legal stuff Impressum Datenschutz kaliber .38 - krimis im internet

 

Leonardo Padura: Ein perfektes Leben

Eine Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Unionsverlags.

 

1. (Auszug)

Ein perfektes Leben Noch bevor er darüber nachdenken konnte, wusste er, dass es das Schwierigste sein würde, die Augen zu öffnen. In den Pupillen die Helligkeit des Morgens auszuhalten, die in den Fensterscheiben funkelte und das ganze Zimmer mit ihrem blendenden Licht überzog. Und sodann zu erleben, wie man durch den unumgänglichen Akt des Augenaufschlagens zulässt, dass sich im Schädel eine schwammige Masse bildet, bereit, bei der kleinsten Körperbewegung einen schmerzhaften Tanz aufzuführen. Schlafen, vielleicht träumen, sagte er zu sich, dieselben einschläfernden Worte, die er schon fünf Stunden zuvor gemurmelt hatte, als er, eingehüllt in den düsteren Geruch seiner absoluten Einsamkeit, aufs Bett gefallen war. Verschwommen sah er sein Bild im Halbdunkel vor sich, das Bild eines reuigen Sünders, der vor der Kloschüssel kniete und nicht enden wollende Sturzbäche von bernsteinfarbenem, bitterem Erbrochenen von sich gab. Doch das Klingeln des Telefons durchbohrte wie Maschinengewehrsalven seine Ohren und marterte sein Hirn, das durch diese ausgefeilte, beharrliche, wirklich brutale Foltermethode weich geklopft wurde. Er ging das Wagnis ein. Hob kurz die Augenlider und musste sie wieder schließen. Schmerz drang durch die Pupillen, und er hatte nur den einen Wunsch: zu sterben. Und die furchtbare Gewissheit, dass sein Wunsch nicht in Erfüllung gehen würde. Er fühlte sich sehr schwach, zu kraftlos, um die Arme zu heben und sie eng um seine Stirn zu legen und so die bei jedem bösartigen Klingeln drohende Explosion abzuschwächen; aber er beschloss den Schmerz zu bezwingen und hob einen Arm, öffnete die Hand und schaffte es, sie um den Telefonhörer zu schließen, ihn anzuheben und auf die Gabel fallen zu lassen und auf diese Weise den segensreichen Zustand der Stille wieder herzustellen.
      Er hätte gerne über seinen Sieg gelacht, doch auch das gelang ihm nicht. Er wollte sich davon überzeugen, dass er wach war, konnte sich dessen aber nicht sicher sein. Sein Arm hing wie ein abgebrochener Ast auf einer Seite des Bettes herunter. Er wusste, dass aus dem Dynamit, das in seinem Kopf lagerte, Bläschen sprudelten und jeden Moment eine Explosion drohte. Er hatte Angst, eine nur allzu bekannte und immer wieder vergessene Angst. Er hätte gerne gejammert, aber seine Zunge hatte sich in den Tiefen der Mundhöhle aufgelöst. In diesem Augenblick startete das Telefon die zweite Offensive. Nein, nein, verdammte Scheiße, nein, warum? Ja, ja, stöhnte er und hob die Hand zum Hörer. Mit den Bewegungen eines eingerosteten Lastkrans brachte er ihn an sein Ohr und ließ ihn dort liegen.
      Zuerst Stille. Stille ist ein Segen. Dann die Stimme, eine harte, herrische und, wie er meinte, Furcht einflößende Stimme.
      »Hallo, hörst du mich?«, glaubte er zu hören. »Mario, hallo, Mario, hörst du mich?« Und er hatte nicht den Mut zu sagen, nein, nein, ich höre nichts und will auch nichts hören, oder einfach nur: falsch verbunden.
      »Ja, Chef«, murmelte er schließlich, doch vorher musste er tief einatmen, um seine Lungen mit Luft voll zu pumpen, musste seine beiden Arme dazu zwingen, sich in Richtung Kopf zu bewegen, und seine Hände, gegen die Schläfen zu drücken, damit sich die Schwindel erregende Karussellfahrt in seinem Hirn verlangsamte.
      »Hör mal, was ist los, he? Was ist mit dir los?« Das war keine Stimme mehr, das war ein unbarmherziges Gebrüll. Erneut atmete er tief ein, wollte ausspucken. Seine Zunge fühlte sich an, als wäre sie dicker geworden, oder aber es war gar nicht seine Zunge.
      »Nichts, Chef, ich habe Migräne. Oder erhöhten Blutdruck, was weiß ich...«
      »Hör mal, Mario, nicht schon wieder! Wer hier erhöhten Blutdruck hat, das bin ich, und hör auf, mich Chef zu nennen! Was hast du?«
      »Wie gesagt, Chef, Kopfschmerzen.«
      »Kleiner Schelm heute Morgen, was? Also, hör mir mal gut zu: Mit deiner Morgenruhe ists vorbei.«
      Ohne an die Konsequenzen denken zu wollen, öffnete er die Augen. Wie er vermutet hatte, schien die Sonne in die Fenster, und alles um ihn herum war leuchtend hell und warm. Draußen hatte die Kälte vielleicht nachgelassen, und möglicherweise war es sogar ein schöner Morgen; ihm jedoch war nach Weinen zu Mute oder nach etwas, das dem ziemlich nahe kam.
      »Nein, Alter, bitte nicht, tu mir das nicht an. Das ist mein freies Wochenende. Hast du selbst gesagt. Erinnerst du dich nicht?«
      »Es war dein freies Wochenende, mein Lieber, war. Wer hat dich gezwungen, zur Polizei zu gehen?«
      »Aber warum ich, Alter? Dir steht doch ’n Haufen Leute zur Verfügung«, hielt er dagegen und versuchte sich aufzurichten. Die schwammige Hirnmasse stieß gegen seine Stirn, und er musste die Augen schließen. Restübelkeit stieg aus seinem Magen auf, und ein stechender Schmerz zeigte ihm das dringende Bedürfnis zu urinieren an. Er biss die Zähne zusammen und tastete nach den Zigaretten auf dem Nachttisch.
      »Hör mal, Mario, ich hab nicht die Absicht, darüber abstimmen zu lassen. Weißt du, warum du dran glauben musst? Nun, weil ich es so will, darum. Also, reiß dich zusammen und steh auf!«
      »Du machst nur Spaß, oder?«
      »Hör auf, Mario... Ich bin schon mitten in der Arbeit, verstehst du?«, warnte die Stimme, und Mario verstand, dass er mitten in der Arbeit war. »Pass auf: Donnerstag, also am Ersten, wurde eine Vermisstenanzeige aufgegeben, einer der Chefs aus dem Industrieministerium ist verschwunden, verstehst du?«
      »Ich bemühe mich ja zu verstehen, ich schwörs dir.«
      »Dann bemüh dich weiter und schwör nicht leichtfertig. Die Ehefrau hat um neun Uhr abends Anzeige erstattet, wir haben eine landesweite Suche gestartet, aber der Mann bleibt verschwunden. An der Sache ist was faul. Du weißt, auf Kuba gehen Chefs im Range eines Vizeministers nicht einfach so spurlos verloren«, fügte der Alte in besorgtem Ton hinzu. Der andere, Mario, der es endlich geschafft hatte, sich auf die Bettkante zu setzen, versuchte die Situation aufzulockern: »In meiner Tasche ist er nicht, wirklich nicht.«
      »Mario, jetzt reichts!« Die Stimme war wieder die alte. »Der Fall liegt inzwischen bei uns, in einer Stunde erwarte ich dich hier. Wenn du erhöhten Blutdruck hast, gib dir ’ne Spritze und mach dich auf die Socken.«
      Er entdeckte das Zigarettenpäckchen auf dem Boden. Das erste freudige Ereignis an diesem Morgen. Das Päckchen war platt getreten und bot einen traurigen Anblick, doch er sah es voller Optimismus an. Er ließ sich von der Bettkante gleiten und setzte sich auf den Boden. Die jämmerliche Zigarette, die er mit zwei Fingern aus dem Päckchen fischte, kam ihm wie eine Belohnung für seine ungeheure Anstrengung vor.
      »Hast du Streichhölzer, Chef?«, fragte er ins Telefon.
      »Was soll das denn jetzt, Mario?«
      »Ach, nichts. Was rauchst du heute?«
      »Das errätst du nie!« Nun klang die Stimme zufrieden, genüsslich. »Eine Davidoff, Geschenk von meinem Schwiegersohn zum Jahreswechsel.«
      Den Rest konnte er sich ausmalen: Der Alte betrachtete das rippenlose Deckblatt seiner Havanna, atmete den feinen Rauch ein und passte auf, dass die eineinhalb Zentimeter, die den vollkommenen Rauchgenuss garantierten, nicht abfielen. Gott sei Dank, dachte Mario.
      »Heb eine für mich auf, ja?«
      »Ich denke, du rauchst keine Zigarren. Kauf dir an der Ecke ein Päckchen Populares und komm her.«
      »Ja, ja, schon gut... Übrigens, wie heißt der Mann?«
      »Warte... Ah ja, Rafael Morín Rodríguez, Leiter der Import-Export-Abteilung im Industrieministerium.«
      »Moment mal«, sagte Mario und sah auf die unappetitliche Zigarette, die zwischen seinen Fingern zitterte, was nicht unbedingt nur auf den Alkohol zurückzuführen war. »Ich glaub, ich hab dich nicht richtig verstanden. Rafael, und wie weiter?«
      »Rafael Morín Rodríguez. Hast dus notiert? Gut! Dir bleiben jetzt noch genau fünfundfünfzig Minuten, dann bist du in der Zentrale«, sagte der Alte und legte auf.
      Hinterhältig wie zuvor die Übelkeit stieg ein Rülpser auf und ließ einen säuerlichen Rumgeschmack im Mund des Ermittlungsbeamten Teniente Mario Conde zurück. Auf dem Boden, neben der Unterhose, sah er sein Hemd liegen. Langsam kniete er sich hin und kroch auf allen Vieren zu der Stelle, bis er einen Ärmel zu fassen kriegte. Er grinste. In der Brusttasche fand er Streichhölzer. Endlich konnte er die Zigarette, die zwischen seinen Lippen feucht geworden war, anzünden. Er inhalierte den Rauch, und nach der rettenden Entdeckung der zerdrückten Zigarette war dies das zweite Glücksgefühl des Tages, der mit Maschinengewehrfeuer, mit der Stimme des Alten und einem fast vergessenen Namen begonnen hatte. Rafael Morín Rodríguez, dachte er. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Bettkante und stellte sich auf die Beine. Dabei wanderten seine Augen zum Regal, auf dem Rufino, der Kampffisch, mit morgendlicher Energie seine endlosen Runden in dem runden Aquarium drehte. »Was ist passiert, Rufo?«, murmelte er und besah sich die Bescherung seines jüngsten Schiffbruchs. Er überlegte, ob er die Unterhose wegräumen, das Hemd auf den Bügel hängen, seine alte Jeans glatt streichen und die Ärmel seines Jacketts auf rechts ziehen sollte. Später. Er versetzte der Hose einen Tritt und ging ins Bad, wo er sich daran erinnerte, dass er schon seit einer Ewigkeit pinkeln musste. Im Stehen beobachtete er, wie der kräftige Strahl in der Kloschüssel schäumte wie frisch gezapftes Bier. War es aber nicht, denn der beißende Uringestank stach sogar ihm in die unempfindliche Nase. Als die letzten erleichternden Tropfen ins Wasser fielen, fühlte er sich so schlapp in Armen und Beinen wie ein ausgeleierter Hampelmann, der sich nach einem ruhigen Plätzchen sehnt. Schlafen, vielleicht träumen, dachte er, wenn ich das doch nur könnte.
      Er öffnete das Toilettenschränkchen und suchte die Schachtel mit den Duralginas. In der vergangenen Nacht war er nicht in der Lage gewesen, eine zu nehmen, und nun bereute er dieses unverzeihliche Versäumnis. Er legte drei Tabletten auf die Handfläche und ließ Wasser in ein Glas laufen. Dann warf er die Tabletten in seinen durch die Kotzerei geschundenen Rachen und trank Wasser hinterher. Er schloss das Schränkchen, und im Spiegel zeigte sich ihm das Bild eines Gesichtes, das ihm entfernt bekannt und zugleich unverwechselbar vorkam. Der Teufel, dachte er und stützte sich mit beiden Händen aufs Waschbecken. Rafael Morín Rodríguez, murmelte er, und nun fiel ihm auch wieder ein, dass er eine große Tasse Kaffee brauchte, um nachdenken zu können, und dazu eine Zigarette, die er nicht hatte. Er beschloss, all seine bekannten Sünden unter der stechend kalten Dusche zu büßen.
      »Verdammte Scheiße, so ein Mist«, seufzte er, als er sich aufs Bett setzte, um sich die Stirn mit der wärmenden chinesischen Heilsalbe einzureiben, die ihm das Leben stets erträglicher machte.

Mit Wehmut, die ihm schon etwas zu vertraut zu werden begann, betrachtete El Conde die Hauptstraße seines Viertels, die überquellenden Mülltonnen, die Pizza-Pappen, die der Wind mit sich forttrug, das unbebaute Grundstück, auf dem er Baseball spielen gelernt hatte und das jetzt der Autowerkstatt an der Ecke als Müllhalde diente. Wo lernen die Jungen heutzutage Baseball spielen? Der Morgen war wunderbar mild, so wie er es vorausgefühlt hatte, und er genoss es, mit dem Kaffeegeschmack im Mund durch die Straßen zu wandern; doch da sah er den überfahrenen Hund mit dem zerquetschten Kopf, der neben dem Bordstein vor sich hin faulte, und er dachte, dass ihm immer die schlimmsten Dinge auffallen mussten, sogar an einem Morgen wie diesem. Er beklagte das Schicksal des unglücklichen Tieres, das ihn schmerzte wie eine Ungerechtigkeit, die zu beseitigen ihm nicht möglich war. Schon seit ewigen Zeiten, seit dem langen Todeskampf des alten Robin, hatte er keinen Hund mehr. Er hatte das Versprechen, sein Herz nie wieder an ein Tier zu hängen, gehalten, bis er sich für die schweigsame Gesellschaft eines Kampffisches entschied, den er immer wieder Rufino nannte - nach seinem Großvater, dem Züchter von Kampfhähnen -, Fische ohne Ticks und ausgeprägte Persönlichkeit, die er, wenn einer starb, durch ein gleichartiges Exemplar ersetzen konnte, das wiederum Rufino getauft und in dasselbe Aquarium gesperrt wurde, wo es stolz mit seinen verschwommen blauen Kampftierflossen umherschwamm. Er hätte es gerne gesehen, wenn die Frauen ebenso problemlos gekommen und gegangen wären wie diese Fische ohne Vergangenheit. Doch Frauen und Hunde waren so furchtbar anders als Fische, selbst Kampffische, und zu allem Übel konnte er bei Frauen kein Abstinenzgelübde ablegen, wie er es hinsichtlich der Hunde so standhaft erfüllte. Am Ende, so ahnte er, würde er sich noch einem Schutzverein für streunende Hunde und Männer mit fatalem Hang zu Frauen anschließen.
      Er setzte sich die dunkle Brille auf und ging zur Bushaltestelle. Ihm fiel auf, dass das Aussehen des Viertels wohl seinem eigenen glich: eine Landschaft nach einer verheerenden Schlacht. Und er spürte, dass die empfindsamste Stelle seines Gedächtnisses Risse bekam. Die sichtbare Realität der Straße unterschied sich allzu sehr von dem rosaroten Bild seiner Erinnerung, einem Bild, von dem er sich inzwischen fragte, ob es wirklich real war oder er es möglicherweise den nostalgischen Erzählungen seines Großvaters verdankte. Oder ob er selbst es ganz einfach erfunden hatte, um die Vergangenheit zu ertragen. Man darf nicht sein ganzes verdammtes Leben lang grübeln, sagte er sich, und er bemerkte, dass die milde Morgenwärme die Tabletten dabei unterstützte, dem, was in seinem Kopf war, wieder Gewicht, Stabilität und ein paar elementare Funktionen zu verleihen. Er nahm sich vor, derartige Alkoholexzesse in Zukunft zu vermeiden. Seine Augen brannten vor Schlafmangel. Er kaufte sich Zigaretten, und dann spürte er, wie der Rauch den Kaffeegeschmack ergänzte und er wieder zu einem Menschen wurde, der in der Lage war zu denken und sogar sich zu erinnern. Da bereute er seinen Wunsch, sterben zu wollen, und um sich das Gegenteil zu beweisen, lief er zum Bus, der unbegreiflicherweise fast leer war. Das ließ ihn ahnen, dass das neue Jahr absurd begann. Doch das Absurde besitzt nicht immer die Freundlichkeit, sich im Gewande eines am Morgen fast leeren Busses zu präsentieren.

 

Aus dem kubanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein
© Unionsverlag, 2003
Alle Rechte vorbehalten!

 

Thomas Wörtche Neuerscheinungen Vorschau Krimi-Navigator Hörbücher Krimi-Auslese
Features Preisträger Autoren-Infos Asservatenkammer Forum Registrieren Links & Adressen