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Leichenberg 03/2020

 

Aufzeichnungen eines Serienmörders Eigentlich hatte Byongsu Kim ein schönes Leben, im Hauptberuf war er Tierarzt und nebenbei ein sehr erfolgreicher Serienmörder. Nach einem Autounfall hatte er das serienmorden aufgegeben, aber wann genau das war, das weiß er nicht mehr so recht. Denn jetzt hat er Alzheimer und seine Demenz zeitigt ärgerliche Folgen. Nur eines scheint er noch sicher zu wissen: Er muss den Killerkollegen Jutae Park töten, bevor der Kims Tochter Unhi umbringen kann. Aber ist das wirklich so? Aufzeichnungen eines Serienmörders nennt Young-Ha Kim (Cass, Ü. von Inwon Park) sein schmales Büchlein (152 Seiten), eine tiefschwarzhumorige Tragikomödie. Auf gar keinen Fall eine makabre Serialkillerklamotte, sondern ein komprimiert vielschichtiger Text über Essentials der menschlichen Existenz: Über das Sterben, über das Menschsein, über das Töten und über die Wahrnehmung von Realität und über die gesellschaftlichen Grundlagen, die solchen Abstrakta vorausliegen. Nicht umsonst spielen entscheidende Teile des Buches währen der südkoreanischen Militärdiktatur, als Menschen abgeholt, geschlagen, gefoltert, ermordet und sozial vernichtet wurden. In Byongsu Kims dementen Delirien drängt die Geschichte nach oben und bestimmt die Wahrnehmung der Gegenwart, die keine Zukunft mehr haben wird. Aber selbst diese Wahrnehmung ist nicht mehr sicher - der demente Erzähler ist die radikalste Variante des unreliable narrators, denn er lügt nicht, er manipuliert nicht, er hat keine narrative Agenta. Auch wenn zwischendurch Momente der Helle aufzuscheinen scheinen - auch sie stellen sich zunehmend als brüchig und wahnhaft dar. Daraus entsteht Komik, die Young-Ha Kim beiläufig einbaut - mit kleinen lakonischen Passagen, in denen der Serienmörder klar zu Tage kommt. Man amüsiert sich über den running gag mit einem vielleicht existierenden oder nicht existierenden Hund, und plötzlich trägt der das Unheil ins Haus. Oder Tochter Unhi, die man für eine feste Konstante im Leben des Mörders hält... Überhaupt die Aufzeichnungen (die streng genommen ein sprachlogisches Problem darstellen, Demenz und gute Syntax scheinen sich nicht auszuschließen), die eine Mischung aus Erzählung, Sentenzen und Reflexionen über die letzten Dinge, über Lyrik und den Stellenwert von Kunst sind - diese Aufzeichnungen machen sich zudem über alle möglichen Serialkiller-Topoi lustig: verwirrte Geister in einer verwirrten Welt, goutiert von einem nicht minder verwirrten Publikum. So demontiert man eine literarische Ikone. Ein Juwel von einem Buch!

 

Rachegeist

Ein wahnwitziges Buch kommt aus der VR China: Rachegeist von Cai Jun (Piper, Ü: Eva Schestag). Ein Thriller, der vor Plot-Freude nur so explodiert. 1995 gerät Shen Ming, Lehrer an einer Eliteschulde, in den Verdacht eine Schülerin vergiftet zu haben. Tatsächlich ermordet er danach den Dekan seiner Schule, bevor Shen Ming hinterrücks erstochen wird. In den nächsten zwanzig Jahren geht das Morden fröhlich weiter, beinahe alle Personen, die näher oder ferne mit Shen Ming zu tun hatten, müssen sterben oder werden zu Mördern oder beides. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Shen Ming möglicherweise sieben Jahre nach seinem Tod in dem Knaben Si Wang reinkarniert und einen Rachefeldzug beginnt. Wohl gemerkt: möglicherweise. Cai Jun tanzt in höllischem Tempo auf der Grenze zwischen Kriminal- und phantastischer Literatur, die Implikationen des Wortes "Mystery" voll ausschöpfend und kontrastiert von einer fast eckig-nüchternen, protokollarischen Sprache. Der Body Count ist schockierend, keine Figur ist frei von der Gefahr, abgeräumt zu werden. Und vor allem zeigt der Roman ein China, das nur so vibriert vor Korruption, Gier, Nepotismus, sozialer Ungerechtigkeit, Amtsmissbrauch und roher Gewalt, dass man sich schon beinahe wundert, wie dieser Autor nicht-dissident sein kann, sondern buchstäblich Millionen von Büchern in China verkauft. Vielleicht sind die Ränke und Rankünen ein bisschen too much, verblüffend ist Rachegeist allemal. Und sehr unterhaltsam.

 

Haarmann "True Crime" ist en vogue, Stoffe aus der Weimarer Republik sind en vogue und Serial Killer sind sowieso nie out. Insofern ist Dirk Kurbjuweits Roman Haarmann (Penguin) schon vom Production Design her auf eine Win-Win-Situation hin kalkuliert. Erzählt wird die nicht unbedingt als unbekannt zu bezeichnende Geschichte des Mehrfachtäters Fritz Haarmann aus Hannover (der mit dem Hackebeilchen, hingerichtet 1925), den man vermutlich immer noch als den bekanntesten und beliebtesten Serienkiller des deutschen Sprachraums bezeichnen kann, eine Ikone der Populären Kultur spätestens seit Fritz Langs "M", Ulli Lommels "Die Zärtlichkeit der Wölfe" oder Romuald Karmakars "Der Totmacher". Die True-Crime-Anteile bei Kurbjuweit speisen sich aus den allgemein bekannten Fakten über Haarmann, die Basis dafür legten Theodor Lessings (der auch artig einen Cameo bekommt und als "Gewissen" der Ermittler-Hauptfigur fungiert) kritischer Prozessbericht von 1925: "Haarmann - Die Geschichte eines Werwolfs" und die von Michael Farin und Christine Pozsár herausgegeben "Haarmann-Protokolle". Also nichts Neues auf der Ebene. Auf der fiktiven Romanebene erfindet Kurbjuweit den Polizisten Robert Lahnstein, der von Bochum nach Hannover beordert wird, um dem Volkszorn durch eine schnelle Überführung des unheimlichen Mörders Einhalt zu gebieten. An der Stelle kutschert der Roman erheblich: Ein fremder Kommissar, weltkriegstraumatisiert (natürlich, diesmal ein Flieger), plus der Auftritt von Gustav Noske als "schillernde" Person der Zeitgeschichte. Nicht fehlen darf bei einem solchen Konzept die "Aktualisierbarkeit". Kurbjuweit stellt die Frage, wie weit eine demokratisch verfasste Polizei gehen darf, um "Sicherheit" herzustellen, auch wenn das gegen die Bürgerrechte verstoßen sollte und ob die vox populi der "besorgten Bürger" tatsächlich nach einem "starken Mann" verlangt. Da schimmert natürlich auch der Fall Jakob von Metzler durch, bei dem 2003 mit Gewaltandrohung versucht wurde, ein Entführungsopfer noch lebend aufzufinden, und der Bezug zur heutigen sicherheitspolitischen Debatte ist evident, aber wenig originell. Und dazu noch ein bisschen Gewaltporn - wir beobachten Haarmann detailgenau beim Zerteilen einer Leiche, wie gemütlich, gar heimelig gruselig. Solch glattes, blankes und routiniertes Kalkül scheint unverhohlen aus jeder Seite des Romans auf, so unverfroren und unverhohlen, dass es schon fast belustigend ist.

 

Poor Dogs Brandaktuell ist Poor Dogs von Ute Cohen (Septime). Eine psychothrillerartige Meditation über die mentale Verfasstheit von Menschen, die aus den Ideologemen des Neoliberalismus ihre Werteparameter beziehen, die nicht nur politische Konsequenzen haben, sondern auch als Leitwerte für den privaten Lebensstil bis hinein ins Sexleben dienen. Poor Dogs ist die Geschichte eines Paars, das nolens volens aneinanderhängt, mit- und ineinander verstrickt ist: Definiert über Geld, Macht und Gier und den immer passenden Accessoires. Die Champagnermarken müssen stimmen, die Hotels, die Klamotten und immer wieder die passenden Aufrufe der jeweils angesagten Theorien und anderer kultureller Verweise - von Rimbaud bis Lacan, sozusagen. Ein höllischer Catwalk der schicken Beliebigkeiten, die Substanz simulieren, wo menschliche Ödnis ist und psychologische, physische und strukturelle Gewalt an der Tagesordnung. Keine schöne Welt das - und Ute Cohen häutet sie Schicht für Schicht für Schicht, ob's uns nun gefällt oder nicht.

 

Die Coachin Ebenfalls aus der Finanz- und Wirtschaftswelt erzählt Nicolas Verdans Die Coachin (Lenos, Ü. von Hilde Fieguth), ein Milieu, um das sich die ernstzunehmende Kriminalliteratur erstaunlicherweise wenig kümmert. Verdans Coachin Coraline trimmt Schweizer Topmanager auf maximalen Erfolg, d.h. sie treibt ihnen die letzten möglicherweise noch verbliebenen ethischen Skrupel aus. Gleichzeitig ist sie Mitglied in einem extravaganten, elitären Club namens Prime Tower Affiliation, der, wie der Name sagt, im 33. Stock einer Zürcher Hochhauses residiert und nur aus Leuten besteht, die lediglich zwei Dinge interessieren: Profit und Ego. Und die darum wetteifern, wer den größten Zynismus, die größte Amoralität an den Tag legt. Alle anderen Menschen sind in dieser Perspektive Loser und unbedeutende Existenzen. Eine solche unbedeutende Existenz war auch David, Coralines Bruder, ein Poststellenhalter, der bei der Restrukturierung der Schweizer Post abgewickelt wurde und sich vor einen Zug geworfen hatte. Die Coachin brütet deswegen einen Racheplan aus, um einen der Topmanager des Staatsbetriebs zu ruinieren, ein Plan, bei dem die Ungeheuer der Prime Tower Affiliation eine zentrale Rolle spielen. Die Coachin ist einer der Texte, bei denen man nicht genau weiß, was Satire ist und was kruder Naturalismus. Sind die Lemuren aus dem Zürcher Hochhaus wirklich nur Karikaturen? Ist der Post-Manager, der gerade weitere 666 (Achtung, Symbol!) Poststellen schließt und sich damit politisch erledigt, wirklich so naiv? Oder ist er doch eher "realistischerweise" einer dieser Typen, die unternehmerische Grausamkeiten begehen (Sachzwang!) und dafür moralisch exkulpiert werden wollen? Und Coraline selbst? Klischeefrau: Schön, klug, kinderlos, narzisstisch, tendenziell bösartig? Aber wieso dann Rachelust, wo sie doch selbst ihren Bruder als Weichei und Loser sieht? Und wo laufen überhaupt Klischees und Realitäten ineinander? Nebenbei liefert der Roman noch ein schön giftiges Porträt der Zersiedelung der Schweiz (und ihrer exklusiven Enklaven) - die Coraline sicher aus anderen Gründen abscheulich findet, als ich es tun würde. Aber die Diagnose stimmt schon sehr treffgenau. Ich mag solche Bücher, die mit Realitäten literarisch spielen anstatt schon alles klar vorsortiert haben.

 

Unter der Erde Von Stephan Ludwig, dem Autor der "Zorn"-Reihe, gibt es einen neuen Standalone Unter der Erde (Fischer Scherz), der auf den ersten Blick zumindest sehr interessant erscheint. Da ist die Location, die Lausitz, in der Nähe des politisch eh problematischen Tagebaugebiets. Volkow ist ein von der Welt angeschnittenes Dorf, das sich bis jetzt gehalten hat, aber bald Opfer der Umsiedlung werden wird. Dorthin verschlägt es den mit seinen Slasher-Romanen zu einiger Popularität gekommen Hackwriter Elias Haack, der seinen Großvater zum 80ten Geburtstag besucht - einen Großvater, zu dem er bisher wenig Kontakt hatte. Und als er im Dorf ist, kommt er nicht wieder raus. Das ist zwar ziemlich topisch, aber, weil Ludwig ein guter Schreiber ist, ganz vielversprechend angelegt. Dazu passt, in klassicher Stephen-King-Kleinstadt-Manier das schrullig-kauzig-rätselhafte Dorfpersonal - alle leicht einen an der Wurfel, aber irgendwie auch charming. Dann ist Großväterchen plötzlich tot und die Dorfkirche wird vom Erdboden verschluckt. Tagebaufolgen? Weit gefehlt, und was grandios begonnen hat, wird zunehmend und bis zum Schluss bestürzend albern. Denn Großväterchen war der Vorsteher einer sektenartigen Gemeinde, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Volkow eine Art Zwischenlager für Entführungsopfer aus aller Welt im Auftrag aller Mafien dieser Welt betreiben. Und wer nicht ausgelöst wird, wird entsorgt. Etabliert hatten diese Geschäftsidee die sowjetischen Militärs, die eine Art Straflager für gefangene deutsche Soldaten in einem alten Gemäuer eingerichtet hatten, das sie dann später mit Erfolg kommerzialisiert hatten. Großväterchen, ein böses Genie, umgeben von einer Horde jetzt gar nicht mehr kauziger, sondern absurd mörderischer Dörfler, hatte sich vom Insassen zum Stadthalter der bösen Sowjets hochgearbeitet und sucht jetzt dringend einen Nachfolger. Eben unseren leicht trotteligen Hack. Und klar, weder die Stasi noch sonst jemand hatte je von diesem Business etwas mitgekriegt, weder im Überwachungsstaat DDR noch in der neuen Bundesrepublik, weil es ja nur eine Straße in das Kaff gibt. Okay, lassen wir das mal durchgehen, bei aller Albernheit, die dann nur noch belanglos wäre. Aber weniger amüsant ist, dass Ludwigs Bilder, mit denen er die Frühphase des Lagers beschreibt, Bilder aus dem Holocaust sind: Sadistische Wächter, sadistische Praktiken (stundenlanges Stehen in eisiger Kälte), Hunger und nicht zuletzt "Vernichtung durch Arbeit". Die Rote Armee war also sowas ähnliches wie Wehrmacht und SS, "genauso schlimm", wie das einschlägige geschichtsrevisionistische Narrativ heißt, das Ludwig hier in vollen Zügen bedient. Wirklich aber sehr unbehaglich ist, dass der Autor das vermutlich noch nicht einmal bewusst getan hat. Und niemand hat ihn daran gehindert. So wird aus einem vielversprechenden Buch ein ziemlich gruseliges Teil.

 

Diktator werden Augen auf bei der Berufswahl! Sollten Ihnen "Tyrann" vor Augen schweben, dann finden Sie genug Background in Frank Dikötters Diktator werden. Populismus, Personenkult und die Wege zur Macht (Klett-Cotta, Ü. von Henning Dedekind und Heike Schlatterer), eine sehr lesbare, gar vergnügliche (sorry, bei diesem ernsten Thema) Studie über Aufstieg und Fall ausgewählter Scheusale des 20. Jahrhunderts: Mussolini, Hitler, Stalin, Mao Zedong, Kim Il-sung, Duvalier, Ceauşescu und Mengistu. Kennt man sich schon aus, mit der einen oder anderen Figur, wird man nicht mehr allzu viel Neues lernen, aber das macht nichts, weil es Dikötter um die jeweils verschiedenen Strategien geht, wie die Herrschaften zu Macht und Megalomanie gekommen sind. Denn an ihrer Megalomanie sind sie (fast) alle gescheitert, auch wenn Stalin, Mao, Kim Il-sung und Papa Doc noch im Amt sterben durften. Heute scheint sich nur noch das nordkoreanische Familienmodell zu halten, mit Xi Jinping hat Mao wohl einen geeigneten Nachfolger gefunden und die Potentaten neuen Typs (wie Recep Tayyip Erdoğan oder Donald Trump) sind noch nicht ganz entfaltet. Dikötter sieht durchaus, dass die Demokratien zunehmend schwächer werden, bleibt aber verhalten optimistisch: "Diktatoren sehen überall Feinde, zuhause und im Ausland. Wenn Hybris und Paranoia die Oberhand gewinnen, streben sie nach immer mehr Macht, um so die Macht zu schützen, die sie schon haben." Ein strategischer Fehler kann schon reichen, meint Dikötter, und das ganze Konstrukt stürzt zusammen. "Am Ende geht die größte Bedrohung für Diktatoren nicht vom Volk aus, sondern von ihnen selbst." An der Stelle allerdings wird mir ein wenig blümerant - sollen wir sie einfach machen lassen, bis sie sich selbst erledigen? Der Blick von ganz oben, den der Autor hier kultiviert, und der seine Gelassenheit grundiert (um nicht in Hysterie und Panik zu verfallen, schon klar), schlägt um in einen abgeklärt erscheinenden Fatalismus, der die vorangegangen Analysen als belanglos erscheinen lässt. Warum analysieren, wenn sich die Tyrannis von selbst erledigen dürfte? Aber bis zu diesem eher ungeschickten Schluss ist Dikötters Buch schon eine sehr sinnvolle und lehrreiche Veranstaltung.

 

© Thomas Wörtche, 2020

 

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