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Pablo de Santis: Voltaires Kalligraph

Eine Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Unionsverlags.

 

Siccards Haus

Voltaires Kalligraph Die Siccards waren eine Familie von Papierfabrikanten, die mit den Jahren ihren Handel auf Federn und Tinte ausgeweitet hatten. Sie unterhielten eine eigene Gänsezucht, eine belgische Rasse mit blaugrauem Gefieder, das auf Glassplittern im Eisenofen gehärtet wurde. Der Gründer des Familienunternehmens, Jean Siccard, war vor zwei Jahren gestorben, und der Betrieb, schlecht geführt von seinem Sohn, hatte einmal kurz vor dem Aus gestanden. In den vergangenen Monaten hatte der junge Siccard jedoch zu seinem Kurs zurückgefunden, und der Laden bot jedem Kunden, kaum hatte er die Schwelle überschritten, sortiert in Schubladen die unterschiedlichsten Federn, Kartons mit marmoriertem Papier, Rechnungshefte, Blätter mit handgemalten Pentagrammen und Pergament für die Kartographen.
      Als ich in dem Gebäude ankam, bereitete ein Angestellter den Versand eines Kartons mit Papier für die Gerichte vor. Ich zeigte ihm das Schreiben, das mir Abt Mazy hatte zukommen lassen, worauf der Bedienstete mich alarmiert ansah, vermutlich wegen der anderen Leute im Geschäft, und mich, mehr darum bemüht, mich zu verstecken als mir vernünftig den Weg zu weisen, in den hintersten Winkel des Geschäfts schickte. Er beachtete weder den Inhalt des Schreibens noch welche Kunstfertigkeit der Abt an den Tag gelegt hatte, um mich im Haus Siccard unterzubringen. Ich durchquerte den Raum, betrat einen Flur, kam an einem Angestellten vorbei, der eine breiige Papiermasse durchwalkte, und stieß hinter einer mit arabischen Schriftzeichen geschmückten spanischen Wand auf eine Treppe.
      Just in diesem Moment kam mir ein junger Mann in einem tintenverschmierten Hemd entgegen, auf dem sich einige Wörter spiegelverkehrt so perfekt abzeichneten, als hätte er den Stoff als Löschpapier benutzt. Hastig las er den Brief.
      »Ich bin Aristide Siccard, der Sohn von Jean Siccard und verantwortlich für die Kursänderung unseres Familienunternehmens. Sie hätten zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Einer unserer Kalligraphen ist krank, und der andere schon seit einer Stunde überfällig. Der Bote kann aber nicht mehr länger warten.«
      Er führte mich in ein kleines Zimmer. Auf einem Diwan lag eine nur spärlich mit einem Laken bedeckte Frau. Mit unserem Eintreten wurde sie wach, sah mich an und fragte, ob es mich störe, wenn sie weiterschliefe, während ich arbeitete. Sie versicherte mir, sie könne das auch im Stehen tun. Die Frau war von der unbekümmerten Schönheit jener Menschen, die nie auf den Grund eines Spiegels geschaut hatten. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, weil sie das Tuch hatte fallen lassen. Selten zuvor hatte ich eine nackte Frau gesehen, und meine größte Erfahrung in dieser Hinsicht basierte auf einem Buch mit dem Titel Aphrodites Girlande, das in den Schlafzimmern der Schule de Vidors die Runde gemacht hatte.
      Siccard brachte mir die Tinte, mit der dort gearbeitet wurde (zähflüssiger als gewöhnliche Tinte, damit sie auf der Haut nicht zerlief). Aristide begann, mir den Text der Nachricht vorzulesen, während ich versuchte, das Zittern meiner Hand zu kontrollieren. Ein Kalligraph braucht Routine im Leben; geschieht Außergewöhnliches, fängt ihm die Hand an zu zittern, und er verliert seine Fähigkeit. Aus diesem Grund vergisst uns die Geschichte nur zu gern, die ansonsten doch die Namen der unterschiedlichsten Künstler sammelt. Unsere Kunst besteht aus nichts anderem als dem langen, mühevollen Warten auf das, was uns auslöscht und negiert.
      Auf Siccards Wunsch hin setzte ich am oberen Teil des Rückens an. Die Frau hieß Mathilde, und der Name war das Erste, das ich zu vergessen suchte. Sie hatte sich das Haar hochgebunden, das schwarz und ausufernd war wie ein Tintenklecks, doch es löste sich ständig, fiel den Rücken hinab und drohte meine Buchstaben zu verwischen. Ich versuchte, an andere Dinge zu denken, mich auf die Buchstaben zu konzentrieren, aber die Nüchternheit der Worte - Verwaltungsrichtlinien, Investitionsinformationen auf Holländisch - stand in einem solchen Kontrast zum Akt des Schreibens, dass sich hinter all den sachlichen Ausdrücken ein obszöner Sinn zu verbergen schien. Ich wünschte mir, das Licht, das diesen Körper umspülte, könnte auch meine Gedanken überblenden. Ich betrachtete Mathilde, als wäre sie lediglich ein Gegenstand, eine Oberfläche, weiter nichts, und während ich ein »t« zeichnete, gelang mir dieser Selbstbetrug auch, aber bei den Kurven eines großen »R« zitterte ich erneut.
      Doch ich wollte nicht aufgeben und probierte es mit der Rückbesinnung auf anatomische Abhandlungen, die mich zu meiner Studienzeit so gefesselt hatten. Unter der unzweifelhaft schönen Hülle versuchte ich, mir den abstoßenden Organismus aus Muskelgewebe und Knochen vorzustellen. Doch die Schönheit triumphierte über jedes meiner Ablenkungsmanöver.
      Ich hörte aus Aristides Stimme eine gewisse Besorgnis über die kaum leserlichen Striche, und in einem letzten Versuch redete ich mir ein, meine Hand wäre die Silas Darels, die keine Ablenkung kannte. Dieser Gedanke erlaubte mir endlich, Körperpartien einer Frau zu beschriften, die ich bis dahin noch nie gesehen hatte. Ich hatte das Gefühl, dass nicht meine Finger die Feder führten, sondern dass die Worte meine Hand geduldig von Buchstabe zu Buchstabe lenkten. Die ganze Zeit über war mir meine Schrift fremd vorgekommen, in der Unterschrift aber, wo ein mir unbekannter Namen figurierte, hatte ich schließlich doch die Strenge und die Sorgfalt meiner eigenen Züge wiedererkannt.
      Vielleicht bauscht mein Gedächtnis meine Unbeholfenheit unnötig auf, doch bevor Mathilde mich des Raumes verwiesen hatte, um sich in Ruhe anzuziehen, betrachtete sie sich anerkennend in dem großen Spiegel und sagte: »Solange ich nicht beschrieben bin, fühle ich mich nicht wirklich nackt.«
      Nachdem ich die Arbeit abgeschlossen hatte, war mein Nervenkostüm in so schlechtem Zustand, dass ich ziellos durch die Gegend lief, bis ich mich in irgendeinen Vorort der Stadt verirrt hatte. Ich wollte schon umkehren, als ich ganz in der Nähe eine schwarze Rauchsäule spiralförmig aufsteigen sah. Zunächst glaubte ich, es handele sich um einen normalen Brand, doch das war es nicht, es war eine gerichtlich angeordnete Verbrennung: Bücher und Papiere standen in Flammen, und eine Menschentraube sah dem Rauch aufmerksam nach, als könnten sie aus den Kringeln und Fetzen etwas herauslesen, das mir entging. An der Wand prangte eine offizielle Erklärung mit der Liste der zu verbrennenden Werke, unter denen auch ein Voltaire zugeschriebenes Pamphlet auftauchte, in dem er sich über eine jüngst verfasste päpstliche Bulle lustig machte. Über den Vollstrecker, denjenigen, der die Bücher angesteckt hatte, schwieg die Erklärung sich aus, doch unter die Liste war eine mechanische Hand gemalt.

 

Aus dem argentischen Spanisch von Claudia Wuttke.
© Unionsverlag, 2004
Alle Rechte vorbehalten!

 

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