legal stuff Impressum Datenschutz kaliber .38 - krimis im internet

 

Leichenberg 03/2002

 

»Literatur« auf die Vorsilbe »Kriminal-« hält an. So, als hätte es die Tradition Borges & Co. nie gegeben. Nu, wir leben eben in einer Alzheimer-Kultur, die sich aus Werbe-Gründen lieber nicht erinnern möchte, was denn alles lange schon geschrieben worden ist auf dieser Welt. Das neuerliche Bestiegenwerden des Genres von der Hochliteratur ist meistens putzig, grenzwertig oder sonstwie schräg daneben. Manchmal aber auch ganz charmant - wie im Fall von François Emmanuels kleinem Roman Der melancholische Mörder (Kunstmann). Leonard Gründ soll und will morden, bringt es aber nicht fertig und sucht den Diskurs mit seinem potentiellen Opfer. Er will einer schönen Frau zu Willen sein und verstrickt sich in allerlei Inka-Mystik und Fidelwipp. Der Charme des Büchleins kommt daher, dass es keine Sekunde lang so tut, als habe es irgendeine plausible Geschichte zu erzählen. Statt dessen amüsieren wir uns mit tausend netten Anekdoten und delektieren uns an der Fabulierfreude des Autors. Salonliteratur, Causerie und Rêverie. Dazu einen nicht allzu trockenen Sherry.

Eugenio Fuentes hingegen zittert, zuckt und bebt nachgerade vor literarischer Ambition. Abgesehen davon, dass sein Roman Mörderwald (Klett-Cotta) völlig über-plottet ist, erschreckt er uns auch mit erzähltechnischem Kontrollverlust: Eine Szene wird aus der Perspektive eines Messers erzählt, das ins Opfer eindringt; in einer anderen dürfen wir die Gedanken einer Ratte erfahren, als sie sich Häppchen aus einer Leiche holt. Kann ja sein, dass der Autor Drogen nimmt, aber der Lektor auch? Eigentlich schade, denn Fuentes gelingen auch ein paar sehr überzeugende Passagen, in denen er den Wald in einem spanischen Naturschutzgebiet so genial beschreibt und dabei einen solchen Terror im Kopf des geneigten Publikums auslöst wie seit Ambrose Bierce selten jemand. Dazu einen Jägermeister.

Auch Kim Småge bebt und zittert. Allerdings eher aus Wut und Zorn über die miesen Usancen von Menschenhändlern und die Strukturen, die deren Treiben möglich machen. Und Småge setzt diesen Zorn in eine sehr dicht gestrickte und rhetorisch hochgepeitschte Erzählsprache um, die hin und wieder auf die Nerven geht. Aber das ist okay, denn diese norwegische Autorin hat im Gegensatz zu all den aus dem hintersten Fjord herausgekratzten Mankell-Klonen eine alltäglich-widerliche Geschichte aus Trondheim zu erzählen, bei der die seelischen Wehwehchen des Protagonisten mal nicht wichtiger sind als die Story und hinter der kein sozialkritisch getarntes, tief reaktionäres Weltbild steht. Auch Småges Kommissarin Anne-kin Halvorsen ist ein Mensch (ein plausibel gezeichneter dazu), aber das ist eben nicht die Sensation des Buches: Die Containerfrau (Scherz).

Sehr plausibel ist auch Lionel Essrog entworfen. Essrog ist Gangster und Privatdetektiv und er hat das Tourette-Syndrom. TS-Patienten haben sogenannte Tics: Zwanghafte Zustände, die sich sowohl sprachlich als auch körperlich äussern. Und das kann sehr witzig und vorzüglich delirant sein, wie wir in Jonathan Lethems grandiosem Roman Motherless Brooklyn (Tropen) nachlesen können. Essrog ist einerseits der bis dato letzte Abkömmling der literarischen Tradition von Privatdetektiven mit »Beschädigungen« (seine Vorläufer waren amputiert, drogensüchtig, schwere Alkoholiker oder moralische Exzentriker), andererseits aber ein wahrhaft subversiver Gesell, der mit seiner Behinderung all genre- und alltagstypischen Konstellationen durcheinanderwirbelt und schleudert. Ein konsequenter Anarchist im Krieg von Gesellschaft und Neurose.

 

© Thomas Wörtche, 2002

 

« Leichenberg 02/2002 zurück zum Index Leichenberg 04/2002 »

 

Thomas Wörtche Neuerscheinungen Vorschau Krimi-Navigator Hörbücher Krimi-Auslese
Features Preisträger Autoren-Infos Asservatenkammer Forum Registrieren Links & Adressen