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Christopher G. Moore: Nana Plaza

Eine Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Unionsverlags.

 

1

Nana Plaza Der Rausch überwältigte ihn wie ein ins Unendliche gesteigerter Orgasmus, trieb ihn immer höher, schneller, als stürzte er in den Sonnenuntergang hinein und wirbelte auf der anderen Seite der Wolken in einen strahlend blauen Himmel hinaus. Er hatte die Pillen geschluckt. Aber erst, nachdem sein Freund es ihm vorgemacht hatte, erst da fühlte er sich sicher und zuversichtlich genug, die blauen Tabletten einzunehmen. Sein Freund sagte, dass es Viagra-Pillen waren und dass die Göttin es liebte, was sie aus den Männern machten. Er würde nicht enttäuscht werden. Das war jetzt dreißig Minuten her, aber er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Hier in diesem Raum schien das Verstreichen der Zeit nicht viel zu bedeuten. Er verspürte keine Angst oder Unsicherheit mehr; er war entspannter als jemals zuvor.
    Wenn er die Augen schloss, sah er Schockwellen aus Licht, die sich verbanden, wieder trennten, explodierten. Obwohl es ihm schwer fiel, öffnete er die Augen weit genug, um das Gesicht seines Freundes erkennen zu können. Der Freund zwinkerte ihm zu und lächelte. Beruhigt schloss er die Augen wieder. Ein Bruder, der in der Vereinigung »Moondance« genannt wurde.
    Er war ebenfalls ein Mitglied der Verbindung. Mit Moondance zusammen im selben Raum zu sitzen, erschien ihm wie ein Wunder; er schätzte sich glücklich, dass Moondance ihn bei seiner allerersten Reise nach Thailand empfangen hatte. Die lange Vorbereitungszeit, die er online beim Studium all der Fotos verbracht hatte, im Bewusstsein, dass er ein neues, gewaltigeres, einfacheres Universum betreten würde, hatte seine Erwartungen ins Unermessliche gesteigert.
    Moondance hatte gesagt, dass die Drogen zu dieser Erfahrung gehörten.
    Er sah zu, wie Moondance die Vene in seinem ausgestreckten Arm abgriff. Zuerst versuchte er, den Arm wegzuziehen, aber er hatte nicht mehr die Energie dazu. Er dachte an die wunderschönen Lichter und Farben und die Musik und bemerkte kaum, wie Moondance die Nadel in die blaue, blaue Vene schob. Langsam drückte Moondance den Kolben in die Spritze. Komisch, dachte er später, die Nadel steckte immer noch in der Vene. Aber er geriet deswegen nicht in Panik. Er war angestochen. Plötzlich kam ihm das völlig normal vor. Er legte den Kopf zurück und lauschte der Musik.
    Moondance hatte eine CD in seinen tragbaren CD-Player eingelegt. New-Age-Musik. Die Klänge von Enigma halfen ihm, seinen Körper zu verlassen, zu schweben und mit Lichtgeschwindigkeit über die Stadt zu fliegen.
    Moondance hatte ihm versprochen, dass sie jeden Augenblick erscheinen würde. Die Göttin. Die Göttin, die er im Internet ausgewählt hatte. Achtzehn Jahre alt, von zarter Gestalt, langes, dunkles Haar und schüchterne, sanfte Augen. Auf der JPG-Grafik hatte sie einen Arm erhoben, um sich durchs Haar zu streichen. Er hatte ihr strahlendes Lächeln als Bildschirmschoner in seinen Computer gebannt, und Tag für Tag leuchteten ihm diese Augen vom Monitor entgegen, dieses Lächeln. Moondance hatte ihr geholfen, E-Mails auf Englisch zu verfassen.
    Sie hatte auf ihn gewartet, um ihn zu beglücken, ihn zu lieben und bei ihm zu sein, so lange er wollte. Das war sein Traum.
    Dies war der Wendepunkt. Der Punkt ohne Wiederkehr.

2 (Auszug)

Bangkok. Pechschwarze Nacht, neun Uhr abends, der Regen wurde zu einem feinen, grauen Nebel zerblasen. Einige der kleineren Sois hatten sich schon knöcheltief mit schlammigem Wasser gefüllt. Ein paar Autos waren abgesoffen und steckten bei der Ding-Daeng-Kreuzung fest. Eine scheußliche Nacht, um nach einer jungen Frau zu suchen, die Geburtstag hatte. Sie war ein Bargirl der gehobenen Klasse und arbeitete in einer der Dead Artists Bars auf der Soi 33. Ihr australischer Liebhaber hatte die Kosten für die Zustellung bezahlt, und er wollte ­ nein, er forderte ­, dass sie ihre Geburtstagskarte nicht morgen oder übermorgen, sondern genau heute, am Abend ihres Geburtstags, bekam. Ein Farang in Bangkok, von seinen Hormonen aufgeputscht, halb durchgedreht und rasend vor Ungeduld. Und sein Geld brachte einen anderen Mann dazu, sich auf die Suche nach einem Engel zu machen, der ohne ein Wort verschwunden war, und dafür durch die Gosse zu schwimmen.
    Vincent Calvino sollte eine Frau finden, die bei einem Berufseinsatz abgetaucht war, und er sollte ihr auch noch eine Geburtstagskarte überreichen. Sogar für seine Verhältnisse war das ein merkwürdig verdrehter Auftrag, den er gegen seinen Instinkt angenommen hatte. Aber jetzt war er hier draußen, die Postkarte in der Tasche. Er fuhr durch Straßen, die zu Abwasserkanälen geworden waren, in denen der ganze unterirdische Schmutz an die Oberfläche stieg und Richtung Meer rauschte. Die halbe Menschheit war verschwunden oder wurde vermisst, aber nur wenige hatten jemanden, der nach ihnen suchte, und schon gar nicht jemanden mit genügend Geld, um einen Privatschnüffler zu beauftragen, sie in einer verregneten Nacht aufzuspüren. Um jeden Preis. Den Klienten hatte es offenbar erwischt ­ nichts gegen ihn, schließlich hatten Farang mit dieser Krankheit schon mehr als eine Privatdetektivrechnung bezahlt.
    Calvino warf einen Blick in den Rückspiegel ­ eine Neonreklame füllte ihn ganz aus: HELL, die Hölle. In fetten Großbuchstaben. Die Buchstaben sollten doch verkehrt herum stehen, dachte Calvino. Aber er las ein leuchtendes, seitenrichtiges rotes HELL im Rückspiegel, wie bei einem Rettungswagen, den man sofort identifizieren konnte, wenn man die Sirene hörte und in den Spiegel sah. Er wandte sich um und hängte einen Arm über die Sitzlehne. Tatsächlich war das HELL an dem Gebäude ein LLEH.
    Links vom Hauptschild schimmerte eine kleinere Neonreklame in kaltem Blau. Zwei Worte: The Cause. Sie tauchten seit einiger Zeit an Klubs, Bars und Restaurants auf. Die Mitglieder des Cause beschränkten sich meistens darauf, auf dem Causeway, ihrer Amüsiermeile, zu essen und zu trinken. Aber andere wollten sich auch ein Stück vom Kuchen abschneiden und hatten angefangen, das Cause-Zeichen anzubringen. Man sah es immer häufiger.
    Internet-Terminologie: Der Cause, der Causeway, MF, GTF; diese Farang brachten einen ganz neuen Geschäftszweig in Gang. Die URL ­ www.causemember.com ­ war im Cyberspace bereits Legende, das machtvolle Nervenzentrum der Kommunikation zwischen den Angehörigen des Cause, der gerechten Sache. Mitglied wurde man, indem man hundert Mäuse pro Jahr löhnte, dafür ein Passwort und eine User-ID bekam und unbegrenzten Zugang zu Tipps, Kommentaren und Informationen über die richtigen Yings, Hongs und Bars ­ die wesentlichen Dinge des Lebens eben. Dazu gehörte auch ein einjähriges Abonnement des Online-Ying-Magazins ­ des unübertroffenen Insider-Leitfadens zu den Yings ­ den Frauen der Philippinen, von Kuba, Indonesien, Thailand. Jedes Land hatte seinen eigenen Causeway. Das Cause-Geschäft war eine Goldgrube. Doch diese Miniaturbar lag abseits der ausgetrampelten Pfade. Calvino fragte sich, ob schon irgendein Farang diese Kneipe entdeckt hatte. Ob sie ein Mitglied im Bericht über seinen zehntägigen Eroberungsfeldzug auf dem schwarzen Brett des Cause beschrieben hatte? Er bezweifelte es. In der Hölle war nicht viel los, aber es war regnerisch und noch früh am Abend. Hell schien der Ort zu sein, wo man strandete, wenn man alles andere hinter sich hatte.
    Jetzt war es Frühstückszeit für die Jäger der Nacht, die nach dem Zeitplan von Vampiren lebten. Er hatte mehrere Klienten, die Cause-Mitglieder waren; sie landeten in Don Muang, logierten im Dynasty, Nana, Brandy oder einem von Dutzenden anderer Causeway-Hotels, die sie als Ausgangspunkt zum Trinken und Spielen auf der Unterhaltungsmeile der Nana Plaza nutzten. Sie aßen an Garküchen oder in einem von Hunderten von Restaurants in den Sois abseits der Sukhumvit Road. Sie wussten schon bevor sie aus dem Flugzeug stiegen, wo sie Massagen bekamen, wo man die Freischaffenden aufgabeln konnte, sie kannten das volle Menü mit den Preisen für jede Art von Vergnügung. Das Gebiet, das zu erkunden die Mitglieder um die halbe Welt reisten, war insgesamt nur ein paar Kilometer lang: Die Sukhumvit Road mit ihren Querstraßen von Soi 1 bis Soi 33. Die Mitglieder blieben ständig in Verbindung, tauschten ihre Erfahrungen aus, ihre Vergnügungen, Enttäuschungen und Kümmernisse, oft in Form eines täglichen Tagebucheintrags per E-Mail. Die meisten Mitteilungen befassten sich mit Yings: Beschreibungen, Fotografien in verschiedenen Stadien der Entkleidung, Maße, Formen, geleistete Dienste, Stellungen, ob für schnelle Nummern oder für die ganze Nacht. Manchmal systematisierten sie ihre Erfahrungen in Bar-Diagrammen, farbigen Charts, die Preis-Leistungs-Verhältnisse verglichen und analysierten.
    Ein Mitglied des Cause hatte Calvino mit seinem gegenwärtigen Auftrag betraut. Einer seiner typischen Millenniums-Klienten. Vor ein paar Jahrzehnten hätte derselbe Typ auf der Suche nach dem großen Kick einen anderen Weg eingeschlagen. Damals wäre er vielleicht der ewige Surfer gewesen, der auf der Suche nach der perfekten Welle um den Erdball zog. Aber die Surfer waren alle alt geworden, fett, geschieden, mit fünfzig entlassen, und so wurde eine neue Art der Magie erfunden, eine neue Landkarte der Ausdrucks- und Erfahrungsmöglichkeiten, die die Suchenden nach Bangkok, Manila, Angeles, Phnom Penh und Djakarta führte. Eine Route für Abenteurer auf der Suche nach dem Monster-Fick (Internet-Kürzel: MF). Andere nannten die Erfahrung lieber Großer Tsunami-Fick (GTF). Die Sprache veränderte sich, die Kürzel schwirrten durch die Luft wie Granaten, und es war unklar, wer den Krieg der Worte gewinnen würde oder wer die Männer waren, die die neue Sprache erfanden. Natürlich waren es nicht nur Männer; es gab auch Yings darunter. Der Cause war keine homogene Einheit, repräsentierte nicht eine einzelne Nationalität oder ethnische Gruppe, sondern viele verschiedene Parteien, die sich in denselben Monster-Traum flüchteten: sexsüchtige, geschiedene, getrennte, verwitwete Männer, politisch korrekte Ausgeflippte, Vegetarier, Exknastis, Glücksritter, Homöopathen, Psychopathen, Kriegstreiber, Langweiler, Trinker, Terroristen, Gelehrte, Skinheads, Bankiers, Punker. Männer, die nach Jahren im Grabenkrieg der Emanzipation abgestumpft waren, Dicke, Kahlköpfige, Abgewiesene, Verwundete, Missbrauchte, Frustrierte, Enttäuschte, unheilbare Romantiker, durch Viagra wieder geborene Dinosaurier ­ alte Knaben, alte Frauen, die Dorian Grays, die Peter Pans, Lastwagenfahrer, Krüppel, erlebnishungrige Abenteurer Š Die Liste war unendlich. Der Cause war eine amorphe Masse in stetigem Wandel, die sich nicht fassen ließ.
    Für den einen oder anderen war es der letzte Traum.
    Während der vergangenen zehn Monate hatte es fünf tote Farang gegeben. Ein paar der Leichen hatte man in einer abgelegenen, dunklen Soi gefunden, ein paar Meilen vom Flughafen Don Muang entfernt. Die anderen waren in einem Guesthouse und einem Stundenhotel entdeckt worden. Calvino glaubte, dass die Morde das Werk eines Serienkillers waren, der es auf ausländische Reisende abgesehen hatte.
    »He, schließlich stamme ich aus New York. Ich kann einen Mord riechen. Ein Serienmörder, Pratt!«
    Pratt ließ sich von Calvinos olfaktorischen Fähigkeiten nicht beeindrucken. »Wir sind hier nicht in New York, Vincent. Jeder der Toten ist an einer Überdosis Rauschgift gestorben. Und alle hatten ihre Pässe, ihr Geld und ihre Wertsachen noch bei sich. Wo ist das Motiv? Wo kein Motiv ist, da stinkt auch nichts.«
    Calvino musste lächeln, während er überlegte, ob das irgendein Shakespeare-Zitat war. »Das Motiv finde ich noch. Lass mir etwas Zeit.« Pratt hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Ein Thai würde einen Farang nur wegen Geld töten, oder weil er durch die Schuld des Farang das Gesicht verloren hatte und es deswegen zum Kampf gekommen war. Aber da waren keinerlei Anzeichen von Gewalt. Die toten Männer hatten nicht einmal eine Schramme. Nur eine Nadel im Arm und eine tödliche Dosis Heroin im Blut. Aber es gab auch einen roten Faden: Alle Opfer waren Amerikaner, ledig und eingetragene Cause-Mitglieder, die innerhalb von vierundzwanzig und achtundvierzig Stunden nach ihrer Landung auf dem Flughafen umgekommen waren.
    Fakt eins: Alle waren Amerikaner. Fakt zwei: Alle waren an einer Überdosis gestorben. Einer Spritze voll Heroin, die in die Vene in der Armbeuge eingeführt worden war. Die Nadel hatte jedes Mal noch im Arm gesteckt, als die Bullen die Leiche mit bläulich verfärbten Lippen fanden. Fakt drei: Alle waren sie Mitglieder des Internet-Klubs für allein reisende Männer namens The Cause. Calvino machte die Fälle zu seinem Steckenpferd, nachdem die Angehörigen eines Opfers ihn engagiert hatten, den Polizeibericht und den Totenschein zu verifizieren. Das Opfer war ein Typ aus San Francisco in mittlerem Alter gewesen, der nie zuvor mit Heroin zu tun gehabt hatte. Wie hatte Pratt gesagt? »Dann hat der Farang seine Sucht eben gut verborgen. Oder er wollte mal was erleben, hat aber nicht begriffen, wie gefährlich Heroin ist, und gleich beim ersten Mal eine Überdosis erwischt.«
    »Und ich bleibe dabei, Pratt, die hier sagt mir, dass sie umgelegt wurden.« Er berührte seine Nase. »Ein Weißer aus guten Verhältnissen fängt nicht plötzlich an zu fixen, nur weil er eine Reise nach Thailand macht.« Polizeibericht und Totenschein waren in Ordnung, aber die Zweifel nagten weiter.
    Während Calvino in seinem geparkten Wagen saß, dachte er darüber nach, wie es kam, dass niemand die toten Farang ausgeraubt hatte. Etwas daran irritierte ihn, so wie ihn der Schriftzug »Blumen« im oberen Teil des Schaufensters dieses Ladens störte. Er studierte die Auslage: Teddybären, Stoffelefanten und -hunde, Keramik-Sparschweine und auf Plastikbügeln Miniröcke für Bargirls. Keine einzige Blume. Ein Blumenladen, der keine einzige Blume verkaufte, nicht einmal eine unechte, war wie ein Mord, bei dem weder Geld noch Pass gestohlen wurden. Die einzigen Blumen in Sichtweite baumelten an seinem Rückspiegel. Eine Blumengirlande aus zwei kurzen Strängen von Jampee-Blüten; lange, schmale, elegante Blütenblätter, die einen schwachen, weichen Duft verströmten. Jampee noi hieß dieses Zwillingsanhängsel von Blüten auf Thai. Gleichzeitig war es Thai-Slang für das männliche Glied. Der Penis eines kleinen Jungen. Die Jampee waren vertrocknet, und zur Farbe von blankem Kupfer verwelkte Blütenblätter fielen auf das Armaturenbrett. Der anfänglich durchdringende Duft der Blumen war zu einem schwachen Hauch verblasst.
    Rechts von dem Blumenladen, der keine Blumen verkaufte, war ein Mini-Markt. Er führte tatsächlich Lebensmittel, also stand die Welt doch noch nicht völlig Kopf. Gegenüber lag ein Friseursalon mit einem halben Dutzend Stühlen und einem Wartebereich mit Fernseher. Die kleine Ladenstraße lag am einen Ende eines Parkplatzes und bediente zwei der Wohntürme von Grand Villas. Ebenso wenig wie der Blumenladen mit Blumen hatten diese Wohnsilos mit echten Villen zu tun. Zwölf Geschosse mit ein paar hundert Zimmern ­ bewohnt von Studenten, Angestellten und Prostituierten. Drei Thais in Schlappen kämpften im leichten Nieselregen mit einer Queen-Size-Matratze und blieben an der Ecke des Mini-Markts stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Ein anderer Mann folgte ihnen mit einem Großbild-Fernseher, begleitet von ein paar Yings mit der Art Abendkleidung, die der Blumenladen feilbot. Der Ort war wie ein eigenes kleines Dorf, in dem immer etwas los war. Jetzt war gerade die hektische Phase am Monatsende, Mieter zogen aus, andere ein.
    Calvinos Auftrag war einfach ­ Pao finden und ihr eine Geburtstagskarte von Frank Hogan aushändigen. Heute war Paos Geburtstag, jedenfalls wenn man diesem Australier glauben durfte. Frank war eingetragenes Mitglied des Cause. Er hatte sechstausend Baht berappt, damit Calvino die Geburtstagskarte persönlich zustellte. Warum nicht per Kurier oder Eilzustellung? Warum sie nicht selbst abgeben? Die Fragen waren angebracht, aber Hogan hatte plausible Antworten: Er wollte aus erster Hand erfahren, wie Pao auf die Karte reagierte. Da er Streit mit Pao gehabt hatte und sie nicht mehr mit ihm redete, wollte er die Karte nicht persönlich überbringen. Hogan wusste auf alles eine Antwort, und sechstausend Baht war gutes Geld mitten in der Regenzeit und während einer Wirtschaftskrise. Hundertfünfzig Dollar ­ und Calvinos Bedenken waren ausgeräumt. Pao war »walkabout« gegangen ­ das war Franks australischer Ausdruck ­, und zwar drei Tage vor ihrem Geburtstag, war nicht mehr bei der Arbeit in der Dead Artists Bar aufgetaucht und hatte auch nicht angerufen.
    Calvinos Sekretärin Ratana äußerte, dass sie kein gutes Gefühl habe, was Hogan betraf. »Das ist ein Haufen Geld, um eine Karte zu überbringen«, sagte sie. Tief in ihren chinesischen Genen war ein Abakus eingebaut, der den Wert von Dienstleistungen oder Waren schneller berechnen konnte als ein Supercomputer der NASA.
    Er lächelte. Sie war schnell, klug und lag meistens richtig. »Es sind nur zehn Minuten Arbeit.« »Warum bittet er nicht einen Freund um Hilfe und gibt ihm dafür fünfhundert Baht?« Sie wartete auf Calvinos Antwort, aber es war ihr klar, dass er sich bereits entschieden hatte, weil ihm die Kunden zurzeit nicht gerade die Tür einrannten.
    »Männer wie Frank haben keine Freunde. Und wenn doch, vertrauen sie ihnen nicht. Jedenfalls nicht, wenn es um Yings geht.«
    »Ich habe kein gutes Gefühl bei Männern, die keine Freunde haben.«
    »Werden Sie etwa abgebrüht?«, fragte er sie.
    Sie lächelte matt und blickte in ihren Kaffee. Calvinos Gesetz: Abgebrüht wird ein Mensch an dem Tag, an dem er erkennt, dass sein Zynismus bezüglich der Menschheit völlig gerechtfertigt ist. »Sie sehen müde aus, Khun Vinee. Ich werde die Karte abliefern. Es dauert ja nur zehn MinutenŠ«
    Der Knauf seines 38er-Colt Police Special fiel nach vorn, als er sich über den Schreibtisch beugte und zum Telefon griff. Sie wussten beide, dass es keine Angelegenheit von zehn Minuten war. »Vielleicht dauert es doch länger. Und es sieht nach Regen aus.« Er nahm den Hörer ab und wählte die Nummer von Frank Hogans Büro.
    »Frank. Hier ist Vincent Calvino. Ich liefere heute Abend die Geburtstagskarte ab«, sagte er, während er Ratana nicht aus den Augen ließ. »Ja, ich bringe sie selbst hin.« Er legte auf und zog ein Foto des Geburtstagsmädchens aus dem Stapel auf seinem Schreibtisch. Ratana kehrte in ihre Hälfte des Büros zurück und ließ ihn allein mit dem Foto. Was kann ein Farang bloß an so einem primitiven Bauernmädel vom Land finden, dachte sie.
    Pao trug eine grün-schwarze Uniform und ein weißes Hemd mit schwarzer Fliege. Calvino musterte das eingefrorene Lächeln, die großen Augen mit nachgezogenen Brauen und die vollen Lippen. Die Uniform eines Dead-Artists-Bargirls. Irgendetwas fehlte auf dem Bild. Calvino studierte ihre Gesichtszüge. Ein Kennzeichen: ein kleines, braunes Muttermal an der rechten Seite ihres Kinns. Was bedeutete diese Frau für Frank Hogan? Was konnte die aufwändigen Arrangements und die sechstausend Baht für eine Geburtstagskarte erklären? An Pao war nichts Besonderes. Es ergab keinen Sinn. Dann erinnerte er sich daran, was sein Vater immer zu seiner Mutter zu sagen pflegte: »Zeig mir den Ort im Universum, wo alles einen Sinn ergibt. Dann ziehen wir mit der ganzen Familie dorthin.«

Calvino sah auf die Uhr. Bei Beschattungen blieb die Zeit stehen. Neun Uhr vierzehn. Die Kerle mit der Matratze schleiften das Ding herum wie ein lebloses Etwas, das sie aus einem Schiffswrack gezerrt hatten. Ein paar Taxis mit hin und her klappenden Scheibenwischern und beschlagenen Scheiben krochen auf der Suche nach Fahrgästen vorbei. Warten, warten. Dann tauchte sie auf dem Treppenabsatz auf. Die Überwachung war beendet. Er konnte liefern und dann nach Hause gehen. Pao war allein. Sie trug einen leuchtend blauen Minirock, der aussah, als wäre er aus Plastik, eine dazu passende Weste und hochhackige Schuhe. Er stieg schnell aus dem Wagen und schlängelte sich zwischen ein paar Dutzend Motorrädern hindurch. Als er das Fußende der Treppe erreicht hatte, war eine Freundin neben ihr aufgetaucht; offensichtlich eine Berufskollegin: enge schwarze Hosen und ein durchsichtiges weißes Oberteil, das ihre Schultern entblößte. Pao rauchte eine Zigarette und schnippte die Asche weg, während sie sich mit ihrer Freundin unterhielt.
    »Happy Birthday, Pao!«
    Ihr Kopf fuhr zu Calvino herum, und sie starrte ihn mit einem umwölkten Gesichtsausdruck an, der besagte: Wer zum Henker bist denn du?
    »Kenne ich Sie?«
    Calvino, Haare und Gesicht nass vom Regen, erreichte den Treppenabsatz. »Frank Hogan wollte, dass Sie seine Karte an Ihrem Geburtstag bekommen.« Er reichte Pao einen weißen Umschlag, eines dieser gefütterten Dinger, die ein Bündel Geld oder Rauschgift oder getrocknete Blumen verhießen. Frank hatte ihren Namen auf Englisch draufgeschrieben und jemand anders »Pao« in thailändischer Schrift unter die englischen Buchstaben setzen lassen. Sie untersuchte den Umschlag mit einer Mischung aus Angst und Neugier, ihre langen roten Fingernägel tickten darauf.
    »Willst du ihn nicht aufmachen?«, fragte ihre Freundin und wippte in ihren engen Lederhosen gewichtslos hin und her.
    Sie trat zurück in die Lobby des Gebäudes, und Calvino folgte ihr. »Es ist nur eine Geburtstagskarte«, sagte er. »Frank wollte, dass Sie sie bekommen.«
    »Frank ist ein verrückter Hurensohn«, sagte Pao. »Kein Mädchen kann lange bei so einem Mann bleiben. Oder sie wird irre.« Sie versuchte, Zeit zu gewinnen, während sie überlegte, ob Hogans Bote Teil einer Verschwörung war, sie in den Wahnsinn zu treiben. Huren haben das Misstrauen vielleicht nicht erfunden, aber nach neun Uhr abends kann sich jeder eine gute Portion davon bei ihnen abholen. Sie zog die Karte aus dem Umschlag und klappte sie mit einem langen, rot lackierten Fingernagel auf. Es war eine dieser kitschigen Musikkarten, die »Happy Birthday« im Donald-Duck-Stil, halb Stimme, halb Geräusch spielen. Sie schüttelte die Karte. Nichts fiel heraus. Nichts war darin. Kein Geld, kein Scheck. Nur eine musikalische Geburtstagskarte. »Billiger Jakob«, sagte Pao. »Erzählen Sie diesem billigen Jakob, dass ich ihn nie wieder sehen will. Dass ich ihn hasse!«
    Paos Freundin lachte. »Kein Geld?«
    Paos Zorn steigerte sich, und ihr Gesicht lief rot an, während sie die Hände zu Fäusten ballte. Das war die Reaktion, die er seinem Klienten berichten musste. Die Arbeit war getan, er konnte endlich nach Hause gehen und wieder trocken werden. Calvino war gerade dabei, sich abzuwenden, und daher aus dem Gleichgewicht, als ihn, ohne dass er Zeit zum Reagieren gehabt hätte, ein Schlag in Nasenhöhe erwischte. Ein zweiter Hieb traf ihn in den Unterleib, er krümmte sich zusammen und ging langsam in die Knie. Zwei Stöße trafen seine Rippen, während er sich zu schützen versuchte. Er lag flach auf dem Bauch, und als er aufstehen wollte, lief ihm Blut in die Augen und nahm ihm die Sicht. Er spuckte rot, während er sich bemühte, den Mann, der aus dem Nichts gekommen war, ins Auge zu fassen. Sein erster Eindruck war, dass der Kerl entweder Inder oder Iraner war. Als es ihm endlich gelang, sich wieder hochzurappeln, sah er den Mann. Sein Angreifer hatte einen Schnauzer und einen Zwei-Tage-Bart; er trug Shorts, Designer-Laufschuhe, ein T-Shirt der Chicago Bulls und schien Ende Zwanzig zu sein. Muskulöse Arme und Schultern, durchtrainiert mit dickem, gebräuntem Hals; das Brusthaar des Kerls reichte ihm wie ein Teppich bis an die Kehle.
    »Du mieser Cause-Perversling, lass die Finger von meinem Mädchen, sonst bring ich dich um«, sagte er.
    Mit pochendem Gesicht, blutend, den Bauch von den Schlägen schmerzverkrampft versuchte Calvino, sich auf den Angreifer zu konzentrieren, der auf den Fußballen tänzelte wie ein Boxer. Es schien nicht, als wollte der Mann von ihm ablassen. Der wollte ihn fertig machen. Als Pao das Blut auf Calvinos Gesicht sah, trat sie dazwischen. Calvino wollte den Kerl in Stücke reißen. Dieser Bursche hatte ihn mit zwei Schlägen zu Boden gestreckt, zwei soliden, harten Schlägen. Das Schlimmste war nicht der Schmerz, sondern dass er sich alt und langsam vorkam. Calvino hatte sich in seine Vierziger verbissen wie ein Hund in seinen Knochen.
    »Hör auf, T.J.! Siehst du nicht, dass du ihm schon genug wehgetan hast? Außerdem ist das nicht Frank. Ich kenne den Kerl nicht einmal, okay?« Sie musterte Calvino wie der Schiedsrichter einen zusammengeschlagenen Boxer, unmittelbar bevor er dessen Gegner zum Sieger durch technischen K.o. erklärt. »Sie verschwinden hier besser, Opa.«
    Calvino starrte sie an. Opa. Sie hatte ihn Großvater genannt, Alterchen. Karte abgeliefert, Nase gebrochen, dickes blaues Auge. Zeit zu verschwinden; seinen Stolz runterzuschlucken, sich einzugestehen, dass er nicht mehr länger in diesem seltsamen Zwischenalter war, zu alt, um ein Junge zu sein, zu jung, um Opa genannt zu werden. Er könnte ihr Vater sein, und der des Kerls, der ihn verprügelt hatte. Calvino nickte Pao zu, wischte sich das Blut aus dem Gesicht und wandte sich zum Gehen. Sechstausend Baht, dachte er. Job erledigt.
    »Wenn ich dich jemals dabei erwische, wie du mit alten Knackern auf der Suche nach dem Monster-Fick herumbumst, kannst du noch mehr davon haben.«
    T.J. schlug Pao mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie begann zu weinen, und ihre Freundin stimmte mit ein. Sie hatte Geburtstag, es goss in Strömen, sie bekam eine musikalische Geburtstagskarte ohne Geld von einem Fremden überreicht, ihr Freund brach eine Schlägerei vom Zaun, und dann ohrfeigte er sie auch noch ­ ihr Leben hatte eine hässliche Wendung genommen, und die Würfel waren gefallen für ein unglückliches neues Lebensjahr. Calvino schloss einen Moment lang die Augen, dachte nach, und bevor er noch wusste, wohin seine Gedanken sich entwickeln würden, hatte er schon seine Ferse hart auf T.J.s rechten Fuß gestampft und einen Tritt in die Leiste folgen lassen. T.J. ging aufjaulend zu Boden. Calvino stemmte sich mit einem Knie in T.J.s Rücken, zog ein Paar Handschellen hervor und ließ sie erst um das rechte und dann das linke Handgelenk einschnappen.
    »Entschuldige dich bei Pao«, sagte Calvino.
    »Was bist du, ein beschissener Bulle?«
    Calvino gab ihm eins aufs Ohr. »Ich höre keine Entschuldigung.« Er presste sein Knie fester in T.J.s Rückgrat. »Vielleicht sollte ich einfach die Polizei rufen. Damit sie dein Visum kontrolliert und dein Appartement nach Rauschgift durchsucht.«
    »Schon gut, Pao. Es tut mir Leid. Okay?«
    Pao steckte sich eine Zigarette an und ließ sich Zeit, während Calvinos Knie einen Nerv im Rücken ihres Freundes drückte. Am Ende war es doch kein so schlechter Geburtstag.
    »Scheiße noch mal, sag ihm schon, dass es gut ist. Bitte!«
    Das Wort gefiel ihr. Bitte.
    »Sie kann dich nicht hören«, sagte ihre Freundin.
   
    »Bitte!«, brüllte der Freund. »Ist gut«, sagte Pao und sog lächelnd an ihrer Zigarette.
    Calvino nahm die Handschellen ab und schob sein Jackett zurück, um sie wieder an den Gürtel zu hängen. T.J. rollte sich auf den Rücken und dachte, dass es an der Zeit wäre, ein wenig Rache zu nehmen, als er den 38er Police Special in Calvinos Schulterhalfter erblickte. Sein Kampfgeist erlosch. Seine Fäuste öffneten sich. Offensichtlich war ihm klar geworden, dass Calvino ihn nach seinem ersten Schlag hätte erschießen können. Er wich zurück, wich weit zurück, humpelte zur Couch, die im Foyer stand, und setzte sich hin.
    Und so endete die Nacht der Geburtstagskarte: mit Pao, die auf der Couch T.J.s Hand hielt und ihn auf die Wange küsste. Vielleicht war es weniger ein Kuss als eines dieser Schnupper-Rituale, die Thai-Yings gelegentlich vollführen; den Geruch eines anderen Menschen einzuatmen. Wie eine Löwin an ihrem Jungen schnuppert, um sicher zu sein, dass es auch das eigene ist.
    Als Calvino zu seinem Wagen zurückkam, fischte er in seinen Taschen nach dem Schlüssel, bis ihm klar wurde, dass er innen steckte und er sich ausgesperrt hatte. Er betastete seine Nase. Sie war unter T.J.s hammerartigem Schlag gebrochen. Er spürte den Regen im Gesicht. Er hatte keine große Wahl. Er konnte einen Chang suchen ­ eine Art Straßenhandwerker, den die Thais manchmal auch als »Ingenieur« bezeichneten ­, um die Tür zu knacken, aber das wäre nur ein, zwei Stufen besser gewesen, als sich von einem Fremden k.o. schlagen zu lassen. Der Chang würde ihm einen Farang-Preis berechnen, Regenzuschlag, und zweifellos würde er die Tür ruinieren, den Lack zerkratzen, das Blech verbeulen und die Gummidichtung um die Scheibe kaputtmachen. Calvino rechnete aus, dass die Alternative ungefähr gleich viel kosten würde, er damit aber sofort in sein Auto kam. Also zog er den 38er Police Special aus dem Halfter, packte ihn am Lauf und zerschmetterte die Scheibe mit einem einzigen Schlag des Knaufs. Er öffnete die Tür des Wagens, wischte die Glasscherben vom Sitz, glitt hinters Steuer und ließ den Motor an. Ende eines einfachen Auftrags: einen Geburtstagsgruß zustellenŠ zehn Minuten Arbeit.

 

Aus dem Englischen von Peter Friedrich.
© Unionsverlag, 2001

 

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