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Jean-Patrick Manchette: Blutprinzessin

Eine Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Distel Literatur Verlags.

 

10 (Auszug)

Blutprinzessin «Ich möchte das hier genau studieren», erklärte Aaron Black, als er mit der Spitze seines dicken Fingers auf eine Reproduktion in einem vor ihm aufgeschlagenen Kunstband tippte; es war eine Reproduktion des sehr berühmten Bildes von Jan van Eyck, das allgemein Das Arnolfini-Paar genannt wird. (Man befand sich im Salon einer Suite im «Strand», keinem sehr luxuriösen Hotel, aber hier hatte Aaron Black früher immer gewohnt, als es ihm sozusagen noch dreckig ging. Man bereitete einen Besuch in der National Gallery vor, wo vor allem Das Arnolfini-Paar hing.)
    Julienne protestierte vorsichtig, indem sie sagte, das Bild sei zu bekannt, es sei in jedem beliebigen Lexikon zu finden, es gäbe noch weit mehr und unvermutet Schönes in der National Gallery zu entdecken usw.
    «Sie verstehen nicht, Julienne», sagte der kleine Mann in einem anthrazitfarbenen Westenanzug, mit hellblauem Hemd und dunkelblauer Krawatte mit weißen Streifen. «Sie glauben, ich interessiere mich für Malerei, um in Gesellschaft zu glänzen. Ich sehe mir aber die Bilder nicht an, um darüber zu reden. Sondern nur zu meinem eigenen Vergnügen, verstehen Sie?» (Er blickte wieder auf die Reproduktion.) «Und zu meinem eigenen Vergnügen will ich Dinge wissen. Warum liegen zum Beispiel links Schuhe auf der Erde? Warum hat jemand was in Schönschrift auf die Wand im Hintergrund gemalt? Und ob die gute Frau, so wie es hier aussieht, geschwängert wurde.»
    Julienne, die mehrere Abschlüsse in Kunst und lange blonde Haare hatte und einen schwarzen Lederhosenanzug trug, stieß einen leichten Seufzer aus.
    «Die junge Frau ist vermutlich nicht in anderen Umständen», sagte sie. «Das ist die damalige Mode und wirkt nur so. Außerdem zeigt das Bild den Augenblick, in dem der Bund von den Eheleuten geschlossen wird, so daß es geschmacklos wäre, Jeanne Cenami schwanger darzustellen...»
    «Wer ist das?»
    «Die junge Frau heißt so. Und die Schönschrift im Hintergrund, das ist der Name des Malers, der damit bekundet, daß er Zeuge des Vertrags ist.»
    «Und die anderen Zeugen, das sind die Kerle im Spiegel!» rief Aaron Black.
    «Ganz richtig», meinte Julienne vergnügt. «Und der Maler ist auch dabei.»
    «Und die Latschen in der linken Ecke, was soll das bedeuten?»
    Das Telefon klingelte. Die ganze Zeit saßen zwei Männer schweigend im Salon. Einer der beiden stand auf und nahm den Hörer mit der linken Hand ab. Nachdem er das Gespräch beendet hatte und den Hörer wieder aufgelegt hatte, ging er schräg durch den Salon und öffnete ein Schubfach.
    «Nouaceur ist unten, er kommt hoch», meinte er paradoxerweise und nahm aus dem Schubfach eine sehr protzige vernickelte Walther-PPK-Pistole mit Elfenbeingriffschalen und steckte sie sich in die linke Tasche seines blauen Blazers, der drei Kupferknöpfe hatte; dazu trug er eine hellgraue Hose und feine graue Chairlederhandschuhe, einen hoch unter dem Kinn gebundenen grauen Seidenschal, dann sagte er: «Nouaceur hat den Eindruck, daß er beschattet wird.» (Der Mann sprach mit heiserer Flüsterstimme, er hatte ein schmales, gebräuntes Gesicht, sehr dunkles, an den Schläfen langsam ergrauendes Haar, Augen wie Topase. Seine PPK war für .380 ACP eingerichtet und enthielt sieben Schuß.)
    «Im Hotel?» fragte Aaron Black.
    «In London.»
    «Na und, das ist ja wohl sein Problem», sagte Black und fuhr mit dem Kopf zu Julienne herum, weil sie sich gerade zurückziehen wollte: «Nein!» sagte er. «Bleiben Sie. Es ist besser, wenn er den Eindruck hat, er stört. Und dann haben Sie auch gleich etwas, das Sie Ihren französischen Freunden von der Spionageabwehr erzählen können.»
    «Ich...» begann Julienne, aber es klopfte an der Tür, und Aaron Black rief, er solle hereinkommen, Hocine Nouaceur kam in das Zimmer geschlichen, machte die Tür vorsichtig zu und musterte etwas ängstlich die vier im Raum befindlichen Personen.
(...)

 

* * *

 

12 (Auszug)

Im Norden Amerikas, in Kanada, soll es eine Rattenspezies geben, die eine Art Tauschinstinkt besitzt. Das Tier dieser Gattung nimmt dem Menschen kleine Gegenstände weg, einen Nagel, einen Schraubenzieher, eine Patrone zum Beispiel, und legt dafür etwas hin: ein Blatt, eine Feder, einen Kieselstein. Doch ein solches Verhalten bei einem Tier ist außergewöhnlich, ja einzigartig.
    Fast eine Woche ging Ivy ihren Beschäftigungen nach, die sie mit der Zeit etwas lässiger handhabte, ohne daß sich etwas Besonderes ereignet hätte. Morgens und abends putzte sie sich die Zähne mit einer neuen Zahnbürste und einer neuen Tube Zahncreme, die sie in Reserve hatte.
    Am siebten Tag verschwand ihre Seife, dafür lag ein hübsches Stück Glimmerschiefer da. Ivy bemerkte es mittags, als sie zum Essen in ihr Lager kam. Sie preßte die Lippen zusammen. Sie sah forschend um sich, ging dann in die Hocke und musterte eine ganze Weile den Boden. Auf der trockenen Erde waren keine Spuren zu sehen und im Gras schon gar nicht. Ivy stand wieder auf und ging in das Wohnzelt, dort legte sie das Stück Glimmer neben den schimmernden Pinienzapfen und die lange rote Feder. Sie inspizierte das Wohnzelt, dann das andere Zelt, das ihr als Vorratslager und Fotolabor diente und in dem Abzüge mit Holzklammern an einer Wäscheleine zum Trocknen hingen. Ivy ging wieder hinaus und brachte das meiste von dem, was sonst immer draußen herumlag, in die Zelte. Sie sah nach den Lebensmitteln, die auf Gestellen unter Planen lagerten, verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. Sie ging wieder in das Vorratszelt und kam mit Patronen und der merkwürdigen Bockbüchsflinte zurück, die einen abklappbaren Kolben hatte und für die Kaliber .22 und .410 eingerichtet war. Sie ging in nordöstlicher Richtung auf die Bäume zu. Sie trug Bluejeans und ein kariertes Baumwollhemd in den Farben Braun, Grün und Grau mit etwas Weiß. Es waren 25 Zentigrad (ungefähr 78ƒ Fahrenheit), und einige niedrighängende Wolken trieben vorüber und zerrissen am Gipfel des Turquino, es konnte durchaus ein Gewitter geben.
    Ivy ging unter den Bäumen im Kreis um ihr Lager und betrachtete dabei eingehend die Umgebung, inspizierte den Boden. Als sie einen Kreis abgesucht hatte, ging sie den nächsten, größeren.
    Manchmal traf sie auf die Spur eines Nagers oder eines Schweins und merkte sie sich genau. Im Geäst saßen zahlreiche Vögel. Aber es waren keine Spuren von Menschen auf dem trockenen Boden zu entdecken.
    Bis zum Abend umrundete Ivy langsam und systematisch in immer größeren Kreisen oder eher Ellipsen ihr Lager. Im Süden blieb sie jedoch immer ziemlich in der Nähe der Zelte, denn auf dieser Seite ging der abschüssige Hang in Fels über, und fiel schwindelerregend tief steil zum Meer hin ab.
    Ivys Erkundungen verliefen völlig ergebnislos. Sie kehrte wieder zu ihrem Lager zurück, um zu essen. In jener Nacht schlief sie im Wohnzelt mit ihrer Pistole unter ihrem aufblasbaren Gummikopfkissen. Am nächsten Morgen ging sie, nachdem sie die Verschlußschnüre an ihren Zelten sorgfältig verknotet hatte, den guajiro Martin Guzman Gallego besuchen, der einige Kilometer entfernt ein Stückchen Land bewirtschaftete und fünf oder sechs Tiere hielt. Ein etwa fünfzigjähriger Mann mit sehr lockigem grauschwarzen Kraushaar, einem schönen Kopf mit schmalen Lippen, braunen Augen, hellem, jedoch gebräuntem Teint, bekleidet mit einer zu kurzen blauen Leinenhose und einem olivgrünen Nylonhemd. Er hatte dreißig Jahre als Zuckerrohrschneider am Fuße der Maestra gearbeitet, war dann Witwer geworden und hierhergekommen, um sein eigener Herr zu sein. Es reichte kaum zum Leben. Er wollte Ivy sofort eine Flasche Rum verkaufen, doch sie lehnte höflich ab. Sie tranken übertrieben würdevoll Kaffee. Ivy fragte Martin Guzman Gallego, ob er kürzlich Fremde im Gebirge gesehen hätte oder etwas, was auf die Anwesenheit von Fremden hinweisen könnte oder sonst irgend etwas Ungewöhnliches. Sie verständigte sich etwas ungeschickt und ein bißchen stockend. Außer Französisch konnte sie gut Englisch, ziemlich gut Spanisch und mittelmäßig Deutsch. Mit einiger Mühe konnte sie einen Text oder Gesprochenes aus dem Italienischen deuten. Sie mußte den guajiro bitten, die soeben gegebene Antwort zu wiederholen; denn der kubanische Akzent ist schwer für jemanden zu verstehen, der in der Schule nur kastilisches Spanisch gelernt hat. Martin Guzman Gallego wiederholte langsam und deutlich, daß es im Gebirge keine Fremden und auch sonst nichts Ungewöhnliches gebe.
    «Tienes miedo, du hast Angst», sagte er und blickte auf die Colt-Pistole .45, die Ivy an der linken Hüfte mit dem Griff nach vorn in einem khakifarbenen Segeltuchholster trug.
(...)

 

Aus dem Französischen von Christina Mansfeld.
© Distel Literatur Verlag, 2001

 

Weitere Informationen zu Jean-Patrick Manchette und seine »Blutprinzessin« finden Sie in dem Nachwort, das Manchettes Sohn Doug Headline geschrieben hat.
Eine Manchette-Bibliographie und ein kleines Porträt finden Sie in unseren Autoren-Infos.

 

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