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Leichenberg 02/2016

 

In den Straßen die Wut

Bei manchen Büchern muss man erstmal die Paratexte wegräumen, um einen klaren Blick auf den Text zu bekommen. Das ist bei Ryan Gattis' In den Straßen die Wut (Rowohlt Polaris) der Fall. Der Klappentext behauptet, "ein Roman wie ein Tarantino-Film" - nein, mit Tarantino und dessen selbstbezüglicher Ironie hat dieser Roman überhaupt nichts zu tun. "Ein Buch ohne Vorbild", heißt es weiter. Von wegen. Semidokumentarischer Multiperspektivismus ist ein uralter Hut, auch wegen der thematischen Nähe sei beispielsweise nur mal kurz an Paulo Lins' »Die Stadt Gottes - City of God« hingewiesen. "Ein Experiment", aus den gleichen Gründen: Nein! Unbefangen gesehen ist Gattis' Roman ein durch einzelne Figuren verbundenes Mosaik, das versucht, die Unruhen nach dem Rodney-King-Urteil in Los Angeles narrativ in den Griff zu bekommen. Der Schwarze Rodney King war von rassistischen Cops 1992 videodokumentiert exzessiv zusammengeknüppelt worden, die Täter wurden dennoch freigesprochen. Kurz darauf brannten Teile der Megacity. Die Hauptkampflinie verlief zwischen der wirtschaftlich prosperierenden koreanischen Bevölkerung und den wirtschaftlich marginalisierten und in ihrer Ghetto-Ökonomie kriminalisierten schwarzen Bevölkerung. Wer Genaueres wissen möchte, kann die entsprechenden Abschnitte in dem epochalen Buch von Mike Davis »City of Quartz« (in der erweiterten deutschen Ausgabe bei der Assoziation A) nachlesen. Gattis konzentriert sich in seinem Roman auf die Latino-Community und auf deren Gangs, den Koreanern ist nur eine Stimme von siebzehn gewidmet. Die Rodney-King-Riots werden so zur Kulisse einer Gang-Schlacht, einer Plünderungs-, Gewalt- und Brandstiftungsorgie, in dem es keine Ordnungsmacht mehr gibt. Ein großes Jeder-gegen-Jeden, in dem die einzelnen Fraktionen jeweils durch die jeweiligen Erzählstimmen repräsentiert werden. Das ist geschickt montiert, das erzeugt Empathie für die einzelnen Menschen, denen Gattis für ihre Sicht der Dinge ausreichend Platz einräumt. Und natürlich werden auch die wirtschaftlichen und sozialen Umstände angerissen, während die politischen Hintergründe der ausgehenden Reagonomics eher wenig Erwähnung finden. Dennoch kann man den Roman, gerade wegen seiner Akzentuierung der Latinos, als sehr späte Gegenrede gegen die von der offiziellen Berichterstattung und Kommentierung etablierten "Riot-Mythologie" verstehen, die, nach Mike Davis, dazu diente, "die schwarze Gang-Jugend zu einer Bedrohung für den Staat zu erklären und gleichzeitig den Skandal der wachsenden Armut der Latinos zu verschweigen." Ich fürchte nur, dass diese durchaus dem Roman angemessene Lesart, nur auf Grund des Kontextes der "Komplexität des ethnischen und Klassenkonflikts" plausibel wird. Ob der Roman dafür selbst stark oder selbsterklärend genug ist oder letztendlich über eine Leviathan-Fabel nicht hinauskommt, bleibt zumindest mir unbehaglich unklar.

Das barmherzige Fallbeil

Eine ähnliche Sinnfrage stellt sich mir auch bei Das barmherzige Fallbeil von Fred Vargas (Limes). Die Mär vom Kannibalismus auf Island und von einer Robespierre-Reenactment-Society ist, wie immer bei Vargas, hübsch und skurril, verblüffend und dann letztendlich nach whodunit-Logik ach so plausibel. Man kann sogar grübeln, was ein Kaiserpinguinforscher in nördlichen Gewässern zu suchen hat und sich an Marc, dem netten Wildschwein, delektieren. Man kann sich auch gemütlich mit Adamsberg und seiner Crew familiär kuschelig fühlen, alles wie gehabt. Aber der allmählich ausgeleierte und nervende Generierungsalgorithmus von Vargas-Romanen ist inzwischen weder originell, weder verblüffend noch überraschend, geschweige denn innovativ. Wir haben's schon lange verstanden: Poesie wider "Relevanz", Fabulierlust wider Realitäten und so weiter und so fort. Als Idee völlig okay, aber als die Wiederkehr des Immergleichen nur noch von charmant-behaglicher Belanglosigkeit.

Der Aufbruch

Auf den erste Blick frustrierend mag das Ende von Carsten Strouds Niceville-Triologie, Der Aufbruch (DuMont), erscheinen. Wie wir schon aus »Niceville« und »Die Rückkehr« wissen, stimmt etwas nicht mit dem idealtypischen Südstaatenstädtchen Niceville. Die Zeit ist dort porös, Menschen, die schon längst tot sind, wechseln die Ebenen, andere verschwinden für Jahre und Jahrzehnte und sind plötzlich wieder da. Zudem ergreift eine seltsame Entität, die vermutlich aus einer alten Cherokee-Legende stammt, die Köpfe mancher Leute, wispert ihnen ins Hirn und treibt sie zu ungeheuerlichen Slasher-Taten. Aber sonst ist alles okay. Geldräuber, Mafiosi und andere Unholde gehen ihrem Beruf nach, Polizisten, Krankenschwestern, Ärzte und andere Leute leben ihr Leben. Die Geschichte von Niceville schimmert hin und wieder in die Gegenwart hinein, vor allem wenn Spiegel aus dem vorrevolutionären Frankreich ins Spiel kommen. Jetzt, am Ende der Trilogie, eskaliert aber die Slasherei doch ziemlich unerträglich und alle Handlungsstränge scheinen ineinander zu fließen. Alles wartet auf die große Erlösung, den großen Knall, die große Erklärung - aber denkste. Stroud verweigert mit boshaftem Vergnügen brave Rationalisierungen und erfreut stattdessen mit einem sehr irdischen Idiom. Die Niceville-Trilogie verbindet Erzählkonventionen von Kriminalroman, Horror und Fantasy mit einem lupenreinen Hardboiled-Stil, grimmig, sarkastisch, robust und sehr komisch. Nix für ordnungsliebende Buchhalter des Narrativen, sondern eher für Freunde fröhlicher Kontingenz. Die Realität ist halt ein sehr problematisches Konstrukt - das führt uns Stroud sehr unterhaltsam vor Augen.

Auentod

Wie man mit Regionalität, mit local knowledge - schon immer wichtige Elemente von Kriminalliteratur - auch inmitten des Regiogrimmi-Tsunamis, sinnvoll und großartig umgehen kann, zeigt Maxim Leos Auentod (KiWi), Die Region, das polnisch-deutsche Grenzland an der Oder, ist hier konstitutiver Mitspieler der Handlung, die mühelos die Provinz mit der großen Welt verbindet. Es geht um Autoschmuggel - man lernt dabei eine Menge fieser Tricks und Kniffe von Gangstern und Polizisten -, die Landschaft des Oderbruchs, ohne die der nicht Roman funktioniert, bekommt einen Dreh in Richtung "Heart-of Darkness", die Grenze zwischen biederem deutschen Ermittler und bad cop wird durchlässig und Menschen, die man zu kennen glaubt, erscheinen als das Fremde schlechthin. Und weil Leo das alles lässig-präzise, mit einem schönen Gespür für Komik, erzählt, ist »Auentod« ein ziemlich vielschichtiger, komplexer, cooler Roman geworden, der nicht rumgröhlt, wie eminent er ist. Er ist einfach nur sehr gut.

Alle feiern gerade DADA. Gut! DADA hat verblüffenderweise viel mit Kriminalliteratur zu tun (siehe Glauser, Duhamel, Serner etc.), aber das hier nur am Rande. Eine randständig zentrale Gestalt dieser Avantgarde war der Boxer, Deserteur und künstlerisch-lebensweltliche Provokateur Fabian Avenarius Lloyd, bekannt als Arthur Cravan. Anläßlich der DADA-Feierlichkeiten gibt es jetzt bei Nautilus wieder den schönen Cravan-Reader König der verkrachten Existenzen, mit Texten und Briefen von Cravan und einem kompetenten Nachwort von Bastiaan van der Velden. Unverzichtbarer Kontext für die Entwicklung der Moderne im ersten Viertel des letzten Jahrhunderts, die auch Teil der Traditionslinie von Kriminalliteratur war.

 

© Thomas Wörtche, 2016

 

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