen Dank!

 

© Thomas Wörtche, 2012
(Vortrag, gehalten in der
Evangelischen Akademie in Loccum,
08.05.2012
)

 

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