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Sylvie Granotier: Dodo

Eine Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Distel Literatur Verlags.

 

Dodo Montag, den 6. November, hat mir morgens Freddy das Klatschmaul erzählt, daß ich gerade ermordet worden sei.
    Freddy ist kein Kumpel, er ist lediglich einer aus dem Viertel. Seine Nächte verbringt er mit der Suche nach einem Heilmittel gegen die Einsamkeit, wie er sagt, Heilmittel in Form von Sex, wie ich erklärend hinzufügen möchte. An dem Tag, an dem er mich dafür gesucht hat, hat er mich gefunden, aber glauben Sie ja nicht, daß er sich noch daran erinnern kann. Auf der Straße verblaßt mit der Zeit alles, man könnte meinen, daß sich die Erinnerung ohne Dach über dem Kopf in Luft auflöst. Kurz und gut, Freddy besucht mich weiterhin, und ich empfange ihn weiterhin. Nur, wie schon gesagt, ein Kumpel ist er nicht.
    Ich war gerade mit Sally bei unserer Bank am Bateau Lavoir angekommen.
    An meiner Schulter zusammengesackt, schlief sie inzwischen tief und fest, während ich, schon im voraus erschöpft, überlegte, daß es höchste Zeit war, ans Malochen zu denken, um den verlorenen Tag von gestern wettzumachen.
    Unvermittelt taucht Freddy mit seinem muffigen, algengrünlichen Morgengesicht vor mir auf und starrt mich an wie ein Gespenst.
    «Ja, bist du nicht tot?»
    «Nein, Freddy. Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen.»
    «Aber das ist doch nicht möglich!»
    «Muß aber wohl so sein», antworte ich lapidar.
    «Aber dann...»
    Dann bemüht sich Freddy verzweifelt, seinen letzten Rest Verstand zusammenzukratzen, was kein schöner Anblick ist: Seine Haut legt sich wie ein Sonnenplissee bis hinauf zur Schädeldecke in Falten.
    «Wer war die, die heute Nacht auf deinem Platz war, dann?»
    Er hielt sich für die Sphinx, trotz des wirren Satzbaus. Ich habe mich nicht aus der Ruhe bringen lassen.
    «Stell dir vor, ich hab sie nicht nach ihren Papieren gefragt. Eine lange Bohnenstange voller Schorf. Malocht manchmal beim CIC Trudaine.»
    «Also dann ist die das. Aufgeschlitzt, mit ner Flaschenscherbe, stell dir das mal vor.» Na ja, so was kommt vor. Nicht oft, aber es kommt vor. Nur ist das hier an meinem Stammplatz passiert, in der Mauernische des Supermarkts am Pigalle, wo ich normalerweise gewesen wäre, wenn mir nicht tags zuvor, am hellichten Nachmittag, ein Gespenst über den Weg gelaufen wäre. Was selbst für eine Zynikerin wie mich etwas zu viel ist.
    Ich bin mit einem Satz aufgesprungen, ohne an Sally zu denken, die prompt zur Seite gekippt ist. Ich habe sie mechanisch wieder aufgerichtet, und zum Dank hat sie mich angemacht, von wegen daß man wirklich hirnverbrannt und voll daneben sein müsse, um à la Hiroshima hochzugehen, und daß sie fast der Länge nach hingeknallt wäre, mächtig schlau sei das, und von wegen Solidarität, ein Begriff, den die Adjutantin doch ständig im Mund habe wie ein Furunkel, aber wenn's drauf ankäme, sei eben kein Verlaß auf mich.
    Wenn sie wütend ist, nennt sie mich Adjutantin, seit ich den Militärdrillich trage, den ich samt Schirmmütze an einem Glückstag für ein Hermès-Imitat aus Skai auf dem Flohmarkt eingetauscht habe. Ansonsten bin ich Do oder Dodo.
    Um Sally ins Gleichgewicht zurückzubringen, habe ich mich wieder hingesetzt und von Freddy ein paar Erklärungen verlangt.
    Eine Bekannte, Kassiererin in dem Supermarkt, hatte die Leiche punkt sechs Uhr heute morgen entdeckt. Dann war die Polizei gekommen, und nach und nach hatte sich die Neuigkeit bis zu Freddy herumgesprochen, der jetzt mit beiden Händen herumfuchtelte, um das Ausmaß seines Entsetzens zu bekräftigen. Den Tatterich hat er sowieso immer. Und es ist mir schon klar, daß ich ihm genauso viel bedeute wie ein Wahlergebnis, und genau das habe ich ihm vorgehalten: seine Heuchelei. Er könne sie sich in die Haare schmieren, vielleicht würde das den Abbau seiner grauen Zellen aufhalten.
    «Du kapierst nichts», hat er gesagt. «Beinah hätt' ich nämlich auch dran glauben müssen.» Und er hat beide Hände aufs Herz gepreßt. Auf der rechten Seite. Dann hat er mir erzählt, daß er den Mörder gesehen habe. Er müßte es gewesen sein. Daß sie von mir gesprochen hätten. Von da an habe ich die Befragung in die Hand genommen.
    Freddys Geschichte ging so: er war gegen zwei oder drei Uhr nachts am Supermarkt vorbeigekommen und hatte mir nur zum Spaß zugerufen:
    «He, Dodo, du hast nicht zufällig ein Plätzchen für mich?»
    «Laß uns in Ruhe. Dodo hat, was sie braucht.»
    Eine Männerstimme ist unter dem Berg Pappkartons hervorgedrungen. Freddy hat sich schiefgelacht, weil ich doch einen so guten Ruf habe, und zu ihnen hinübergegrölt:
    «Na dann, wenn du Gesellschaft hast! Gute Nacht, ihr Turteltäubchen!»
    Sein jämmerliches Gerippe zitterte noch immer, wenn er daran dachte. Er hätte ebenfalls aufgeschlitzt werden können, wenn er ein wenig beharrlicher gewesen wäre. Aufschlitzen treffe es übrigens nicht, das ganze Gesicht sei ein einziger Brei gewesen, der Bauch offen, die Eingeweide herausgequollen, die Muschi blutverschmiert. Und er schilderte das so, als sei es ihm selbst zugestoßen. Ich habe ihm brutal das Maul stopfen müssen:
    «Wer sollte sich deinetwegen soviel Mühe geben, mein armer Freddy?»
    Und ich überlegte, wer sich wohl für wen auch immer so viel Mühe machen würde. Was zu der folgenden Frage führte: Wer würde sich mit mir so viel Mühe machen? Abgesehen von Paul, der tot war. Und den ich tags zuvor getroffen hatte.
    Ich weiß, ich muß von dem Tag vorher berichten.
    Ich malochte in der Gegend der großen Kaufhäuser. Den Fels in der Brandung spielen, nenne ich das. Ich hocke mich hin, in den Händen das Schild mit der Aufschrift: «Ich habe Hunger», meine Schale steht vor mir, ich bin sozusagen ein Keil im Strom der Passanten, ohne daß jemand daran Anstoß nimmt, weder sie noch ich, höchstens hin und wieder ein Kind.
    Das Kaufhaus Printemps auf der gegenüberliegenden Seite des Boulevards sieht aus wie ein hell erleuchtetes riesiges Passagierschiff, das seine überquellende Ladung auf die Bürgersteige schwemmt. Ich habe das Meer geliebt, von dem Moment an, als ich es kennenlernte. Diese Menschenmenge da, die vom Büro in die Snack-Bar zieht oder die noch schnell vor Ladenschluss ihre Einkäufe erledigen will, ist niemals laut. Sie schnurrt wie die Motoren auf der Landstraße. Ich nutze das, um immer wieder die Münzen in meiner Schale nachzuzählen, und versuche mir auszurechnen, ob wir uns statt des üblichen Rotweins weißen Rum leisten können. All das sage ich, um klarzustellen, daß ich mir sicher bin, nicht geträumt zu haben. Ich war durchaus Herr meiner Sinne und habe sehr wohl die Stimme gehört, sie sofort wiedererkannt. Drei Silben haben genügt: «Dorothée». Und sie klang schockiert, die Stimme, derart angespannt, daß meine Nerven geknistert haben.
    Ich habe den Kopf gehoben, das Schild fallen lassen, war bereits, ich weiß nicht wie, auf den Beinen. Ich habe gehört, wie meine Tageseinnahmen unter Schuhsohlen kullerten, habe mir einen Weg durch die Menge gebahnt, den Hals gereckt, um in alle Richtungen gleichzeitig Ausschau zu halten. Nichts. Paul hatte sich in Luft aufgelöst.
    Aber es war Pauls Stimme, ich hätte schwören können, daß es Pauls Stimme war, und trotzdem war das unmöglich.
    Die Leute fingen an zu meckern, wegen des Durcheinanders, das ich erzeugte. Sobald jemand den Fluß der vorgegebenen Richtung aufhält, bricht Panik aus.
    Ich habe mich gebückt, um wieder einzusammeln, was ich noch erwischen konnte. Alles in allem zwanzig Centimes. Ich war dermaßen sauer, daß ich nicht mal meine Schale eingesteckt habe. Vielleicht würde sich ja jemand ein Bein brechen.
    Ich war so in Panik, daß ich drei Versuche brauchte, um meinen Seesack über die Schulter zu werfen und bin dann in Richtung Saint-Lazare aufgebrochen. Ständig schaute ich mich um wegen des Blicks in meinem Nacken. Ein Blick ohne Körper. Weil ich ihn nicht sah, aber dennoch spürte, wurde meine Angst immer größer. Als der 80er Bus seinen Anteil Vorortbewohner ausspuckte, habe ich mich, obwohl ich seit zwanzig Jahren nicht mehr renne, zwischen die Fahrgäste geschmissen, die in den Bus hineindrängten. Schwierig wurde es dann beim Ansturm auf die Sitzplätze, den ich leicht behinderte, als ich mich ruckartig umdrehte und mit meinem Seesack beinahe einen kleinen Jungen umgehauen hätte, was ein allseits erbostes Murren zur Folge hatte. Ich meinte zu sehen, wie eine dunkle Gestalt sich duckte, aber all die Köpfe reckten und duckten sich ständig, denn die Passagiere suchten beim Nachrücken immer wieder neuen Halt. Ich habe den Griff umklammert, um mich auf das Trittbrett zu ziehen, und gehört, wie eine Stimme meinen Vornamen in mein Ohr raunte, und die Angst hat mich gegen meinen Vordermann katapultiert, der daraufhin den vor sich anrempelte und so fort, von einem zum anderen, den ganzen Mittelgang entlang. Der Unmut wurde zusehends größer.
    «He, nur keine Aufregung«, habe ich gebrummt und meine Nachbarn gemustert. Ich würde denen nicht gerade mein Leben erzählen, nur um mich zu rechtfertigen. Jemand neben mir hat geräuschvoll geschnieft und damit zu erkennen gegeben, daß ich stank, daß ich lästig war. Danke, das weiß ich schon.
    Dann habe ich Durst verspürt, und das hat mich mit der Zunge schnalzen und Paul vergessen lassen. Ich bin mit der Hand hinter dem Gürtel in meine Hose gefahren, hinunter zu dem ausgeleierten Gummiband meiner Unterhose und bis meine Finger auf die Sicherheitsnadel stießen, mit der mein Täschchen für Notfälle befestigt war, das ich mit schmierigen Fingern betastet habe. Wie ich fühlen konnte, befand sich unter dem Schrott auch ein Zehn-Franc-Stück.
    »Sie schämen sich wohl gar nicht!« hat sich ein Wortführer der öffentlichen Meinung empört und auf zwei Halbwüchsige gedeutet, die mir feixend auf den Schritt starrten.
    Ich habe die Hand wieder zurückgezogen, erleichtert sogar. Die Hungersnot war noch nicht ausgebrochen, das Lebensnotwendigste war gesichert. Und ich habe durch die beschlagene Fensterscheibe geschaut, durch die man absolut nichts mehr sehen konnte.
    Als ich an der Place Clichy ausgestiegen bin, hat der Wortführer gewartet, bis ich draußen war, um dann Schwarzfahrer wie mich anzuprangern, die sich nicht davon abhalten ließen, das Defizit der RATP ins Uferlose zu treiben.
    «Deins baumelt dir in deiner Hose, du Dumpfbacke.»
    So sind meine schlagfertigen Antworten, wenn mich das Gelächter der anderen aufmuntern soll, selbst wenn es durchweg abschätzig gemeint ist.
    Auf dem Boulevard de Clichy habe ich mich unvermittelt umgedreht. Das Gefühl, verfolgt zu werden, klebte auf meinem Rücken. Die Straße war menschenleer. Und nun? Was riskierte ich schon? Mein kostbares Scheißleben zu verlieren? Überraschungen zuvorzukommen, die mir das vertrackte Schicksal zusammenbastelte? Wovor sollte ich denn eigentlich Angst haben, mal ehrlich? Was meine Gewissensbisse anbelangt, die hatte ich verscharrt und mein gesamtes Leben oben drauf gepackt. Sie würden bestimmt nicht mehr ans Tageslicht kommen.
    Man kann der Angst nichts befehlen, aber man kann sich an sie gewöhnen. Ich habe mir vorgenommen, mich bis zum Supermarkt nicht mehr umzudrehen. Komme, was da wolle. Immerhin war ich erleichtert, sobald ich von Ferne die massige Gestalt meiner übergewichtigen Gefährtin ausmachte. Für Sally bin ich verantwortlich, was mich von allen anderen Verpflichtungen befreit. Ich habe mich über die Mauer geschwungen und auf den Stapel Pappkartons plumpsen lassen. Es war schön, wieder zu Hause zu sein.
    «Na, alles in Ordnung, altes Schlachtroß?» habe ich mich liebevoll erkundigt. «Ich weiß nicht, wie's dir geht, aber ich hab Durst. Wer ist dran und holt Nachschub?»
    »Hehehehe«, hat Sally mit ihrem glucksenden Lachen erwidert. Und unter ihrem voluminösen Rock eine billige, aber volle Flasche Portwein hervorgezogen.
    Ich brauchte mir nicht die Mühe zu machen, ihr Fragen zu stellen. Sally erinnerte sich sowieso nicht mehr daran, wo und wie sie zu dieser unerwarteten Leckerei gekommen war.
    Ich habe erst einmal einen kräftigen Schluck genommen und dann das Abendessen ausgepackt: ein kaum angebissenes Sandwich, das ich im Rinnstein gefunden hatte, ein Stück Wurst und ein halbes Baguette, das ich am Morgen gekauft hatte. Wir haben getan, als äßen wir nur, um dem langsam zur Neige gehenden Portwein Gesellschaft zu leisten.
    Ich habe mir von Sally die große Stricknadel ausgeliehen und versucht, damit einer Kolonie von Flöhen auf meinem Rücken das Leben schwer zu machen, und während ich kratzte und krabbelte, normalisierte sich mein Leben wieder, und ich habe die Geschehnisse überdacht und für Sally zusammengefaßt:
    «Ich muß mich zusammenreißen, damit ich nicht so bekloppt werde wie du, Sally. Stell dir vor, ich hab heute alles, was ich eingenommen habe, sausen lassen, weil ich ein Gespenst gesehen hab. Glaubst du das?»
    «So was gibt's», antwortete Sally allen Ernstes
   . »Unsinn, Sally. Ganz sicher nicht.«
    «Wie hat es denn ausgesehen, dein Gespenst?»
    «Es war nur eine Stimme.»
    «Ein Gespenst, das sieht man, das ist nicht nur eine Stimme.»
    Und obwohl sie keinerlei weiteres Interesse bekundet hat, habe ich weiter geredet, um mich selbst zu vergewissern:
    «Hast ja recht, Sally, eine Stimme, das können alle möglichen Leute sein. Und es besteht keine Gefahr, Paul zu begegnen, und noch weniger, ihn zu hören. Wo der doch längst tot ist.»
    «Paul?»
    «Auch wenn ich es war, die ihn vor gut zwanzig Jahren umgebracht hat. Wie könnte er es also gewesen sein? Du stimmst mir doch zu, daß er ein für allemal tot ist. War bloß so ein Zufall. Oder, Sally? Und niemand ist mir gefolgt. Was für einen Blödsinn ich mir da zusammengereimt habe!» Und als ich mich zu ihr umdrehte, durchfuhr mich ein neuer Schreck:
    «Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht? Sieht ja aus wie Zuckerwatte.»

 

Aus dem Französischen von Veronika Cordes.
© Distel Literatur Verlag, 2001

 

Ein kleines Porträt Sylvie Granotiers finden Sie in dem Artikel
Die Krimi-Nanas
von Christina Bacher.

 

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