Die heitere Absurdität in den Romanen William Marshalls
Von Thomas Wörtche.
Der maschinelle Massenausstoß von kriminalliteratur-suspekten Texten hat auch die fatale Folge, daß man den Plunder nur noch grob nach Themen sortieren mag: Lustmörder, Präsidenten, Städte. Aus gegebenem politischen Anlaß sind gerade Romane interessant, die in Hongkong spielen. Die heißen dann "Hongkong"-Thriller und können unter diesem Schlagwort abgelegt werden. Manchmal haben solche albernen Konjunkturwellen sogar eine guten Nebenwirkung:
Seit genau 25 Jahren sehen sich Harry Feiffer, Christopher O'Yee, Bill Spencer und Phil Auden, Kriminalbeamte des "Yellowthread Street" Reviers der Royal Hong Kong Police, mit unglaublichen Vorfällen und bizarren Delirien konfrontiert: Mit Leichen, die aus fremden Körperteilen zustammengestückelt sind, einem Astronauten, der mit einem Flammenwerfer mordet, einer Riesenkatze, die Polizisten mit Pfeil und Bogen erlegt, einem Killer, der die Tiere eines ganzen Zoos abschlachtet, japanischen Soldaten, die 1992 die Kronkolonie angreifen, aber allesamt schon 1943 gestorben sind - um nur ein paar ausgewählte Beispiele aus der deutlich pyromanen und abgedrehten Phantasie des australischen Schriftstellers William Marshall zu zitieren. 1972 entstand der erste Roman aus der Serie mit dem programmatischen Titel "Yellowthread Street", gerade ist in den USA der 15. erschienen: "Nightmare Syndrome". Die Übergabe Hongkongs an die Volksrepublik China wird nicht das Ende des Projekts bedeuten. Feiffer & Co. werden neue Dienstherren haben, und die daraus todsicher resultierenden neuen Bizarerrien kommentiert Marshall vorfreudig erregt mit den Worten "oh what a fun, oh what a nightmare!".
"Nightmare" und "fun" sind die Eckwerte, zwischen denen Marshalls Romane hin- und herpendeln, wobei letztlich der Ausschlag eher zu "Nightmare" geht. Die heitere Absurdität - wie zum Beispiel die Trainingsusancen der Sportpistolenschützenmannschaft einer obskuren Bank, bei der die Sprintfähigkeiten eines nepalesischen Sherpas eine wesentliche Rolle spielen und deren kriminalpolizeiliche Bearbeitung Marshall sprachlich als mittelalterliche Aventiure inszeniert - kann die Tragödie eines verwirrten Kindes und die schrecklichen Tiermorde in dem Roman "Froschmaul" nicht tilgen, sondern nur durch Konterkarierung verschärfen. Das Geheimnis der ächzenden, brüllenden und kreischenden Wände des Polizeireviers, die im gleichen Roman den armen O'Yee zum Wahnsinn treiben (und die eine kleine Geschichte des Horrorfilms als Subtext haben), dient durchaus nicht als Scherz und Frohsinn, sondern zeigt dank Marshalls meisterhafter Technik der Handlungsführung direkt ins Zentrum eines absolut grausigen Szenarios. Marshalls spürbare Freude an Klamauk, sein präzises Timing für eine Reihe klassisch gewordener running gags (der durchgeknallte Ofen in "Das Skelett auf dem Floß" etwa, oder die sich selbstentzündenden Postkarten in "Postlagernd Jenseits"), das händeklatschende Entzücken an Explosionsspektakeln (kaum ein Roman, in dem nicht irgendwas krachend in die Luft fliegt, nach "Bombengrüße aus Hongkong" oder "Hongkong Roadshow" ist es ein Wunder, daß die Stadt noch steht) bleiben bei aller Komik nie auf der Ebene des nur schrillen Effektes.
Das hat wesentlich mit den schriftstellerischen Qualitäten von Marshall zu tun. Die Romane sind durchgehend "klassische" Kriminalromane mit der "klassischen" Frage, welche Ratio hinter den jeweiligen Ungeheuerlichkeiten stecken mag. Das Rätsel ist jeweils am Ende gelöst, aber bis dahin inszeniert Marshall, wie niemand zuvor, beinahe jede Szene, passagenweise jeden Abschnitt als eigenes Rätsel. Unaufmerksames Lesen rächt sich, man fliegt aus der Handlung oder verpaßt entscheidende Wendungen. Seine Prosa ist ein virtuoses Stakkato von Tempo, Gleichzeitigkeit, Vielstimmigkeit und rasenden Perspektivwechseln. Selbst von Wort zu Wort kann sich der Erzähler ändern. Mit versteckten und offenen Anspielungen auf alles - von Shakespeare, englischen Romantikern bis zu militärhistorischen Details des 2. Weltkriegs und Film- und Comiczitaten - sollte man jederzeit rechnen. Dito mit erstaunlicher Sachkenntnis, Spottlust und kichernder Parodie. Unnötig oder nur ornamental ist dabei überhaupt nichts. Kleinste Details bekommen plötzlich schwerwiegende Funktionen. Deswegen sind Marshalls Bücher auch etwas anderes als "Grotesk-Krimis". Sie sind Kommentare zur und Verarbeitungen von Welt. Der Schauplatz Hongkong ist nicht zufällig oder nur deswegen gewählt, weil Marshall dort gelebt hat: Hongkong ist ein rätselhaftes, bizarres, Gebilde, in dem die Geschichte der letzten 99 Jahre merkwürdig geronnnen ist und das bald zu etwas anderem zerfallen wird. Seine geographische und geopolitische Lage, seine ethnische Mischung zwingen tausendundeine Perspektive geradezu herbei, machen Erklärungen sinnlos. Deswegen erklären die Romane auch nichts. Sie zeigen nur, und auch das gilt bis hinunter zur satzsemantischen Ebene. Rätsel, die Lösung von Rätseln, Komik und Tragik, Spiel und Ernst, einfache und komplexe literarische Formen, Tradition und Pop-Kultur, Geschichte und Zukunft, Wut und Trauer, all das mischt sich bei Marshall zu einem hyperscharfen literarischen Kaleidoskop, das man irgendwann einmal als literarisches Programm verstehen wird, das seiner Zeit adäquat, also voraus war.
Sechs der "Yellowthread Street"- Bücher sind bei Goldmann erschienen und vergriffen; fünf, leider in chronologisch wirrer Folge und mit Lücken bei Rotbuch, der Rest überhaupt nicht. Acht weitere Romane von Marshall, die in Manila, New York oder Shanghai spielen, sind in Deutschland nicht verlegt.
Marshall gehört zu den innovativsten Schriftstellern der Gegenwart. Hier hatte man noch keine rechte Chance, das zu erkennen. Es wird langsam Zeit.
© Thomas Wörtche, 1997
Yellowthread Street-Serie: | ||
Yellowthread Street [London: Hamilton, 1975] [New York: Holt, Rinehart and Winston, 1976] |
1975 | |
The Hatchet Man [London: Hamilton, 1976] [New York: Holt, Rinehart and Winston, 1977] |
1976 | Der Kino-Killer [München: Goldmann, 1977 und Wollerau/Schweiz: Krimi-Verlag, 1977] |
Gelignite [London: Hamilton, 1976] [New York: Holt, Rinehart and Winston, 1977] |
1976 |
Bombengrüße aus Hongkong [München: Goldmann, 1978] |
Thin Air [London: Hamilton, 1977] [New York: Holt, Rinehart, and Winston, 1978] |
1977 | Dünne Luft [München: Goldmann, 1978] |
Skulduggery [London: Hamish Hamilton, 1979] [New York: Holt, Rinehart, and Winston, 1980] |
1979 |
Das Skelett auf dem Floß [München: Goldmann, 1980] |
Perfect End [1. Aufl. -London: Hamish Hamilton, 1981] [New York: Holt, Rinehart, and Winston, 1983] |
1981 |
Die Katze frisst den Schmetterling [München: Goldmann, 1982] |
Sci Fi [New York: Holt, Rinehart, and Winston, 1981] [London: Hamish Hamilton, 1981] |
1981 | Feuerkiller [München: Goldmann, 1982] |
War Machine [London: Hamish Hamilton, 1982] |
1982 |
Die Ehre der Kämpfer [Hamburg: Rotbuch-Verlag, 1995] |
The Far away Man [New York: Holt, Rinehart, and Winston, 1984] [London: Secker & Warburg, 1984] |
1984 | |
Roadshow [New York: Holt, Rinehart, and Winston, 1985] [London: Secker & Warburg, 1985] |
1985 |
Hongkong Roadshow [Berlin: Rotbuch-Verlag, 1987] |
Head First [New York: Henry Holt, 1986] [London: Secker & Warburg, 1986] |
1986 |
Postlagernd Jenseits [Berlin: Rotbuch-Verlag, 1993] |
Frogmouth [New York: Mysterious Press, 1987] [London: Secker & Warburg, 1987] |
1987 |
Froschmaul [Berlin: Rotbuch-Verlag, 1989] |
Out of Nowhere [New York: Mysterious Press, 1988] |
1988 | |
Inches [New York: Mysterious Press, 1994] |
1994 |
Last Exit: Hongkong [Hamburg: Rotbuch-Verlag, 1997] |
Nightmare Syndrome [New York: Mysterious Press, 1997] |
1997 |
Hongkongcrash [Hamburg: Rotbuch-Verlag, 1998] |
To the End [New York: Mysterious Press, 1998] |
1998 |
Manila Bay-Mysteries: | ||
Manila Bay [New York: Viking, 1986] |
1986 |
Manila Bay [Zürich: Unionsverlag, 2000] |
Whisper [London, Sydney: Mysterious Press, 1988] |
1988 |
The New York Detective Mysteries: | ||
The New York Detective [New York: Mysterious Press, 1989] |
1989 | |
Faces in the Crowd [New York: Mysterious Press, 1991] |
1991 |
The Twentieth Century: (1) | ||
The Age of Death [New York: Viking, 1970] [London: Macmillan, 1970] |
1970 | |
The Middle Kingdom [London: Macmillan, 1971] |
1971 |
(1) Ursprünglich als Trilogie gedacht, es sind allerdings nur zwei Bücher erschienen.
Sonstige Romane: | ||
The Fire Circle [Melbourne, London: Macmillan, 1969] |
1969 | |
Shanghai [New York: Holt, Rinehart, and Winston, 1979] [London: Hamish Hamilton, 1979] |
1979 |
© der Bibliographie:
j.c.schmidt, 2002