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Celil Oker und der "Verbrechensraum" Mittelmeer

Von Thomas Wörtche

 

"Das städtische Dasein ist ungemein kompliziert" (F. Braudel)

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
hier stehe ich vor Ihnen - als Folge eines intellektuellen Irrtums. Bzw. einer fahrlässigen, routinemässigen Einschätzung eines Themas, die sich als fatal erwiesen hat... Wenn auch - denn sonst stünde ich hier & jetzt vermutlich gar nicht hier - Irrtum & Fehleinschätzung sich letztlich nicht als produktiv, gar spannend erwiesen hätten.

Und das kam so:
Ich sollte, so lautete die durchaus faszinierende Aufgabe, zusammen mit Ihnen nachdenken über den Zusammenhang von Istanbul mit den Romanen von Celil Oker, die in Istanbul spielen und Kriminalromane sind und diese wiederum in Verbindung bringen mit dem gesamten Mittelmeerraum, und das Ganze im Rahmen einer Reihe, die sich mit den Städten Europas und der dort angesiedelten Kriminalliteratur beschäftigt.
      Das ganze Themenfeld finde ich nämlich schon deswegen so interessant, weil es einen Diskurs der späten 80er und frühen 90er Jahre wieder aufnimmt, der schon fast ein wenig verblasst schien. Denn ob "die Stadt ein roman noir" sei, das beschäftigte schon ein sehr prominentes Pariser Festival für einschlägige Literatur, Film und Comics im Jahre 1991; eine der Semana Negras jener Jahre (im nordspanischen Gijón) hatte ciudades negras als Thema und auch aus dieser Zeit stammt eine ziemlich hochkarätige Anthologie namens "Neonschatten" (hrgs. von TW) - prall mit Kriminalgeschichten aus allerlei Metropolen (die mir der Verlag damals u.a. mit dem Untertitel: "Geschichten aus der bösen Stadt" - aber auch sonst - versaut hatte).
      Anyway, ein Diskurs über die Stadt als Sujet einer bestimmten Literatur, Kriminalliteratur nämlich, hatte zarte Triebe gezeigt und war - es kamen die kriminalliterarisch furchtbaren mittleren und späten 1990s und das neue Millenium mit den regressiven Paradigmen Donna Leon und Henning Mankell - wieder entschlafen.

Was aber schläft, wandelt sich manchmal.
Der Diskurs über Städte und ihre Kriminalliteratur ist neu erwacht unter den Auspizien des Regionalen. In der kleinen, ästhetisch marginalen Welt des deutschen "Regionalkrimis" (der inzwischen wesentliche Prozentanteile des gesamten kriminalliterarischen Ausstoßes hat - dieser industrielle Terminus sei an dieser Stelle erlaubt - und schon anfängt, erste Anzeichen von Implosion zu zeigen, weil viele Menschen schlechte Prosa von Mittel-, Unter- und Zwischenmosel einfach nicht mehr ertragen möchten, auch wenn sie mittlerweile die Programme von "Qualitätsverlagen" billig füllen - aber ich schweife ab, sorry), in dieser kleinen, ästhetisch marginalen Welt also hatte sich ein modellhafter Zugang zu Kriminalromanen gebildet, dessen marketingmässiges Potential sich leicht hoch-rechnen ließ: Donna Leons Venedig, Henning Mankells Schonen, Ian Rankins Edinburgh, Andrea Camillieris Sizilien sind touristisch voll erschlossene Biotope für die ganze Familie (und von Fall zu Fall für den feinschmeckerischen Onkel auch - wir kommen später darauf) geworden. Der kriminalliterarische Anteil (geschweige denn der literarische) ist von Fall zu Fall nur noch graduell, wobei ich als Oszillationsspitzen Donna Leon (Ausschlag nach unten) und Ian Rankin (Ausschlag nach oben) vorschlagen möchte.

Weil es aber anscheinend Kriminal-AutorInnen gibt, deren Werk solche Alleinstellungsmerkmale wie "Touristenführer durch Venedig" nicht hergeben, die aber durchaus Aspekte haben, die sie mit anderen AutorInnen der Region teilen, einigte man sich mehr und mehr auf breitere regionale Sortierungen. Der "skandinavische Krimi" und seine Erfolgswelle basiert ja wesentlich auf dem geschickten Kultur-Subventionsprogramm der skandinavischen Staaten - die Texte selbst, etwa in der Spannweite von Matti Rönka aus Finnland zu Leena Lehtolainen aus Finnland zu Lisa Marklund aus Schweden zu Anne Holt aus Norwegen (plus 100 Beispiele mehr) haben in der Tat nur ein einziges gemeinsames Merkmal: Sie kommen evidentermassen aus Skandinavien.
      Boomt eine Region, wenn zum Beispiel der Zeitgeist oder ein Zugpferd dies medial durchsetzbar macht, dann ist eine emsige gemeinschaftstiftende Maschinerie schnell dabei, diese Region auszuweiten: Auf Ian Rankins Erfolge hin wurden plötzlich Autoren wie Stuart MacBride (dessen Bücher in Aberdeen spielen) oder Val McDermid (deren Bücher meistens in Manchester spielen) beispielsweise amalgamiert zum "Tartan Noir" - nolens volens und egal, ob's so nun stimmt oder nicht - und weil Schottland nicht groß genug ist, mussten sich auch Nordengland und Irland und vermutlich auch die Shetlands und die Orkneys zu einem groß-nord-britischen Gesamt-Raum vereinigen. Klar: Das Wetter ist klimazonentypisch, Ernährung und Trinkgewohnheiten dito. Das überrascht eigentlich kaum, wo doch gerade Romane (und nicht nur Kriminalromane) "sachgetreue Topographie" erfordern und der Roman seinerseits eine "empiriefreudige Gattung" ist, wie schon Volker Klotz richtig anmerkte.

Dass, und jetzt kommen wir allmählich wieder zu meinem produktiven Irrtum, in dieser merkwürdigen, gerade für die Kriminalliteratur (oder inzwischen schon für alle Literatur?) typischen Gemengelange aus Marketing und Substanz, der Terminus "Verbrechensraum" mir als erst einmal fröhlich-naive Analogie zu Fernand Braudels Konzept des Kulturraums durch den Kopf ging, das liegt dann doch nahe.
      Schon ein erster Testlauf indes hätte mich stutzig machen sollen. Ich habe bei der vorletzten Buchmesse (also der von 2007) ein Panel mit katalanischen KriminalautorInnen moderiert - und gerade die Katalanenbuchmesse war ja sehr stolz auf die Catalanidad, die nicht nur Barcelona und das Penedés umfassen sollte, sondern auch die Balearen, Andorra, kleinere sardischen Enklaven, historisch gar Athen (ja, das war auch mal kurzfristig katalanisch, im 13. Jhr.) und wegen des ersten kodifizierten Seerechts eigentlich den ganzen Raum von mare nostrum.
      Nachdem man also über die erfreulichen Aspekte jener Catalanidad (die von ein klein wenig bedrängendem Nationalismus nicht so ganz frei ist) und deren Kulturraum geplaudert und deren Vorzüge und Leistungen gelobt und gepriesen hatte, stellte ich die Frage nach einem gemeinsamen "Verbrechensraum" Katalonien oder weiter: Mittelmeer - und stieß auf plötzlich eisiges Schweigen. Bzw. auf wütende Attacken: Es sei ein typisch nordisch-rassistischer Blick donnerte ein auf Mallorquin schreibender Herr, ein Blick, der im Mediterraneum nur stets den schmierigen Levantiner (ha, Sie haben den aparten binnenmediterranen Rassismus bemerkt?) und den kriminellen Korsaren sehe. Der Andorraner hingegen wollte plötzlich als Bergbewohner ohne Mittelmeerzugang gar nichts mehr mit dem ganzen Kulturraum zu tun haben, und die Feministin aus Barcelona hatte überhaupt mit macho-Literatur nie nichts im Sinne gehabt.
      Unter der Bedrohung jenes alten Kulturraums mit dem Verbrechen war man also flugs bereit, eine - anscheinend nur selektiv willkommene kulturelle Kohärenz über Bord gehen zu lassen, von der man zudem noch gar nicht wusste, ob sie überhaupt existiert. Das ist zumindest interessant. Und nach dieser abermaligen Abschweifung, die Sie mir bitte abermals verzeihen mögen, versuche ich jetzt endlich zum Kern meines Irrtums und zum Kern des Themas vorzustossen.

Es geht jetzt also endlich um die Kriminalromane des türkischen Schriftstellers Celil Oker, die allesamt in Istanbul spielen. Es gibt bis jetzt sechs Stück, davon vier ins Deutsche übersetzt: "Schnee am Bosporus", "Foul am Bosporus", "Letzter Akt am Bosporus", "Dunkle Geschäfte am Bosporus" (erschienen bei metro ..., die seriellen Titel korrespondieren mit den türkischen Titeln, die allerdings nicht den Schauplatz als Serienmerkmal nennen, sondern immer eine Kombination mit "XY-Ceset", also "der XY-Tote").
      In der Reihe der türkischen Kriminalliteratur hat Oker eine bemerkenswerte Stellung. Ich will versuchen, sie kurz zu skizzieren: Die türkische Kriminalliteratur ist - so wie der türkische Roman, der erst im 19.Jahrhundert im Zuge etlicher Reformierungswellen im osmanischen Reich, Teil der spezifischen türkischen Literatur wurde - lange Zeit eher ein Rezeptions-Phänomen. Philologisches Bemühen und Graben haben immer wieder nette Einzelstücke gefunden, die man - sogar avant la lettre - als Krimi oder als krimi-afin bezeichnen könnte: Ahmet Midhats "Die Rätsel um die Verbrechen" (1882) etwa - Einzelstücke auf jeden Fall, die produktionsästhetisch kaum Folgen gezeitigt haben.
      Übersetzungen schon eher. Sultan Abdelhümid II (an der Regierung von 1876 bis 1909) war ein Liebhaber und Förderer von Kriminalliteratur und ließ die zeitgeistigen Klassiker von Emile Gaboriau, Conan Doyle und den üblichen Verdächtigen übersetzen, was zusammen mit späteren Übersetzungswellen von europäischen Vorbildern (Agatha Christie, Maurice Leblanc) eine hausgemachte Nachbau-Welle in Gang setzte, die vor allem in den 50er und 60er Jahren durch den ungeheueren Erfolg des Amerikaners Mickey Spillane und seinen Romanen um Mike Hammer noch überboten wurde. Die Türkei raste vor Begeisterung über diese literarische Figur, wobei alle Kenner des Phänomens (auch Celil Oker selbst) versichern, dass die Sympathie einzig und alleine dem modernen Ami Mike Hammer galt, seinen coolen Sprüchen, seinen scharfen Frauen und tollen Anzügen und seinem fröhlichen Verhältnis zur Gewalt. Möglicherweise auch seinem haßtriefenden Anti-Kommunismus, wohingegen man sein sonstiges reaktionäres bis faschistoides Weltbild (schließlich war Spillane nicht nur die kriminalliterarische Stimme des McCarthysmus, sondern auch die stockreaktionäre und rassistische, misogyne Stimme der amoral majority jener Jahre) in der Türkei gar nicht bemerkte bzw. vielleicht auch wegen der Qualität der billigen Übersetzungen auch gar nicht bemerken konnte. Fatalerweise war der Vorrat an Mickey-Spillane-Romane begrenzt (es gab vor 1970 nur zehn Stück), also begann eine türkische Copyrightverletzungsorgie sondergleichen - weit über dreihundert Mike-Hammer-Romane aus türkischer Produktion entstanden, die mit den Büchern von Spillane ausser dem namengebenden Helden nichts mehr zu tun hatten.
      Der solchermaßen doch ein wenig präformierte türkische Kriminalroman füllte dann natürlich die erkannten Erfolgsformeln mit eigenem Personal, blieb aber letztendlich dem klassischen Whodunnit treu. Formal wenigstens - wie zum Beispiel die sehr erfolgreichen und beliebten Romane um den Journalisten Murad Davman aus der Feder von Ümit Deniz, der sich allerdings noch keinesfalls investigativ mit den Schweinereien der Reichen und Mächtigen befasste.

Die Postmoderne, die natürlich in den 1980ern und 1990er auch die türkische Literatur erreicht hatte, sorgte für die global üblichen "Spiele mit den Versatzstücken des Genres", wie die weit überstrapazierte und meist falsch angewendete Formel heißt - dazu kann man Teile von Pinar Kürs Werk rechnen, ganz sicher Orhan Pamuks "Schwarzes Buch" und auch Zafer Senoçak lieferte von Berlin aus einschlägig Kriminelles über Istanbul. Ebenfalls aus der nicht-genre-dominierten Literatur kommend, dafür politisch aber eindeutig im Umkreis der türkischen KP positioniert, waren und sind die Bücher von Ahmet Ümit - eher politische Romane mit schwachen suspense Elementen denn Polit-Thriller sui generis, wenn auch mit der Funktion von Polit-Thrillern, nicht-offiziöse Protokolle und Kommentare zu den jeweiligen unschönen und "schmutzigen" Aspekten der Zeitläufte zu sein. Der durchschnittliche türkische Krimi erschöpfte sich weiterhin in harmlosen Mordrätselgeschichten, wie sie - Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen - überall auf der Welt funktionierten und funktionieren.
      Der Innovationsschub, den Oker für den türkischen Kriminalroman markierte, war vielleicht kein großer Schritt für die Ästhetik und Poetik des Kriminalromans in seiner Spitzenklasse, aber auch nicht nur relativ für den türkischen Kriminalroman. Oker, der mit dem ersten Roman um seine künftige Serienfigur, den Privatdetektiv Remzi Ünal, einen Wettbewerb des berühmten literarischen Café Kaktus für den besten neuen türkischen Kriminalroman gewann, transponierte die bis dato eher rein literarische Tradition des türkischen Krimis ins kontextuelle Hier und Heute.
      Freilich ohne auf Literarizitätssignale zu verzichten. Diese Literarizitätssignale wiederum rühren von einer politischen Reaktion auf lebensweltliche Realitäten her. Remzi Ünals Profession, Privatdetektiv nämlich, existiert so, wie wir den Privatdetektiv aus der Literatur und auch aus unseren Lebenwelten (der amerikanischen und der europäischen) kennen, in der Türkei nicht. Dazu kommt - aus politisch-ästhetischem Kalkül -, dass bei Oker die Polizei und andere Organe der Staatsgewalt sehr signifikant nicht vorkommen. Okers Auffassung, der zufolge die Türkei zwar kein Polizeistaat sei und auch kein total totalitärer Staat, die Verfaßtheit der Ordnungsmacht aber durchaus polizeistaatlich, autoritär und permanent nicht-rechtsstaatlich, verschiebt die Koordinaten seiner Romane ins leicht Surreale - wo nach jeder literarischen und lebensweltlichen Logik die Polizei vorkommen muß, da ist bei Oker ein völlig unmarkierter narrativer weißer Fleck. Das ist natürlich auch ein hübscher running gag und ironische Irritation gleichermassen.
      Dazu kommt ein ganz und gar absichtsvolles Programm der Sachlichkeit. Remzi Ünal schneidet, ganz klassisch für die gesellschaftsanalytische Tradition des Kriminalromans seit Ross Macdonald, durch die Schichten der türkischen Gesellschaft. Soweit sie, das muss man an der Stelle ganz laut dazu sagen, eine moderne, urbane Gesellschaft ist. Ünal bekommt es mit ganz normalen Drogendealern und dem Universitätsmilieu (Istanbul hat mehr als zwanzig Hochschulen) zu tun, ermittelt unter Modedesignern und beim bezahlten Fußball, kümmert sich um illegale Spielhöllen und Off-Off-Theater, um IT-Business und lokale Politik.
      Ünal hält sich von den Modesujets der internationalen Kriminalliteratur weit entfernt - keine Geheimbünde, keine Serialkiller, keine nekro-kopro- und andere -philen Psychopathen, keine Superhelden, Geheimagenten, Fanatiker, keine sexuellen Obsessionen, keine Verschwörungen, keine Gemetzel, keine Kinderschänder und überhaupt keine Geisterbahn. Okers Kriminalromane sind, so könnte man sagen, die Literatur der Deeskalation genreliterarischer Devianz. Dadurch wirken sie extrem realistisch, gar bieder. Aber sie sind im Grunde sehr dialogisch ... Womit und wogegen, das werde ich versuchen, zu zeigen.
      Und muss dafür wieder an den Anfang meiner Überlegungen zurück. Die Vorstellung, neben oder anstatt der oben angedeuteten marketing-gestützten Kategorie eines "folkloristischen Raums" mit Fernand Braudels Konzept des Kulturraums als Verbrechensraum auch hinsichtlich fiktionaler Texte arbeiten zu können, ist auf den ersten Blick mehr als verführerisch, gar zwingend.
      Die geringste methodische und sachliche Hürde ist dabei der Transfer der Rede vom "Kulturraum" zum "Verbrechensraum". Was unsere Katalanen von oben so empört hatte, war ja nur das Zusammendenken von Kultur und Verbrechen als komplementäre menschliche Interaktionsformen. Man muß an dieser Stelle nicht Jerome Charyns berühmtes Diktum: "Where there is crime, there is money and where there is money, there is culture" zitieren, man kann diesen Zusammenhang auch aus der einläßliche Lektüre von Braudels Mammutwerk "Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II" (seit 1949 in immer neuen Auflagen erschienen und einer der großen wissenschaftlichen "Klassiker" des 20. Jahrhunderts) herleiten. Aus den unzähligen Passagen und Stellen nämlich, an denen Braudel selbst über die verschiedenen Formen des makrostrukturellen Verbrechens schreibt, über die Ubiquität von Piraterie, Banditentum, Krieg und Gewalt. Und überhaupt von der "Einlagerung", z.B. von sozialen Revolutionen und Umbrüchen aller Arten, "ins Verbrechen."
      In seinem drei Ebenen-Modell (unbewegte Geschichte - Geografie, Klima etc.-, langsame Geschichte - Wirtschafts- und Sozialgeschichte-, und abrupte Geschichte - Ereignisgeschichte -. ) würde Braudel das Verbrechen auf der zweiten Ebene ansiedeln. Denn, wie Wolf Lepenies in einer schönen Hommage an Braudel richtig bemerkte, seinem Mißtrauen gegen die Ereignisgeschichte steht eine schon fast wollüstige akribische Neigung zu langsamere Typen der Geschichtsbewegung entgegen - und dazu gehört natürlich die Verbrechensgeschichte des Kulturraums, die Braudel sozusagen in schönster Korrespondenz zu den anderen historischen Bewegungen ausrichtet.
      Dieses methodische Problem also soll uns nicht stören. Verbrechen ist konstitutiver Teil von Kultur.
      Das allerdings gilt für Realitäten.
      Wir aber reden von Fiktionen.
      Also müssen wir versuchen, den Konnex von Raum, Verbrechen und Literatur herzustellen. Das geht dann aber nur - fürchte ich - wesentlich vermittelter, wenn überhaupt:

Denn wenn wir mit und im Sinne Braudels von einem Verbrechensraum reden, kann nicht der übliche, kleinteilige Raum gemeint sein, der als Zimmer, locked room, Orientexpress oder Fahrstuhl zum ewigen Sujet-Vorrat von Literatur, Film und Drama gehört, und eben, wenn mit einem Mord verbunden, zum klassischen Kriminalroman. "Der Tod und der Kompass" von Jorge Luis Borges (beziehungsweise die berühmten "Seis Problemas por Don Isidro Parodi" von Borges und Bioy Casares) haben alle ludistischen Komponenten dieser Konstellation schon lange durchgespielt, parodiert und - wenig überraschend - aus dem Feld "realistischer" Literatur hinausgespielt.

Auch die nächtlichen und dunklen Ecken, die dann schnell zu den "dunklen Ecken" der Gesellschaft zu symbolisieren sind und in der Hell/Dunkel-Metaphorik von "Unräumen" (according to Elisabeth Bronfen) aufgehen, sind nicht gemeint. Desgleichen nicht die gekerbten und glatten Räume, die Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihren "Eintausend Plateaus" vor Augen haben. Nicht die Stadt als Generierungsmaschinchen für Logozentrik (according to Roland Barthes), nicht die von Pierre Bourdieu beschriebenen "physischen, sozialen und physisch angeeigneten Räume" und nicht Anthony Giddens' gesellschaftsstrukturierende Raumtypen. All diese mehr oder weniger ins Terminologische resp. ins Metaphorische übersetzte Raum-Begrifflichkeiten, sind hier weniger von Interesse.
      Und noch ein letzter Ausflug in diese Begriffsräume sei erlaubt: Wenn man an dieser Stelle auf den Bachtin'schen "Chronotopos" gewartet hat - hier ist er.
      Und gleich wieder weg, denn er ist ein zwar ungemein anregender, aber kaum operabler Terminus. Das an sich einleuchtende Programm, "die literarische Aneignung der realen historischen Zeit und des realen historischen Raumes sowie des - in ihnen zutage tretenden - realen historischen Menschen" mittels des "Chronotopos" zu beschreiben, hört sich zunächst plausibler an, als es die Absicht Bachtin war, der auf eine Zertrümmerung und Subversion der "traditionellen europäischen Literaturgeschichtschreibung" zugunsten einer "diskontinuierlichen, infinitesimal unterteilbaren Evolution unterschiedlichster Subgattungen" abzielt - ein seinerseits zwar möglicherweise sehr sinnvolles Unternehmen (gerade angesichts der prekären gattungstheoretischen Positionierung von Kriminalliteratur), aber hier nicht unser Thema.

Unser Thema zwingt uns vielmehr immer weiter zu Unterscheidungen, die wir treffen müssen - und die, wie wir später sehen, im Hinblick auf Celil Okers Istanbul-Romane, relevant werden.
      Wenn wir also jetzt den "metaphorischen" und den terminologisch regierten "Raum" diskutierend ausgeschlossen haben, bleibt der ganz reale Mittelmeerraum als Verbrechensraum übrig.
      Und der ist in seiner Spezifik ein Transit-Raum. Er bietet Schiffahrtsrouten, was den Verkehr aller denkbaren illegalen Waren anbietet. Dabei ist das Mittelmeer den großen Ozeanen untergeordnet, weil sowohl die Kontrabande, die an Spaniens Küsten und in den Häfen von Neapel und Genua gelöscht wird, entweder via Suezkanal und Indischer Ozean oder via Atlantik hereinkommt. Die Adria ist nur ein kleiner, aber wichtiger Zwischen-Kanal für alles, was aus Osteuropa und Kontinentalasien kommt, im Transit nach Nord- und Westeuropa. Aus Afrika und Asien kommen Menschen, in Kairo, Barcelona, Genua, Marseille und eben Istanbul werden allerlei Waren umgeschlagen, dort ist Logistik angesiedelt. Halbfertigprodukte wie Coca-Masse und andere chemische Produkte, wie sie früher auf Korsika und im Großraum Marseille verarbeitet wurden, sind selten, weil unrentabel geworden. Der Bedeutungsverlust des Mittelmeers, den Braudel ab 1492 festmacht, ist auch hinsichtlich des Organisierten Verbrechens längst Faktum crudum. Militärische Optionen (israelische Marineoperationen, libanesische Bürgerkriegsaktionen, terroristische Logistik zum Beispiel) lagern, nach gut Braudel'scher Manier, verbrecherische in politischen Zusammenhänge ein - oder vice versa. Die off-shore-banking-Operationen des russischen OKs, die terror- und machtpolitischen und damit auch "diplomatischen" Stützpunkte Malta und Zypern (für "Schurkenstaaten" wie Libyen oder Syrien oder Libanon), die langen, schmuggelfreundlichen Küsten Spaniens, die Waffenlieferungen über die Adria, die Markenpiraterie-Zentrale Italien in Kooperation mit Shanghai und Mumbay - all dieses bildet längst keinen spezifischen "Verbrechensraum" Mittelmeer mehr, sondern ist schlicht Teil des Netzwerkes globaler Kriminalität.
      Lokale Mächte können davon profitieren, politische Macht kann versuchen, daraus Kapital zu schlagen - die Fluktuation zwischen legal und illegal dabei ist enorm. Und das ganze ist Ausdruck weniger von "Ereignisgeschichte", sondern von Strukturwandel (wie zum Beispiel die vorzüglichen Arbeiten von Moses Naim und Misha Glenny zeigen, nur von Mafia-Folklore à la Saviano sollte man in diesem Zusammenhang die Finger lassen, klar ...). Ein Verbrechensraum Mittelmeer wäre also kaum analog einem Kulturraum Mittelmeer zu konstruieren - er ist auf diesem Gebiet globalisierter als manche Kulturparameter, die eher von konservativer Trägheit sind.
      Dennoch ist - zum Beispiel - der Mittelmeerraum kulinarisch konsistent - Olivenöl-based wie er nun mal ist, mit ähnlichen Kräutern, Gemüsen, Früchten und Fischen, von Venedig bis Tunis, von Valencia bis Kairo und von Marseille bis Istanbul - das antike Erbe schlägt bei diesen Basics noch durch und ist persistent und angesichts dieser noch aktuell funktionierenden, keinesfalls zu "Erinnerungsräumen" reduzierten Aspekte, kann man Braudels Mißtrauen gegen kurzatmige Ereignisgeschichte verstehen...

Aber natürlich evozieren gerade solche Konsistenzen die Hoffnung und die Chance, den Großraum für ein präziseres Verständnis der Literatur, in unserem Fall der Kriminalliteratur, die in ihm entsteht, zu gewinnen.
      Gerade die in letzter Zeit aufkommende Rede vom mediterrenean noir im traditionell auf das Mittelmeer focussierte UK oder - etwas zögerlicher - noir méditerranéen im nicht ganz so kategorienfreundlichen Frankreich, kaprizierte sich ausgerechnet auf den Parameter Kulinarik. Man stellte nicht nur auf einem netten kleinen diesbezüglichen Symposion in Barcelona vor ein paar Jahren fest, dass man im mittelmeerischen Kriminalroman einfach besser ißt und trinkt als etwa im skandinavischen.
      Celil Oker, der auch an dieser Konferenz teilgenommen hatte, musste sich da aber erstaunlicherweise ganz und gar nicht wie der große Aussenseiter gefühlt haben, denn seine Figur Remzi Ünal nährt sich hauptsächlich von fast food, trinkt hastig ein Becher Rettichsaft und unzählige Tassen Kaffee und mümmelt schnell, wenn's köstlich sein soll, ein halbes Tier vom Hühnertod.
      Yasmina Khadras Kommissar Llob, der in Algier zu viel zu tun hat, um überhaupt zu überleben, kommt wenig zum essen, Petros Markaris knurriger Athener Bulle Kostas Charitos läßt sich nicht besonders spektakulär bekochen und wenn wir alle bekannten mittelmeerischen Helden der Kriminalliteratur eßtechnisch durchdekliniert halben, bleiben von den autochthonen eigentlich nur noch Pepe Carvalho von Vázquez Montalbán, Fabio Montale, der ex-Flic banlieu von Jean-Claude Izzo und Andrea Camillieris deswegen schon reverenzhaft getauften Commissario Montalban.
      Abgesehen natürlich davon, dass Kulinarik als Sujet zwar amüsant, aber kaum ein Merkmal sinnvollerer literarischer Kategorisierung ist (fürs Feuilleton und den Unterhaltungswert unseres Themas natürlich unschlagbar), abgesehen davon, gelingt es also noch nicht einmal, aus diesem Thema Konsistenz zu gewinnen .... (Und, um diesem Einwand gleich zu begegnen: Natürlich setzen Designer-Autoren wie Donna Leon oder Veit Heinichen et al. genau auf diese Baukastenpoetik, wobei Essen und Trinken eben nebst anderen Attributen angeblich "mediterranen Lebensstils" prächtig für den Massenerfolg in der allgemeinen medialen Auswertung dieser Vorlagen funktionieren ...)

Geschweige denn würde eine Motiv- und Stilanalyse, eine Betrachtung von point-of-view oder "ideologischem Standpunkt", ein Formvergleich oder welche Analyseebene man immer wählen könnte, Befunde bringen, die unterhalb der Bestimmung: "Privatdetektivroman" oder "Polizeiroman" Distinktes über Gemeinsamkeiten sagen könnte.
      Yasima Khadras wesentlich karnevalistisch verfasste Geschichten aus dem algerischen Bürgerkrieg, Montalbáns Zeitkommentare zur transición und dem sozialdemokratischem juste milieu Spaniens, insbesondere Kataloniens, Petros Markaris Polizeireports aus einem provinziellen Griechenland, Jean-Claude Izzos melancholische Balladen aus Marseille - sie alle sind nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.
      Wenn wir einen kleinen Katalog der Verbrechensfelder aufstellen, werden wir auch da mit einer heillosen Vielzahl von Verbrechenstypen konfrontiert: Der Zusammenhang von klassischem Gangstertum und politisch rechtsradikalem Milieu plus Polizeikorruption bei Izzo, Terror, Bürgerkrieg und Kriegsgewinnlertum, Fanatismus und blinde Gewalt bei Yasmina Khadra, gewinnorientierter Profiterrorismus bei Markaris, La Mafia (classica) bei Camillieri, Gewaltexzesse bei (dem m.E. wichtigeren, aber unbekannteren Barcelona-Autor) Andreu Martín, politisch motiviertes Verbrechen bei Vázquez Montalbán - wir werden nichts wirklich kondensieren können - und bis auf lokale Einfärbungen - la mafia, Union Corse, Front Nationale - trennscharf Mittelmeerisches finden können.

Und ausgerechnet im Falle Istanbul, das laut Braudel schon zu Zeiten Philipps II keine Stadt mehr war, sondern ein "urbanes Ballungsgebiet, ein Ungeheuer", ein "urbanes Ungetüm" eben, erhebt sich bei der Lektüre der Oker'schen Kriminalromane der Verdacht, auf einen weiteren, von Braudel betonten Aspekt zu stoßen: Auf die "graue Alltagsgeschichte der Städte", wie er es nennt.
      In "Letzter Akt am Bosporus" muß Remzi Ünal zu einem Treffen mit Klienten mit einem gläsernen Außen-Aufzug in ein Penthaus hoch über dem Bosporus fahren:

"Der Fahrstuhl fuhr ohne zu vibrieren hoch. Sobald man die Wände des Innenhofs unter sich ließ, eröffnete sich eine Aussicht auf den Bosporus, der einem den Atem stocken ließ, wenn man sie zum ersten Mal erlebte. Auch wer von Istanbul nur Fotos gesehen hatte, konnte die Burg Rumelihisar von hier aus erkennen .... Die Erde blieb weit zurück, die Busse auf den Straßen verloren zusehends ihre imponierende Größe. Ich unterdrückte mein Verlangen nach einer Zigarette. Ich betrachtete das wunderbare Panorama und atmete tief ein und aus.... Bevor ich ausstieg blickte ich noch einmal auf den Bosporus. Wenn es doch nicht so schön wäre, sagte ich zu mir selbst. ... Die Gäste waren in kleinen Gruppen im Raum verteilt, unterhielten und bewegten sich leise zum Rhythmus der Musik. Niemand beachtete die Skyline von Istanbul hinter der Glasfront, die die ganze Wand einnahm."

Und erst als im Lauf der Handlung eine junge Frau durch besagte Glaswand bricht und in die Tiefe stürzt, wird das überwältigende Panorama wieder zum Thema:

"Auf ihrem Weg befand sich nur die über die gesamte Wand reichende Glasfront mit dem Bosporus-Panorama dahinter. Sie konnte nicht stoppen ... Es schien, als ob das Glas standhalten würde, aber es hielt nicht stand ... Die Bosporus Luft drang in meine Nase. Instinktiv sog ich die saubere Luft tief ein."

Das ist, ich habe es schon angedeutet, das minimalistische Gegenprogramm zu allem, was man an Stadt-Thematisierung erwarten darf. Besonders signifikant, weil es sich ja nicht um irgendeine Stadt handelt, sondern um Istanbul, die neben Kairo dichtbesiedelste Megapolis der Region. Kairo hat geschätzte 16 Millionen Einwohner, Istanbul geschätzte 12 Millionen (wobei die demographischen Werte nicht verläßlich sind). Athen mit 2,8 Mio, Algier mit 2,5 Mio Barcelona mit 1,6 Mio sind die nächsten, deutlich kleineren Mitspieler, die Städte mit den verbrechensnotorisch aufregenden Namen sind noch kleiner: Neapel 1 Mio, Marseille 800.00, Palermo 670.000, Genua 620.000.
      Die anderen Merkmale Istanbuls aufzuzählen, ist beinahe müßig, ein paar will ich einfach der Vollständigkeit halber erwähnen. Die Stadt besteht aus drei historischen Schichten: Byzanz, dem osmanischen Konstantinopel und dem heutigen Istanbul, mit den beiden bekannten Teilen: Dem europäischen und dem asiatischen, in Begriffen der Geographie. Im politischen Sinne - wir kennen die Beitritts-Diskussion - unentschieden, ebenso im dauernden Spannungsverhältnis von Säkularstaat und aufkommendem Islamismus, belastet mit einem janusköpfig verfassten Militär, das einerseits die säkularen Werte stabilisiert, andererseits dies mit teilweise polizeistaatlichen und totalitären Mitteln tut. Istanbul hat - wie die gesamte Türkei - mit den unaufgeräumten Verhältnissen zu den Kurden zu tun, zu den Armeniern. Illegale Einwanderung ist ein dickes Problem. Die Stadt (wie die gesamte Gesellschaft) ächzt unter erheblicher Korruption - sowohl Alltagskorruption als auch makrostruktureller Korruption. Teilweise war es - erinnern Sie sich bitte an Tansu Çiller - dem Organisierten Verbrechen gelungen, beinahe offiziell die politische Macht zu übernehmen.
      Istanbul wird gequält von kontaminiertem Trinkwasser und erheblicher Luftverschmutzung, leidet unter stets kollabierendem Autoverkehr, hat eine veritable Katzenplage und natürlich in der Peripherie, die sich allmählich auch schon in die alten, traditionellen Wohnviertel schiebt, eine Verslummung, die inzwischen - laut Mike Davis's "Planet of Slums" (2006) auf 42% gewachsen ist und für die gesamte Türkei (by the way, weil so etwas immer gerne aus dem Blick gerät) auf 19,1 Millionen an "überschüssiger Menschheit" (wie der verzweifelt-hilflose Zynismus lautet) zu beziffern ist.
      Pracht, Glanz, Hagia Sophia und Topkapi, der Taksim Platz und die Süleymaniye-Moschee erweisen sich gegen diese Komplexionslage in der Tat als reine tourist spots - und das wiederum hat Konsequenzen für unser Nachdenken, wie sich Stadt als kriminalliterarisches Sujet präsentieren könnte.
      Denn für eine vereindeutigende Lesart ist die Gesamtlage zu unübersichtlich. Ville panique - aber nicht überall, Nekropolis, sicher, aber das kriminalliterarisch noch kaum berührte Kairo hat da mehr zu bieten; Megalopolis, Gigapolis, gar Metropolis oder "Gotham" haben kaum explikative Kraft.
      Man kommt auch an dieser Stelle der Argumentation vermutlich auch nicht darum herum, sich die Genese und Ausfaltung des Diskurses über den Zusammenhang von Literatur und Großstadt ein bisschen zu vergegenwärtigen: Literarische Repräsentation von realer Wirklichkeit und die Wahrnehmung von realer Wirklichkeit, die auch von literarischer Repräsentation wesentlich geprägt wird, stehen in einem engen, dialektischen, extrem polyvalenten Verhältnis. Blättern wir seit Charles Baudelaire oder Edgar Allen Poe durch die Klassiker - Dickens, Döblin, Dos Passos, Gogol, Beljy, Musil, den gesamten deutschen Expressismus Georges Simenon etc. -, incl der Klassiker der Sekundärbearbeitung à la Walter Benjamin, so sehen wir immer wieder den erstaunten, faszinierten Blick auf ein Experimentierfeld der Moderne, auf die "Laboratorien der Zivilisation", wie Braudel die großen Städte in der Zeit seines Untersuchungszeitraums nennt - also Neapel, Madrid und Istanbul.
      Dieser staunende, moderne Blick auf die Stadt ist dort positiv besetzt, wo er gegen das theologisch-moralisch fundierte, zivilisationskritische Raster der "Hure Babylon" gesetzt wird, wo die Stadt aber nicht als moralisch diskreditierter, eher dystopischer Ort behandelt wird. Wobei dieser verurteilende Topos, der seit Eichendorff spätestens subkutan in fast alle Stadt/Land-Dialektiken Einzug gehalten hat - verspätet und wie ein Revenant bezeichnenderweise im Kriminalroman, besonders aber bei Henning Mankell wieder belebt wird - und damit auch nicht nur eine formale Regression dieses Typs von Kriminalroman, sondern auch eine harsch konservative Haltung belegt.

Selbst noch in Konzepten wie der "Unwirtlichkeit der Städte" - Alexander Mitscherlich 1965 -, der "Unwirklichkeit der Städte" - Klaus Scherpe 1988 - sowie in sämtlich anderen Versuchen, Stadt als ästhetischen Ort, als imaginäre Einheit, als Event-Raum, als Halluzination, als Ernteort für "social botanizing" (according to Henry James), ja, selbst noch als neo-barocker "Schau=Platz" für Verbrechensszenarios, die vermittels "local knowledge" (according to Clifford Geertz) literarisch besetzt werden können, wie der geschätzte Jochen Vogt hofft, selbst in solchen Entwürfen also siedelt etwas bei aller Reflexionshöhe Naives.

Nämlich der Verdacht, weil man möglicherweise genuin literaturwissenschaftlich, gattungstheoretisch oder anderweitig fachdisziplinär nicht mehr weiterkommt, und weil so ziemlich alle Turns (von gender bis icon, seit neuestem military, wie ich gerade gelesen habe) der letzten Jahrzehnte eher Erkenntnisfortschritt simuliert, denn tatsächlich generiert haben, man sozusagen einen neuen "Re-Load" versuchen möchte.
      Tatsächlich findet man in jeder narrativen Gattung Substrate, meinethalben auch Substanz genug, um dadurch zu anderen Disziplinen, vor allem zu Soziologie, Anthropologie, Geschichtswissenschaften etc. Korrespondenzen herzustellen.
      Das alte Problem aber, das schon Volker Klotz 1969 in der "Erzählten Stadt" aufgeworfen hat, dass nämlich der Roman bekanntlich eine schon zur Prosa vorstrukturierte Wirklichkeit (according to Hegel) notwendig braucht und es nur darum gehen kann, ob es eine bestimmte Affinität der Gattung Roman zur Großstadt gibt, die über das rein Sujethafte hinausgeht - dieses alte Problem hat sich verschärft: Mit der zunehmenden Erstarkung des Kriminalroman als "realistisches Universalgenres" (according to Boris Groys, der damit beweist, dass man auch ohne jede Kenntnis des Gegenstandes knackige Slogans produzieren kann) wäre es natürlich in einem bestimmten Sinn wünschenswert, wenn man eine noch genauere und noch festerer Affinität, gar Generierungsmacht des Groß/Mega-/Giga-Städtischen mit dem Thema Gewalt und Verbrechen etablieren könnte.

Von einer Fahrt auf den uns spektakulär erscheinenden Wassern des Bosporus (im Roman "Dunkle Geschäfte am Bosporus") erzählt Remzi Ünal nur lakonisch:
      "Auf der Rückfahrt saß ich im geschlossenen Deck des Schiffes. Während der gesamten Fahrt las ich in einer Zeitschrift, die ich an einem Kiosk in der Nähe der Anlegestelle gekauft hatte. Ich schaute mich kein einziges Mal um."
      Diese in ihrer Barschheit schon fast wieder poetische Reduktion von Wahrnehmung, ist beredt: Die Literatur der Postmoderne, ihre Ironie, ihre Raffinesse des Zitieren, ihrer Völlereien und Orgien der Pleonasmen, ihre Kombinationsfreude von Disparatem hat suggeriert, der Komplexion der modernen Welt wenigstens einen adäquaten Ort außerhalb der Virtualität zuweisen zu können - die Big City.
      Und die Kriminalliteratur, von der Postmoderne wie von jeder anderen literaturgeschichtlichen Evolution nicht unberührt, war dito begeistert, mit ihrem Konnex zu der Großstadt einen dito genuinen Ort gefunden zu haben. Nicht umsonst kann man ein Bündel von gleichlautenden Äusserungen der feinsten Namen der Kriminalliteratur seit Robert Louis Stevenson und Gilbert Keith Chesterton über die Rolle der jeweiligen Stadt zusammenstellen: Von Thomas Adcocks "New York ist meine Hauptfigur" über Jerome Charyn, Pieke Biermanns "Ich schreibe Berlin", Jean-Claude Izzo, Christopher G. Moores Bangkok - und eben zu Celil Oker über Istanbul: "Ich habe das Gefühl, dass die eine Hälfte meiner Bücher von der Stadt Istanbul geschrieben worden ist...".
      Seltsam ist dabei aber, dass Okers Remzi-Ünal-Saga in dem Debut-Roman "Schnee am Bosporus" mit der Beschreibung des O'Hare Airport ( dem Großflughafen von Chicago) im Flugsimulator, also virtuell, beginnt, und dass, bevor der Held anfängt, sich in Istanbul zu bewegen, er zunächst einmal nach Adana resp. Taros reist. Denn Oker teilt mit vielen expliziten Stadt-orientierten (Kriminal-)Literaten das Privileg des "fremden Blicks". Er stammt aus Kayseri und die Perspektive auf seine Stadt wird davon nicht untangiert bleiben, so wie sich die Intensität von Georges Simenons Blick auf Paris auf der "fremden" Perspektive des zugezogenen Belgiers gründet.

Aber dieser Enthusiasmus impliziert auch die Hoffnung, in der Großstadt den genuinen Grund und die genuinen Bedingungen für das Verbrechen gefunden zu haben - ein Echo, möglicherweise gar contre cœr, der alten Moral-Diskussion um die Stadt als Ort des Bösen, der Devianz und des Lasters.
      Der auffällig fehlende, zu seinem Statement über die Rolle der Stadt gar im Widerspruch stehende, Enthusiasmus Okers für seinen Schauplatz und die daraus resultierende Kargheit der Beschreibung von Stadt und die genauso auffallende Weigerung, Istanbul-typische Verbrechen zu behaupten und zu erzählen, ist der wirklich spannende Punkt der ganzen Angelegenheit.
      Denn in Okers Kriminalromanen kommt so gut wie gar nichts vor, was "typisch", "touristisch", "ordnungspolitisch bedenklich", "ideologisch betrüblich", "weltpolitisch relevant" oder nur "zeitgeistig diskursiv" wäre. Es kommen, ein klassisches Minus-Verfahren (according dem Russischen Formalismus) nicht nur keine kriminalliterarisch-konjunkturelle Verbrechen wie Kinderschänden und Serienmorden vor, sondern auch keine Dinge, die man in irgendeinem "Erwartungshorizont" hinsichtlich Byzanz/Konstantinopel/Istanbul implizieren würde. Keine Islamismen oder andere Theologie, keine gender-Debatten, kein OK, nur ein bisschen korrupte Alltagspolitik, keine Klassen- und Verteilungskämpfe, kein ethnischer Terrorismus und überhaupt keine aufgeregten Haupt- und Staatsaktionen, statt dessen Familienkonflikte, Beziehungstaten und andere völlig ubiquitäre Verbrechen aus dem unendlichen Pandorabüchslein der Conditio Humana.
      Der "Verbrechensraum" Mittelmeer oder Istanbul oder Big City wird von Celil Okers Romanen wenn nicht ignoriert, so doch korrigiert. Die Entsorgung von "Verbrechen", literarisch und damit auch (wenn auch sehr vermittelt) lebensweltlich, in bestimmte Bereiche, in bestimmte Spezimen ist angesichts der Ubiquität von Gewalt und Verbrechen als menschliche Interaktionsformen nicht mehr machbar. Ein auf dem literarischen Weg gefundener Befund, der mit der These von Jan Phillip Reemtsma analogisierbar ist, dass Gewalt (und Verbrechen und die ganzen Cluster angeschlossener Phänomene) derart obsessiv perhorresziert und dann in einzelne Bezirke (egal auf welchem Level der Sortierung, lebensweltlich und reflexiv) abgeschoben werden, so dass man ihre fürs menschliche Zusammenleben konstitutive Bedeutung entweder ideologisch bearbeiten oder eher indolent ignorieren kann. Und diese Ignoranz ist dann freilich fatal.
      Der Kulturraum Mittelmeer und speziell der Kulturraum Istanbul ist - so gesehen - sehr wohl ein Verbrechensraum und damit ein sehr humaner Raum. Deswegen kann Remzi Ünal auch angesichts des Spektakulären beruhigt einfach in seiner Zeitschrift lesen.

Und ich kann, am Ende, beruhigt zugegeben, dass mein Irrtum und meine Fehleinschätzung anfänglich daran bestanden hat, dass ich der Meinung war, zwischen zwei Sinn-Systemen wie Literatur einerseits und Sozial/Wirtschafts/etc-Geschichte andererseits, ließe sich ein bedeutend weniger vermittelter Zusammenhang herstellen - zumindest in einer auf den ersten Blick allzu plausibel erscheinenden Konstellation. Luhmanns alter Kalauer, dass die Beziehung einer Gesellschaft zu den Sinnsystemen, die sie benutzt, keinesfalls beliebig ist, stimmt noch immer. Und noch immer weiß man nicht genau, welcher Art diese Beziehung nun wirklich so ganz genau ist. Das hat auch etwas Tröstendes.
Vielen Dank!

© Thomas Wörtche, 2008
(Vortrag, gehalten anläßlich der Ringvorlesung: Europa im Krimi
WS 2008/2009, TU Darmstadt, Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft,
am 28.10. 2008
)

 

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