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Cream of Crime 12/1995

Jonathan Coe: Allein mit Shirley

 

Es gibt logische und zwingende Umgebungen für Kriminalgeschichten. Ein altes Gemäuer im Familienbesitz irgendwo, wo England angeblich noch goode, olde & merry ist, gehört nicht unbedingt dazu. Die Jahre des Thatcherismus und Post-Thatcherismus hingegen schon. In besagtem Gemäuer liegen dann vielleicht mit gewisser Berechtigung und schön dekoriert ein paar Leichen herum, aber die Verbrechen der 80er und 90er Jahre wurden und werden woanders begangen: In den Medien zum Beispiel, in der Politik, in der Nahrungsmittelindustrie, im Waffenhandel, im Bankwesen. In all diesen netten Geschäftszweigen hat die nicht minder nette Familie Winshaw, die nebenbei natürlich noch obiges Gruselschloß besitzt, ihre schmutzigen Pfötchen. Ihre Glieder sind in erster Front dabei, wenn es gilt, die Sozial- und Gesundheitspolitik zu ruinieren, ganz vorne dran beim Vergiften der Inselbevölkerung mit ekelhaften Eßwaren aus der Massentierhaltung, freudig engagiert beim Waffenhandel mit Saddam wie beim Verblödeln und Verdödeln des Kunstmarktes, und ganz groß darin, via Massenmedien eine gründliche und sorgfältige Infantilisierung des Wählervolks durchzupowern. Mit anderen Worten: Die Familie Winshaw produziert Opfer im großen Stil; sie ist juristisch kaum zu belangen, denn schließlich übt sie lediglich strukturelle Gewalt aus. Die aber satt. Und weil es irdische Gerechtigkeit für diesen Typus von Tätern selten gibt, greift der britische Romancier Jonathan Coe zur poetischen und schafft sie allesamt und mit ausgeklügelten Methoden ins Jenseits.

"Allein mit Shirley" heißt Coes bitterböse und wutschnaubende Abrechung mit den Profiteuren der rauhen Thatcher-Jahre, den herzlosen, ehrgeizigen, dumpfgeilen und bisweilen auch strunzdummen Totengräbern gesellschaftlichen Anstands, die Coe gar nicht genug karikieren kann, um wenigstens der Wirklichkeit ein bißchen auf den Fersen zu bleiben.

Aber glücklicherweise gibt es Literatur und Film und die anderen Mythen des Alltags, und richtig eingesetzt können die auch mit Kotzbrocken vom Schlage der Winshaws fertig werden. Michael Owen heißt die giftige Laus, die sich die Familie in den Pelz setzt, und der soll die Familienchronik aufschreiben. Owen beginnt zu wühlen, die Skelette rollen aus den Schränken und immer bizarrer und blutiger geht es her. Denn wenn die Genreregeln von Gruselfilm und Kriminalroman erst einmal anfangen, über die Wirklichkeit herzufallen, dann wird's eng für letztere. Zumal Owen entdecken muß - das gehört sich nunmal für diesen Typ von Thriller, bei dem viele verschiedene Dinge letztlich alle miteinander zu tun haben -, daß auch seine eigene Biographie mit der der Winshaws eng verzahnt ist.

Es ist schlicht bewunderswert, wie elegant und raffiniert Coe über immerhin 565 Seiten sämtliche Handlungselemente miteinander verknüpft, noch die zunächst unbedeutendst daherkommende Nebenperson zur zentralen Figur macht und souverän und offen mit seinen Vorlagen aus Literatur und Film umgeht. Das Resultat ist ein Roman, der eben nicht Fiktion, Realität, Illusion und Wirklichkeit unscharf vermischt. Im Gegenteil: Coe plädiert überzeugend dafür, daß man unter Umständen der Realität mit Fiktionen bewaffnet schmerzhaft zu Leibe rücken kann. "Allein mit Shirley" ist neben Julian Rathbones (hier nie erschienenem Roman) "Nasty, very" die wuchtigste, weil witzigeste, fulminanteste, weil artistisch gelungenste, und schärfste, weil sur-realistischste Abrechnung mit den entscheidenden Jahren britischer Zeitgeschichte, die die Insel unschön verwandelt haben. Wir kriegen das alles noch.

© Thomas Wörtche

 

Jonathan Coe:
Allein mit Shirley.
(What a carve up! 1994).
Roman. Aus dem Englischen
von Dirk van Gunsteren.
München, Zürich: Piper Verlag 1997,
(1. Aufl. - München, Zürich: Piper Verlag 1995)
18.90 DM

Allein mit Shirley

 

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