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Yasmina Khadra: Morituri

Eine Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Unionsverlags.

 

1.

Morituri Blutüberströmt liegt der Horizont da und bringt durch einen Kaiserschnitt einen Tag zur Welt, für den sich die Mühe letztlich nicht gelohnt haben wird. Ich wälze mich aus den Federn, völlig geschafft von einem unruhigen Schlaf, aus dem ich beim leisesten Geräusch hochgeschreckt bin. Die Zeiten sind hart: wie schnell ist ein Unglück geschehen.
    Mina schnarcht unweit von mir und meiner Lustlosigkeit, aufgequollen wie ein ranziger Teig, ein Stück ihres Busens liegt achtlos auf dem Rand der Decke. Lang ist es her, daß ich bei der harmlosesten Berührung auf sie abgefahren bin. Damals saß mir der Orgasmus direkt unter der Haut. Und mein Stolz hatte vor allem mit Potenz, mein Positivismus mit Fortpflanzung zu tun. Heute ist mein armes Aschenputtel ebenso degeneriert wie der allgemeine Geisteszustand, besitzt nicht mehr Anziehungskraft als ein liegengelassenes Abschleppseil, ist aber wenigstens da, wenn nachts die Angst in mir hochkriecht.
    Ich schlüpfe in meinen Anzug Marke »Proletarier wider Willen«, schütte ein seifig schmeckendes Gebräu hinunter und verbringe eine volle Viertelstunde auf der Lauer hinter meinem Fenster, für den Fall, daß ein Terrorist vorhaben sollte, mir den mit Vorurteilen vollgestopften Schädel wegzupusten. Die Luft scheint rein. Ein Müllmann räumt gerade den Abfall weg, der morgen garantiert wieder dasein wird, ansonsten ist die Straße so verlassen wie das Paradies.
    Von meinem Haus zur Garage, in der mein Auto geparkt ist, sind es zweihundert Meter. Früher habe ich sie in einem Stück zurückgelegt. Heute ist das eine Expedition. Alles scheint mir verdächtig. Jeder Schritt bedeutet Gefahr. Manchmal habe ich solchen Schiß, daß ich am liebsten umkehren würde.
    Der Parkwächter ist ein guter Kerl. Ich tue ihm leid. In seiner naiven Sicht der Dinge bin ich so gut wie tot. Er ist geradezu überrascht, mich Tag für Tag überleben zu sehen.
    Besonders nah standen wir uns nie. Unsere Beziehung beschränkte sich auf »Guten-Morgen-Guten-Abend«. Aber wenn er mal ein Problemchen hatte, wußte er stets, wo ich zu finden war. Wenn er mit verstörter Miene zu den unmöglichsten Zeiten bei mir auftauchte, beruhigte ihn schon mein bloßer Anblick. Ich war der nette Bulle des Viertels, allzeit selbstlos und hilfsbereit, und meine vier Wände, die ansonsten wenig Ähnlichkeit mit einem Beichtstuhl aufweisen, empfingen ohne Ansehen von Sitte und Rasse endlose Scharen von Außenseitern. Obwohl ich nicht der Prophet war, schien mir, daß ich eine Herde Schäfchen hatte, mit der man zehn Revolutionen hätte bestreiten können. Doch dann fingen sie an, meine Kollegen abzuknallen, und die Welt um mich herum entvölkerte sich schlagartig. Auf der Straße tut man nun so, als kenne man mich nicht. Sich in der Nähe eines Bullen aufzuhalten heißt, sich verdammt in Gefahr zu bringen. Vor allem, wenn es von überall her knallt. Niemand wagt mehr, mich mit der leisesten Geste zu grüßen, nicht einmal mit einem verstohlenen Blick. Niemand erinnert sich mehr an die kleinen Gefälligkeiten, die ich ihm früher einmal erwiesen, oder an das Wespennest, aus dem ich ihn einst herausgeholt habe. Im Land der vier Winde drehen sich die Wetterfahnen im Kreis. Von nun an bin ich »der Bulle« und damit basta. Man erwartet von mir, daß ich die bevorzugte Zielscheibe abgebe und ansonsten die Klappe halte. Deshalb empfängt mich der Parkwächter mit Trauermiene und begleitet mich zu meinem Auto wie zu einem Begräbnis. Keine hektische Verbeugung mehr, kein Tremolo mehr in seinem »Guten-Tag-Herr-Kommissar«, keine an Scheinheiligkeit grenzende Untertänigkeit. Mein Parkwächter zeigt fast so etwas wie Herablassung. Sicher, er ist nichts, aber er riskiert auch nichts. In gewissem Sinn rächt er sich an der sozialen Hierarchie.
    Ich komme mit einer Stunde Verspätung in der Zentrale an. Sicherheit verpflichtet. Es wurde uns eindringlich nahegelegt, unsere Gewohnheiten täglich zu ändern.
    Der Amtsdiener überfällt mich im selben Moment, als ich das Gebäude betrete. »Der Chef verlangt nach Ihnen.«
    »Sag ihm, daß man mich gerade umgebracht hat.«
    Ich schiebe ihn genervt zur Seite und rausche an ihm vorbei in mein Büro. Lino, mein Leutnant, ist schon da. Früher war er Weltmeister im Blaumachen. Andauernd hinter seinen kleinen Intrigen, seinen Bestechungen und seinen Huren her. Er hatte begriffen, daß Wunder im Sultanat der Cliquen und Klüngel eine Frage von Verhandlungen sind. Er verdiente nur ein paar Groschen, genoß keinerlei Vergünstigungen und nicht die geringste Sicherheit. Um an eine Wohnung heranzukommen, hätte er ein besserer Schleimer sein müssen. Und um eine Familie zu gründen, hätte er nicht nur einen harten Schwanz, sondern auch spitze Ellenbogen gebraucht. So wurstelte sich Lino durch den Dschungel unserer Gesellschaft.
    In einem Land, in dem man früh aufstehen muß, um einen schäbigen Kühlschrank zu ergattern, darf man von der Wache nicht erwarten, daß sie abends lange aufbleibt. Deshalb habe ich bei seinen Geschäften immer mitleidig ein Auge zugedrückt.
    Aber mit einem Mal wurde Lino kreuzbrav. Er ist jetzt schon vor dem Amtsdiener im Büro. Was ganz normal ist, immerhin verbringt er dort die Nacht. Zu sich nach Hause, nach Bab-el-Oued, geht er nicht mehr, seit ein Trio von Bärtigen an seiner Halsschlagader Maß genommen hat, um ein passendes Messer für ihn auszusuchen.
    Jetzt ist er traumatisiert, der Leutnant. Traut sich kaum in die Nähe des Fensters. Am Abend, wenn er das Licht zum Schlafengehen löscht, hat er dermaßen Schiß, daß man das Klappern seiner Gallensteine hören könnte. Da sitzt er also hinter seiner Schreibmaschine, mit tiefen Schatten unter den Augen seines Pierrotgesichts. An den Fingern hat er schon keine Nägel mehr, aus seinem Blick ist jeder Ausdruck gewichen, der ganze Kerl sieht zum Steinerweichen mitleiderregend aus.
    »Weißt du, was den Burschen passiert, die sich zu viele Sorgen machen, Lino? Sie bekommen glatzköpfige Kinder.«
    »Ich weiß nicht einmal, ob ich morgen noch von dieser Welt bin.« »Bade dich nur in deinem Opferlamm-Pessimismus. Wen rührt das heute noch ... Hast du den Bericht gelesen?«
    »Ja.«
    »Bilanz?«
    »Zwei Schulen, eine Fabrik, eine Brücke, ein Stadtpark und dreiundvierzig Strommasten zerstört.«
    »Menschliche Verluste?«
    »Drei Polizisten, ein Soldat auf Urlaub, ein Lehrer und vier Feuerwehrleute.« »Warum die Feuerwehrleute?«
    »Die Leiche, die sie gerade wegbringen wollten, war vermint.«
    »Nun ja ...«
    Ich krame eine Akte hervor, die seit Urzeiten in den Tiefen der Schublade verschimmelt. Ein paar lose Blätter, das Photo eines Spitzbärtigen in afghanischer Soutane und eine Hexenjagd, die im schlimmsten Fall nie mehr aufhören wird.
    Ich betrachte den Guru auf dem Photo: achtundzwanzig Jahre. Nie in der Schule gewesen. Immer arbeitslos. Messianische Reisen quer durch Asien, reißerische Predigten und ein unversöhnlicher Haß auf die ganze Welt. Und ausgerechnet der spielt sich als Weltverbesserer auf: vierunddreißig Morde, zwei Bände voller Fatwas, einen Harem in jedem Untergrundnest und jeder seiner Finger ein Zepter.
    Wahrhaftig, es sind die Erleuchteten, die das Feuer der Hölle schüren. Ich kannte einmal einen kleinen Dealer. Einen ganz und gar abstoßenden Dreckskerl, in der Todsünde war er so in seinem Element wie die Filzlaus in der Unterhose eines Hippies. Heute hat er eine abgesägte Schrotflinte in der Hand und einen Koranvers auf den Lippen und rächt sich munter an allen, die ihm einmal Schwierigkeiten gemacht haben.
    Ob es den verehrten Imamen gefällt oder nicht, falls dieses Miststück je im Paradies stranden sollte, lasse ich mich von einem Klempner kastrieren.
    Beim Pöbel gilt er trotzdem als Märtyrer. Seit der Terrorismus im Namen der Religion antritt, wissen die kleinen Leute nicht mehr wohin. Alles, was nach Fundamentalismus riecht, verunsichert sie. Wie seit jeher lassen sie die Tragödie über sich ergehen und halten sich nicht weiter damit auf. »Nach mir die Sintflut!« sagt schon das alte Sprichwort. Und keine Einsamkeit ist schlimmer als die Einsamkeit des Schiffbrüchigen.
    Vielleicht werde ich eines Tages wieder sorglos durch die Straßen meiner Stadt schlendern können. Wird die Nacht mir im Schlaf zärtliche Geheimnisse offenbaren. Werde ich Kinder um mich haben und auf der Nase eine Sonnenbrille, um mich wie auf Kreuzfahrt zu fühlen. Werde ich es mir wieder erlauben können, ins Theater zu gehen, über meine Mißgeschicke zu lachen, oder auch nur meine Milch beim Krämer um die Ecke zu holen, ohne mich vor jedem Gaffer zu fürchten. Aber ich glaube nicht, daß ich meine Mitbürger je wieder mit den gleichen Augen wie früher ansehen werde. Etwas hat das Band zum Heimathafen für immer gekappt. Groll werde ich keinen hegen, dafür ist in meinem Schmerz kein Platz, aber die Schmeicheleien der süßesten Mädchen könnten mich nicht mit denen versöhnen, die ich heute für meine möglichen Totengräber halte.
    Ich werde für meine Freunde nur mehr lauwarme Gefühle aufbringen, und der Nachbar vom selben Stock wird mir so fremd vorkommen wie ein Indianer in Wyoming.
    Die Überlebenden dieses Wahnsinns von einem Krieg werden durch meine Gedanken spuken wie Geister, die aus ihren Gräbern verbannt sind und vor denen sich die Häuser verschließen, die irgendwo zwischen Himmel und Erde schweben, zu schuldbeladen, um sich Gott zu nähern, und zu ver-rufen, um sich zu den Menschen zu gesellen.
    Nichts wird mehr sein wie zuvor. Die Lieder, die mich einmal begeistert haben, werden nicht mehr zu mir vordringen. Die Brise, die verspielt durch die nächtlichen Buchten streicht, wird mich nie wieder in Träumereien wiegen. Nichts wird mir die Lichtblicke der wenigen Momente des Vergessens aufheitern, denn nach allem, was ich gesehen habe, kann ich niemals wieder glücklich sein.
    Während ich so meine düsteren Gedanken wälze, kommt der Amtsdiener zurück und erinnert mich an die Ungeduld des Chefs.
    Behäbig wie ein Elefant, der sich seines bevorstehenden Todes bewußt ist, wuchte ich meinen Hintern aus dem engen Stuhl, keuche die achtundsechzig Stufen der Stiege bis in den dritten Stock hinauf - der Lift ist ausschließlich für den persönlichen Gebrauch des Chefs bestimmt - und bringe ganz nebenbei wieder mein Rheuma auf Trab.
    Der Chef macht sich hinter seinem Schreibtisch breit. In all dem Luxus sieht er wie ein Denkmal aus. Doch bei genauerer Betrachtung ist er nur eine Schießbudenfigur, die im falschen Zirkuszelt sitzt.
    Er ignoriert meinen ordnungsgemäßen Gruß und schiebt wortlos ein Stück Papier in meine Richtung. »Ich habe keine Zeit, mich drum zu kümmern«, verkündet er mir und vertieft sich wieder ins Feilen seiner Fingernägel.
    »Was ist es denn?«
    »Der Schwiegersohn von Herrn Ghoul Malek ...«
    »Der Ex-Star der Republik...? Hat man ihn umgebracht?«
    Empört fährt er auf: »Er feiert die Einweihung seines neuen Wohnsitzes.«
    »Und dafür wendet er sich an die Kripo?«
    »Das ist eine Einladung. Ich kann nicht hingehen. Ich bin verhindert.«
    Weil ich immer noch nicht verstehe, redet er Klartext: »Du sollst mich da vertreten.«
    »Ich habe auch jede Menge Arbeit«, protestiere ich, während mir bei dem Gedanken daran speiübel wird, mich bei diesem mondänen, meineidigen Schuft einzuschmeicheln, den ich wie selten jemanden verachte.
    »Das ist ein Befehl!« Daraufhin dreht er samt Sessel ab und präsentiert mir einen Rücken von der Breite der Berliner Mauer. So stell ich sie mir jedenfalls vor, in der Hoffnung, auch ihn eines Tages stürzen zu sehen, obwohl ich ja überzeugt bin, daß Wunder nur etwas für fromme Christen sind.

 

Aus dem Französischen von Bernd Ziermann und Regina Keil-Sagawe
© Unionsverlag, 2001
(1. Aufl.: Innsbruck: Haymon, 1999)
Alle Rechte vorbehalten!

 

Viele gute Hintergrund-Informationen zu Yasmina Khadra und Algerien finden Sie in Beate Burtscher-Bechter : Bilder eines "unsichtbaren" Krieges, dem Nachwort zu Herbst der Chimären.
Außerdem können wir Ihnen noch eine Leseprobe aus Herbst der Chimären anbieten.

 

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