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Leichenberg 06/2017

 

Lost Boy

Labels und Rubriken richten oft Unfug an. Vor allem die Bezeichnungen "Jugendroman" oder "Young Adult" neigen dazu, Publikumsgruppen abzugrenzen. Und so rutscht dann ein grandioser Großstadtroman wie Johannes Groschupfs Lost Boy (Oetinger) durch die erwachsene Wahrnehmung. Das ist fatal, denn »Lost Boy« ist ein durch und durch seriöser City Noir, für den diese Bezeichnung wirklich zutrifft. Lennart, ein Audiotüftler und Spezialist für Sick Sounds arbeitet einem DJ zu - berühmt und berüchtigt als DJ Evil -, der mit seinen krassen Raves Kultstatus hat, weil sie an den unmöglichsten, meist unterirdischen Locations stattfinden, die Berlin zu bieten hat - vergessene U-Bahn-Gewölbe, industrielles Ödland, geborstene Fabriken und andere städtische Orte, die zwar arm, aber nur in einem ziemlich abgefahrenen Sinne sexy sind. Lennart akustische Vermessungen der Stadt - Alltagsgeräusche und nervensägender Lärm - werden von DJ Evil zu Terror-Sounds entwickelt, die physische Schäden anrichten können. Und mehr noch: die Leute umbringen. Als er dann noch mit dubiosen interessierten Kreisen aus der Rüstungsindustrie und den "Sicherheitskräften" Geschäfte machen will, steigt Lennart aus. Das gefällt DJ Evil überhaupt nicht, die Angelegenheit wird richtig hässlich. Entlang dieses robusten Plots, bietet Groschupfs Roman in blendender, eleganter Prosa ein ungewöhnliches Berlin Panorama: Eine verborgene, oft leere Nachtstadt, mit klandestinem Leben underground. Gespickt mit schrillen Sounds, schweren Grooves, Drogen und zombiehaft agierenden Menschen, mit Obdachlosen-Communities in verlassenen Möbelhäuser (eine meisterhafte Miniatur unter vielen, ist die Beschreibung des sozialen Terrors in der Küchenabteilung eines solchen Möbelhauses, als es noch funktionierte), fast leeren Nachbusse mit Hopper'schen Gestalten und Stadtbrachen. "Eine steinerne Wüste", hier und jetzt und ganz real, obwohl sie oft an eine Postdoomsday-Landschaft erinnert. Kalte, in fahles Licht getauchtes, oder durch Stroboskop-Gewitter zerhackte Bilder, die sich ins Hirn fressen. Nicht nur ein exzellenter Kriminalroman, sondern auch ein gewichtiger Berlin-Roman.

Drei Meter unter Null

Was Johannes Groschupf konsequent durchzieht, bleibt bei Marina Heib leider nur fragmentarisch. In ihrem neuen Roman Drei Meter unter Null (Heyne) gibt es die eine oder andere Passage, die ihr schriftstellerisches Können aufblitzen lässt, besonders ein kleines Stück über Berlin, direkt bezogen auf Gottfried Benns "Morgue"- Gedichte, aber ansonsten ist die Geschichte einer Frau, die einer böse Kindheit hatte (Frauen in Kellern, sehr topisch) und sich zur mörderischen Rächerin entwickelt, zwar flott zu lesen, aber ansonsten ziemlich durchkalkuliert, cool und knallhart tuend, auf dem Reißbrett entworfen und zum Ende nix als Schluchz und Kitsch, voraussehbar und aufgesetzt. Ein Buch, dem man ab einem bestimmten Zeitpunkt einfach nichts mehr glaubt. What a waste...

Es geschah im Dunkeln

Und es gibt auch so etwas wie hochniveauige und charmante Belanglosigkeit: Carol O'Connells Es geschah im Dunkeln (btb) ist der inzwischen elfte Roman um die enigmatische, schöne und eiskalte Kathy Mallory von der Special Crime Unit des NYPD. Das Buch ist ein klassischer Mord-im-Theater-Roman, mit allen Requisiten, die der Schauplatz hergibt. Der Autor des Stückes, um das es geht, sitzt mit durchschnittener Kehle während der Vorstellung im Zuschauerraum, niemand hat etwas gesehen und gehört. O'Connell ruft so ziemlich alle einschlägigen Narrative von Agatha Christies "Mouse Trap" bis zur Shakespeare-Paraphrase von "Theater of Blood" ab, und folgt dem schönen Boulevard-Brauch, das niemand ist, wer er zu sein scheint: Der Laufbursche nicht Laufbursche, die Garderobiere nicht Garderobiere und so weiter. Ein unsichtbarer Ghostwriter sorgt für die gespenstische "Schrift an der Wand" (in dem Fall eine Tafel, auf der man Fingernägel kratzen hört, aber ansonsten bleibt der Ghost-Writer unsichtbar) und natürlich baut O'Connell noch ein paar Mäander ein, die aber an dem fast puristischen Whodunit auch nichts ändern. Das ist clever, amüsant und gekonnt, aber letztendlich doch nichts anderes, als das es zu sein scheint: Eine Boulevard-Komödie mit Mord. Schon okay, aber nu...

Kommando Abstellgleis

Souveräner mit der Leichtigkeit, die ja ein gewichtiges Qualitätskriterium sein kann, geht da schon Sophie Hénaff in ihrem Erstling Kommando Abstellgleis (carl's books) um: Auf den ersten Blick erinnert ihre Konstellation an die Genie-Truppe in Fred Vargas' Adamsberg-Romanen. Wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Bei Hénnaff bekommt die wegen unverhältnismäßiger Gewaltausübung kaltgestellte Kommissarin Anne Capestan eine fragwürdige, zweite Chance. Sie soll ein Kommissariat leiten, dass nichts anderes ist als eine "Bad Bank" für gescheiterte Polizisten: Soziopathen, Spieler, Trinker, Versager, Nervensägen, Trottel und andere "unzuverlässige Elemente". (Nicht vergessen an der Stelle: Dirk Schmidt hatte das Prinzip vor ein paar Jahren mit seiner Katastrophen-Truppe in "Ertränkt, erhängt, erschossen - Task Force Hamm" für deutsche Verhältnisse durchdekliniert) Hénaffs Leute sollen sich um aussichtslose kalte Fälle kümmern, die niemanden mehr interessieren, und sich ansonsten aus seriöser Polizeiarbeit heraushalten. Aber Capestan ist ein zähes Luder und schweißt ihre Chaos-Truppe gegen alle Wahrscheinlichkeit und zum Entsetzen ihrer Vorgesetzten, zu einem sehr effektiven Kollektiv zusammen. Die zwei alten Fälle, die sich anscheinend zufällig auf ihrer "To-Do-Liste" finden, bergen allerdings eine Menge Sprengstoff, gerade für die Hierarchen der Pariser Polizei. Was bei Fred Vargas literarisch zum Gähnen überhöht und zunehmend maniriert ist, funktioniert bei Hénaff einfacher, witziger, knapper, toxischer, eher auf den Punkt geschrieben, ohne deswegen unterkomplex zu sein. Sehr erfreulich, dass die schräge Loser-Brigade demnächst ihren zweiten Auftritt haben wird.

Brant

Eine Art Re-Writing liefert Ken Bruen mit Brant (Polar Verlag). Bruen ist ja bekanntlich ein großer Genre-Aficionado, der gerne, häufig und ausführlich - manche sagen: wie ein eifriger Musterschüler - seine Genre-Heroen zitiert. Hier dient ihm Ed McBains Roman »Cop Hater« von 1956 als Folie für seine Geschichte um einen irren Mörder, der in London anscheinend zufällig und ganz beiläufig Polizisten tötet und dabei eine Medien-Berühmtheit wird. Allerdings legt er sich dabei mit Bruens Serienfigur, Detective Sergeant Brant an. Und das ist ein schwerer Fehler. Denn Brant ist nicht nur ein ultraharter Brocken, sondern auch dem Legalitätsprinzip eher weniger zugeneigt. Als der Irre auch noch eine gute Freundin von Brant erwischt, ist der "herrschaftsfreie Diskurs" endgültig außer Kraft. Das ist virtuose Komik, tiefschwarzhumorig und ausgekocht, schnell und aufs Wesentliche reduziert. Gewalttätiger Minimalismus aus einer Welt, in den kategoriale Unterschiede zwischen Gut und Böse kaum existieren.

Ein eher erstaunliches Buch kommt von dem ARD-Urgestein Werner Sonne - der Politthriller Wer den Sturm sät (Edition M). Die Russen lassen auf Sylt die Chefin einer Waffenfabrik umbringen, ein russisches U-Boot fährt sich vor der Insel fest und kann sich nicht mehr rühren. Im Luftraum über der Ostsee knallen ein Eurofighter und ein russischer Bomber zusammen, in der Ukraine soll eine neue Phase des Krim-Konfliktes eingeleitet werden, die NATO zeigt Muskeln, die Russen erst recht, und Cyber-Attacken legen u.a. die amerikanische Finanzwelt lahm. Es riecht nach globaler Eskalation. Gut aber, dass es die stockschlaue deutsche Kanzlerin gibt und den genauso stockschlauen deutschen Außenminister, der hier allerdings noch deutlich eher Steinmeier'sche als Gabriel'sche Züge trägt. Denn die tüfteln eine Deeskalations-Strategie aus, die ziemlich genial ist und unsere Welt vielleicht vor dem Untergang bewahrt. Das hört sich ziemlich regierungsfromm an und ist es möglicherweise auch. Aber Sonnes Extrapolation hat durchaus etwas Plausibel-Realistisches. So könnte ein solches Szenario tatsächlich ablaufen, inklusive der realpolitischen Zynismen, die der Kanzlerin ein anerkennendes Lächeln abringen. Sonne verzichtet auf Überzeichnung und cheap thrills, kennt natürlich die Abläufe, das diplomatische Prozedere und die internationalen Kommunikationswege und all das stützt die Realitätsfiktion sehr effektvoll. Schwach ist das Buch lediglich da, wo Sonne zu den anscheinend unvermeidlichen Format-Bausteinen greift (unbedeutende Nebenfiguren mal schnell aufbauen, dann wieder fallenlassen, wenn sie ihren Veranschaulichungszweck erfüllt haben, sinnlose "private" Handlungspartikel etc.), die mit Literatur wenig zu tun haben, und ohne Not auf die längst etablierten literarischen Niveau-Standards der Ross Thomas, Robert Littell u.a. verzichten, aber das macht beinahe fast gar nichts. Das schmale, schnelle Büchlein ist ziemlich klug und ziemlich amüsant, empfehlenswerte Strandkorblektüre.

 

© Thomas Wörtche, 2017

 

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