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Leichenberg 09/2017

 

Der Tourist

Nach ein paar Jahrzehnten literarischer Dauerpräsenz kann auch der übelste Serialkiller serialkillen wie er will, es interessiert so recht niemanden mehr. Das muss auch "Der Tourist" erfahren, der zwar ein ganz toller Top-Killer ist, sich aber trotzdem ratzfatz von einem, dann von einem anderen Geheimdienst angeworben sieht (alternativlos), um seine Talente in sinnvolle und ersprießliche Bahnen zu lenken. Herzerwärmend ist dabei, dass er bei der Arbeit ein Serialkillerweibchen kennen lernt, die genauso psychopathisch ist wie er. Bei so viel Wahlverwandtschaft werden die beiden ein schönes Paar und könnten in Ruhe ihrem Beruf nachgehen, wenn sie nicht in einen fiesen Krieg zwischen offiziellen Geheimdiensten und den sogenannten "Freiberuflern" gerieten, deren beider Methoden im neoliberalsten Sinne absolut dereguliert sind. Das alles erzählt Der Tourist von Massimo Carlotto (Folio). So wie der Schauplatz des Romans, Venedig, vom Tourismus und den riesigen Kreuzfahrschiffen zur Sau gemacht wird, was den idealen Subtext des Romans ergibt, so demontiert Carlotto die letzten Reste von Vertrauen in rechtsstaatliche Standards. Die Raison von undurchschaubaren Institutionen - schon lange nicht mehr irgendeine Staatsraison - dominiert das Handeln der Figuren, wobei Carlotto (ein alter Trick) die völlig plausible "Systemkritik" von den Bösen, den "Freiberuflern" artikulieren lässt. Fast wollüstig versenkt der Roman alle Werte des politisch Korrekten - er ist auch ein Buch über Frauenfeindlichkeit, aber kein frauenfeindlicher Roman, weil er die strukturelle Frauenfeindlichkeit von Serialkiller-Narrativen deutlich sichtbar macht. Und nicht nur die - »Der Tourist« zerschießt auch andere Formeln (Polizeiroman, Polit-Thriller etc), die gern bemüht werden, um "Sinn" oder ähnliches in die gleichgültige, kontingente Welt zu implantieren. Da fällt ein Serialkiller mehr oder weniger auch nicht mehr ins Gewicht. Und natürlich, siehe Stichwort "neoliberal", "der Markt" will ja bedient werden. textet Carlotto noch schnell ein Sequel an. Das ist, letztendlich, sehr ausgekocht und sehr komisch. Gar zynisch?

Dunkels Gesetz

Eher brav und bieder kommt Sven Heucherts Dunkels Gesetz (Ullstein) daher. Ist schon klar, was das sein soll: Ein deutscher Country Noir, also ein Modell, das es seit zig Jahrzehnten mehr oder weniger sinnvollerweise gibt. Auf jeden Fall retro und so eine Art Malen nach Zahlen. Die dumpfe Provinz von Andrea Maria Schenkels »Tannöd«, der Sumpf und der Dreck und die ekligen Figuren von Jim Thompson bis Donald Pollock, dazu, man glaubt es kaum: Legionärsromantik, die von bösen Schwarzen weggeschossene Liebe, die Hure mit Herz, die fiesen Gauner aus Osteuropa, Markenkunde in Waffen und Alkoholika und auch noch junge Frauen und Pferde. Meine Güte. Außerdem jede Menge steif stilisierte Dialoge ("Die Schnecke, die bei dir eingezogen ist, hat dir wohl die Hirnwindungen mächtig verdreht. Bist'n Liebeskasper geworden", die vermutlich authentisch sein sollen, ein Wert, der eh ziemlich naiv ist), aber noch nicht mal skaz sind. Natürlich ist alles ganz furchtbar und noirnoirnoir, im Zwischenmenschlichen keimt Hoffnung, wie sich's für Kitsch Noir gehört. Und das ganze ohne jegliche Überraschung, ohne Drehs und Wendungen, ohne Komik, ein bisschen wie der Kohlsuppennaturalismus früherer Zeiten. Das ist keine vergiftete Provinz wie manchmal bei Manchette, sondern ein 1:1-Katalog der Klischees, die aber mit großer Pose penibel abgearbeitet und abgehakt.

Giftflut

Richtig Freude macht dagegen Christian von Ditfurths Giftflut (carl's Books). Die Grundkonstellation ist von bestechender Einfachheit: Man kann Europa ganz einfach lahmlegen. Eine paar strategisch kluge Anschläge - auf die Wasserversorgung der Großstädte, auf wichtige Brücken und Tunnel in Paris und London, auf das Berliner Kanzleramt etwa (Ditfurth schießt uns ein paar geliebte Tourist-Spots weg) - und sofort kollabieren "die Märkte", das Finanzsystem kommt ins Schleudern, Chaos, Hektik und Hysterie allerorten. Aber der wunderliche, exzentrische Berliner Kommissar Eugen de Bodt, der für jede Situation das passende philosophische Zitat hat, ist zusammen mit einer gemischten, multinationalen Truppe inclusive befreundeter Finsterlinge und abseits aller normalen Dienstwege und Routinen dann doch genialer als die extrem professionellen Supergangster, die die europäischen Hauptstädte in Trümmer legen und abertausende von Menschen töten. Auch die Supergangster sind verwundbar und arbeiten für eine Macht, die unantastbar (too big to fail?) zu sein scheint und von dem Schrecken profitiert.
      Christian von Ditfurths Chaos-Thriller lässt es lustvoll krachen. Action satt, ohne Handbremse, starke satirische Passagen über das bei aller (Überwachungs-) Technologie so uneffektive Sicherheitssystem und seine politischen Implikationen, mit witzigen, bösen Dialogen und einem lakonischen, sarkastischen Humor. Und mit einem großartigen, dem Hauptplot gegenläufigen Erzählstrang, der zeigt, was ein grimm entschlossener IT-Nerd mit seinem Rucksack gegen fiese HighTech-Gangster ausrichten kann. Der Roman steckt voll aktueller Zeitthemen, die die Sollbruchstellen einer prekär gewordenen "Ordnung der Dinge" nachgerade hellseherisch herauspräparieren - und setzt sie in bunte, extrem vergnügliche Action und Dynamik um, indem er vor ziemlich gemeinen Szenarien gerade nicht zurückschreckt. Die dramaturgische Konsequenz, mit der Ditfurth seinen Plot durchzieht, ist eine schöne Tugend von »Giftflut«. Auch wenn der Roman nur ein klein wenig überzeichnet (naja, ähnlich wie der Vorläufer "Zwei Sekunden" hat aber auch »Giftflut« etwas von einer Machbarkeitsstudie) bietet er eine ziemlich realitätstüchtige Zeitdiagnose. The shape of things to come?

Das Leben des Vernon Subutex

Ein richtiger, klassischer Noir ist Virginie Despentes' Das Leben des Vernon Subutex (KiWi), der erste Teil einer Trilogie, die man in Frankreich schon als den besseren Houllebecq feiert. Da ist was dran. Vernon Subutex ist Schallplattenhändler, dem der digitalisierte Strukturwandel seiner Branche die Beine weggehauen hat. Er verliert seinen Laden, seine Wohnung, seine gesamte bürgerliche Existenz. Das Einzige von Wert, was ihm bleibt, sind ein paar Tonaufnahmen des gerade gestorbenen Rock/Rap-Stars Alex Bleach, die dieser total zugedröhnt aufgenommen hat. Die Devotionalienindustrie, die tote Stars fleddert, ist hinter den Aufnahmen, das bildet das eher flache, noir-typische plot-Konzept des Romans. Die andere Erzählstruktur ist das down-and-out von Subutex. Er steht auf der Straße und versucht, bei den alten Kumpels und Ex-Geliebten unterzukommen. Hier entfacht Despentes ein sprachgewaltiges Pandämonium quer durch die prekäre Boheme von Paris, eine Stadt, die für normale Menschen immer unbezahlbarer wird und vor sozialer Kälte nur so klirrt. Wir treffen die Verlierer und die Gewinner, die, denen es mit den alten Idealen von Musik und Kunst ernst war und die abgestürzt sind, oder die, die sich zu schleimigen Opportunisten entwickelt haben, die auf dem rechten Ticket Karriere machen, die Drogensüchtigen, Kriminellen, die Gewalttätigen und die veritabel Irren. Despentes verknüpft alle diese Figuren virtuos, porträtiert sie gnadenlos genau - ihr Blick ist eisig klar, sie geht an die Kerne ihrer Figuren, bis in die letzten Winkel des Körperlichen. Und überall bilden die ökonomischen Bedingungen die Basis für die menschlichen Beziehungen, deren Sozialität oft schon außer Kraft gesetzt ist. Ein Roman nicht nur über Paris, sondern sozusagen über "uns", insofern wir den nicht-bürgerlichen Weg gewählt haben, ohne die Konsequenzen sehen zu wollen. Humanität und Kreativität sind im betriebswirtschaftlichen Entwurf von Gesellschaft schon lange nicht mal mehr symbolisches Kapital. Exzellentes, böses Buch, großartig.

Giftflut

Ganz fest in der Realität ist auch Yassin Musharbashs Jenseits (KiWi) verankert. Die Geschichte vom abgebrochenen Rostocker Medizinstudenten, der sich in Rakka dem IS anschließt, dort eine Art Karriere macht und plötzlich anscheinend reuig nach Deutschland zurückmöchte, reicht in ihren Verästelungen bis zu Anis Amri und den seltsamen Verhaltensweise der "Sicherheitsdienste". Musharbash aktualisiert die klassischen Elemente des Polit-Thrillers (Maulwurf, Intrige und Gegenintrige, Lecks, Verrat) für ein multivektorielles Szenario, das hauptsächlich von verschiedenen Partialinteressen in Bewegung gehalten wird. Weil der Autor nun mal selbst Journalist ist, spielt Journalismus eine große Rolle, und diese Selbstreferentialität tut solchen Romanen meistens nicht gut, so auch leider hier, weil das übliche redaktionsübliche Hickhack hin und wieder ausufert. Aber das ist nur ein kleines Manko eines ansonsten gelungenen Romans.

Ein irischer Dorfpolizist

Wer sich nach so viel grimmer Realität nach idyllischeren Dingen mit Mord sehnt, ist vielleicht zur Entspannung versucht, sich Graham Nortons Ein irischer Dorfpolizist (Kindler) vorzunehmen, ein ganz und gar reizendes kleines Stückchen über einen unfassbar netten, dicken Dorfpolizisten, in dessen bukolischem Habitat eine Leiche gefunden wird. Das ist jetzt vielleicht nicht die schrägste und originellste aller Grundideen, aber die Entspannung verwandelt sich leider in sanftes Schlummern. Alles sooo nett, sooo liab, sooo gemütlich, so langsam, so betulich, so tüddelig... so schnurch... Für Leute, die Stifters "Bunte Steine" für zu rasant halten.

Manchmal, gerade jetzt, zu Zeiten des Wahlkampfs, mag man es nicht fassen, wenn CDU/CSU und SPD zum Thema "Innere Sicherheit" miteinander kuscheln wie nix Gutes. Dann fällt einem, im Falle SPD, letztendlich doch der Name Noske ein. Nicht, weil sich Geschichte wiederholt, aber weil es durchaus Analogien gibt. Der neuseeländische Historiker Mark Jones schaut sich in seinem kapitalen Werk Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik (Propyläen) minutiös und auf Alltagsquellen (Tagebücher, Zeitungen, Briefen etc.) gestützt, die Rolle der SPD an, die vor lauter Kommunisten (=Spartakus)-Angst nicht vor gröbster Gewaltanwendung (Feldartillerie und Luftwaffe im Straßenkampf, Massaker, willkürliche Gewalt) zurückschreckte, ohne Not, ohne Relation, oft aus bloßer Hysterie, oft aus reinem Machtkalkül. Unter dem Vorwand, die "Demokratie zu retten" arbeiteten die Regierungen Ebert und Scheidemann einvernehmlich mit Reichswehr und Freikorps zusammen und heizten das Gewaltlevel einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft sehenden Auges hoch. Wie gesagt, Geschichte wiederholt sich nicht, sie weist allerdings hin und wieder fatale Kontinuitäten auf. Wichtige Kontextstudie...

Eine sehr schöne und sinnvolle Anthologie hat AvivA-Verlegerin Britta Jürgs zusammengestellt: Was trinken wir? Alles! Texte über und von (vornehmlich) trinkfesten Frauen - u.a. Patricia Highsmith, Dorothy Parker, Irmgard Keun, Mary McCarthy etc.), ein fröhliches Manifest gegen tugendhafte Fadheit, für die Lust am Exzess, für die apollinische Fantasie. Eine Fiesta auf Leben und Tod. Cheeers.

 

© Thomas Wörtche, 2017

 

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